14. Going further

Jess

Heute war Dienstag, noch zweimal schlafen, und ich würde diese Gruppentherapie zum ersten Mal besuchen. Ich konnte nicht behaupten, dass ich mich darauf freute, aber auch nicht, dass ich es gar nicht wollte. Es war so ein Zwischending, welches mich manchmal ungeduldig, weil ich es hinter mich bringen wollte, und auf der anderen Seite neugierig werden ließ. Hoffentlich waren keine Idioten in dieser Gruppe!

Seufzend rollte ich in die Küche, um mir etwas zu trinken zu holen, als ich die Stimme meines Bruders hinter mir vernahm. Er war gerade aufgestanden und sah noch ganz verschlafen aus. Kein Wunder, denn er schien sehr spät nach Hause gekommen zu sein, was ich ihm jedoch nicht verübeln konnte. Er sollte seine Tage, bevor er mit der Uni beginnen würde, richtig auskosten. Lernen musste er wirklich noch genug.

„Morgen, Jess", murmelte er grinsend und holte sich ein Glas aus dem Schrank. „Möchtest du auch Orangensaft?"

„Nein, danke", antwortete ich, „aber du könntest mir einen Gefallen tun."

„Welchen denn? Brauchst du etwas aus dem Keller? Schokoladeneis vielleicht?", zog er mich auf, während er sein Glas mit Saft füllte.

„Nein, du sollst ein Foto machen", erklärte ich nun.

Bevor Malcolm sich dazu äußerte, setzte er das Glas an und trank es in einem Zug leer. So kannte ich meinen Bruder, das erste Glas immer auf ex.

„Was für ein Foto denn?"

Jetzt wurde es echt peinlich, aber besser ich blamierte mich vor Malcolm, als vor meinen Eltern oder Anne, die mich sicher für verrückt erklärt hätten. Ich senkte meine Stimme, bevor ich ihm antwortete: „Nicht hier, lass uns in mein Zimmer gehen."

Mit einem spitzbübischen Grinsen im Gesicht schlurfte Malcom neben meinem Rollstuhl her, bis wir das Zimmer erreicht hatten. Dort schaute er mich erwartungsvoll an und wartete mit verschränkten Armen vor seiner Brust, das ich etwas sagen würde.

„Also", begann ich zögernd, „ich brauche ein Foto von meinem Schlafanzug, der auf dem Bett liegt."

Es überraschte mich nicht, dass Malcolm schallend zu lachen anfing, bevor er fragte: „Wofür brauchst du das denn?"

„Das geht dich nichts an, oder besser gesagt, ich möchte es für mich behalten", erwiderte ich mit hochrotem Kopf.

„So, so, du möchtest das für dich behalten."

„Ja." Ich überreichte ihm mein Handy und sagte: „Können wir ihn noch ein bisschen anders hinlegen, also so, dass man den Mickey Mouse Print richtig gut sieht?"

„Das sollte kein Problem sein, Jess."

Umsichtig breitete mein Bruder das Oberteil des Schlafanzugs auf meinem Kopfkissen aus und drapierte die kurze Short darunter, um Sekunden später zwei Fotos zu schießen, welche er mir anschließend zeigte.

„Die sind echt toll geworden!", kam es von mir.

NJ würde sich sicher freuen, wenn er diese zu Gesicht bekam.

„Danke, Malcolm, du bist echt ein Schatz!"

„Was tut man nicht alles für seine große Schwester", seufzte er, begleitet durch ein leises Lachen, was darauf schließen ließ, dass er sich seine ganz eigenen Gedanken bezüglich der Bilder machte.

Jedenfalls fragte er nicht weiter nach, sondern verließ mein Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Schwer atmend blickte ich auf meinen Laptop, den ich nun aufklappte und hochfuhr. Alles dauerte viel zu lange, bis mir einfiel, dass ich mein Getränk in der Küche hatte stehen lassen. Diese Zeit konnte jetzt gut nutzen, um die Warterei zu überbrücken. Als ich zurück in mein Zimmer kam, setzte ich mich vor den Laptop, um meine E-Mails zu checken. NJ hatte noch nicht geantwortet, also hieß es warten, denn in seiner Zeitzone war es gerade zwei Uhr morgens, somit ging ich nicht davon aus, dass ich in den nächsten Stunden eine E-Mail von ihm erhalten würde.

Also vertrieb ich mir die Zeit, indem ich einen Film anschaute, wobei ich immer schläfriger wurde. Ich schaffte es noch bis zum Abspann der DVD, bevor mir die Augen zufielen.

Als ich zwei Stunden später durch das Klatschen der Regentropfen gegen mein Fenster wieder erwachte, drehte ich mich ein wenig genervt zur Seite. Dies war wieder so ein endloser Tag, der nie vergehen würde. Man konnte sich nicht auf die Terrasse oder in den Garten setzen, man musste sich mit dem Nichtstun abfinden, wenn man ein Leben wie ich führte.

In jenem Augenblick erkannte ich erneut, wie wichtig der Kontakt mit NJ für mich war, dass ich diesen nicht mehr missen wollte, und ich alles dafür tun würde, um ihn aufrecht zu erhalten. Er brachte Sonne in mein Leben, zauberte regelmäßig ein Lächeln auf mein Gesicht, und war der Grund, warum ich jeden Tag aufs Neue versuchte aufzustehen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er zu einem guten Teil dafür verantwortlich war, dass ich die Therapiegruppe aufsuchen wollte. Gelangweilt spielte ich mit meinem Handy und schickte dann eine Nachricht an Anne, die sich noch auf der Arbeit befand. Zu meiner Freude antwortete sie sofort.

Hey, Jess, ich schaue nachher bei dir vorbei, hab dich lieb, Anne.

Grinsend legte ich das Handy zur Seite und bettete meinen Kopf auf das Kissen. Die Aussicht, dass Anne mich bald besuchen würde, besserte meine Laune um ein Vielfaches. Wir würden über alles Mögliche quatschen und unseren Spaß haben. Vermutlich würde unser Hauptgesprächsthema mein anstehender Termin in der Gruppentherapie sein, denn Anne besaß noch einige Informationen, welche sie mir unbedingt mitteilen wollte.

Da mein Magen zu knurren begann, erhob ich mich aus dem Bett, hievte mich in den Rollstuhl und fuhr geradewegs in die Küche, wo meine Mum gerade stand, um die Einkäufe zu verstauen, welche sie auf dem Heimweg von ihrer Arbeitsstätte besorgt hatte.

„Ich hab Hunger, Mum", ließ ich kläglich verlauten, worauf meine Mutter mir zuzwinkerte, um dann zu sagen: „Ich mache gleich Waffeln, ok?"

Sofort begannen meine Augen zu strahlen. „Waffeln finde ich super!"

Pancakes und Waffeln gehörten zu meinen Lieblingssüßspeisen, es gab nichts, was leckerer schmeckte. Somit konnte ich es kaum erwarten, bis meine Mutter uns das Essen servierte. Auch Malcolm stopfte die Waffeln in sich hinein, als wäre es seine letzte Mahlzeit.

Nachdem er fertig gegessen hatte, sagte er: „Ich gehe gleich zu Stephanie, ich bin zum Abendessen nicht da."

„Das hättest du wirklich früher sagen können", seufzte unsere Mum, „jetzt habe ich zu viel Fleisch eingekauft."

„Ach, das ist kein Problem, Anne kommt nachher zu Besuch", erklärte ich grinsend.

„Siehst du Mum, es hat sich alles erledigt", kam es von Malcolm, bevor er sich erhob, um sein Zimmer aufzusuchen.

Kurze Zeit später verabschiedete er sich von uns und brauste mit dem Auto unserer Mutter davon. Ein wenig wehmütig schaute ich dem verschwindenden Wagen hinterher. Ich vermisste die Zeit meiner Unabhängigkeit, in welcher ich mich auch einfach in ein Auto hatte setzen können, um meine Freunde zu besuchen. Doch das Schicksal hatte es auserkoren, dass ich nun an einen Rollstuhl gefesselt, mein Dasein in einem Haus, in einem Kaff auf dem Land verbringen musste, anstatt die große weite Welt zu bereisen, wie ich es mir einst erträumte.

Manchmal war das Leben ziemlich ungerecht, doch ich wollte heute nicht über solche Dinge nachdenken, da diese mich psychisch immer herunterzogen. Nachdem ich eine Weile aus dem Fenster geschaut hatte, rollte ich zurück in mein Zimmer, um nach den E-Mails zu schauen. NJ hatte sich noch immer nicht gemeldet, wahrscheinlich hatte der Ärmste bereits Stress auf der Arbeit. Gerade als ich überlegte, womit ich mir noch die Zeit vertreiben konnte, traf eine Whatsapp Nachricht von Anne ein.

Bin in zehn Minuten bei dir.

„Gott sei Dank", seufzte ich erleichtert.

Es tat so gut, eine beste Freundin wie Anne zu haben, auch wenn wir hin und wieder mit Meinungsverschiedenheiten kämpften, aber sowas empfand ich durchaus als normal. Eine Freundschaft, die nur daraus bestand, dass sich beide gegenseitig nach dem Mund redeten, kam für mich nicht in Frage, da ich diese nicht als echt empfinden würde. Gott sei Dank kamen Anne und ich niemals auf diese Idee, sondern tauschten immer offen unsere Ansichten aus, wie man bei der Sache mit NJ feststellen konnte.

Ungeduldig rollte ich in meinem Zimmer auf und ab, bis ich endlich die Türglocke läuten hörte. Anne war wie immer pünktlich und kam Sekunden später in mein Zimmer gestürmt. Ihre grünen Augen leuchteten voller Unternehmungslust, als sie mich umarmte und dann auf meinem Bett niederließ.

„Ich bin so stolz auf dich, Jess, dass du übermorgen dorthin gehst", sprudelte es aus ihr hervor.

Als ich nichts dazu sagte und sie nur mit meinen braunen Augen fixierte, sah ich, wie ihr Blick sich ins Unsichere veränderte.

„Du willst doch noch hingehen, oder?", lautete ihre Frage.

„Natürlich, ich habe mich dazu entschlossen und ziehe das jetzt durch. Aber wenn es mir nicht zusagt, bringen mich keine zehn Pferde wieder dorthin, ok?"

„Das ist die Jess, die ich kenne."

Zufrieden klopfte Anne mir auf die Schulter, bevor sie es sich vollends auf dem Bett bequem machte.
„Und?", fragte sie.

„Und was?"

„Hast du heute schon was von NJ gehört?"

„Leider nicht, ich vermute, dass er arbeitet, mir aber später antworten wird."

„Du willst nicht damit aufhören, oder?"

„Warum sollte ich? Immerhin ist es sein Verdienst, dass du mich übermorgen zu dieser Therapiegruppe fahren darfst", entgegnete ich nun.

„Wie bitte?" Anne fuhr von ihrer bequemen Liegeposition hoch und starrte mich entgeistert an.
„Du hast schon richtig gehört, ich habe mit ihm darüber geschrieben. Er ist der Ansicht, dass ich es zumindest versuchen sollte."

Ich wusste, dass ich sie damit überraschte und gleichzeitig aus der Reserve lockte.

„Du kannst doch nicht mit einem wildfremden Mann über solche Dinge schreiben!", brachte sie verwirrt hervor, was mich zum Lachen reizte.

„Du siehst doch, dass ich das kann, außerdem ist er kein Wildfremder mehr. Ich besitze ein Bild von seinen Schuhen", erklärte ich stolz.

„Jess! Jetzt hör mir mal gut zu..."

„Nein, du hörst mir zu", fiel ich ihr ins Wort. „NJ ist nicht gefährlich, er ist sehr süß und lieb. Er macht mir Mut und hilft mir, auf andere Gedanken zu kommen. Warum kannst du das nicht einfach akzeptieren?"

„Weil ich Angst um dich habe!"

Nun legte ich meinen Kopf ein wenig zur Seite, blinzelte in Annes Richtung, um dann einen Vorschlag zu machen: „Ok, wenn ich das erste Mal eine Anfrage von ihm erhalte, dass er ein Bild von mir im Bikini sehen will, schicke ich ihn in die Verbannung, Deal?"

Anne schlug sofort in meine ausgestreckte Hand ein. „Deal!"

Danach wandten wir uns dem Thema Gruppentherapie zu, zu welchem meine beste Freundin noch etwas zu sagen hatte.

„Also es sind zehn Leute in dieser Gruppe, vier Männer und sechs Frauen, unterschiedlichen Alters. Der Leiter, er heißt übrigens Christopher Blake, hat früher mal in einer Klapse gearbeitet und besitzt Erfahrung mit suizidgefährdeten Menschen."

„Na super, dazu gehöre ich wohl eher nicht", maulte ich augenverdrehend.

„Ich wollte ja nur damit ausdrücken, dass er wohl sehr verständnisvoll und einfühlsam sein wird."

Mein unkontrolliertes Lachen, welches ich daraufhin ausstieß, ließ Anne erschrocken zusammenzucken.

„Vergiss es, meine Liebe! Keiner kann so einfühlsam sein wie NJ. Der macht das wirklich super", erwiderte ich überzeugt, woraufhin Anne nur von sich gab: „Ich würde ja zu gerne wissen, was ihr euch so schreibt."

„Das ist und bleibt eine Sache zwischen ihm und mir", erklärte ich entschlossen.

Niemand würde etwas von den Korrespondenzen erfahren, denn diese waren mir heilig und inzwischen viel zu persönlich, dass ein anderer sie lesen durfte. Obwohl ich es kaum erwarten konnte nachzuschauen, ob er inzwischen geantwortet hatte, verkniff ich mir das, so lange Anne sich hier aufhielt. Da sie noch zum Abendessen blieb, dauerte es also noch eine Weile, bis ich meine E-Mails ungestört abfragen konnte.

Da Anne und ich jedoch genügend andere Gesprächsthemen besaßen, verging die Zeit wie im Flug und ehe wir uns versahen, rief meine Mutter zum Abendessen, da mein Vater gerade nach Hause gekommen war. Es gab medium gebratene Steaks, wie ich sie am liebsten mochte, Bratkartoffeln und Salat. Zum ersten Mal nach langer Zeit aß ich mit Appetit, was bewirkte, dass auf meinem Teller keiner Reste zu finden waren. Meine Eltern freuten sich darüber und auch Anne schien zufrieden zu sein. Allerdings musste sie sich direkt nach dem Essen verabschieden, da sie noch einiges zu tun hatte.

„Wir sehen uns dann am Donnerstag, ok? Ich hole dich um halb fünf ab, dann sind wir pünktlich in der Stadt", erklärte sie, als ich sie zur Haustür begleitete.

„Ok, bis dann, Anne!"

Sie beugte sich zu mir hinab, umarmte mich und warf mir eine Kusshand zu, bevor sie aus meinem Blickfeld verschwand.
Keine Sekunde später rollte ich mit Rekordgeschwindigkeit in mein Zimmer, kam direkt vor dem Schreibtisch zum Stehen und klappte eilends den Laptop hoch, um nach den E-Mails zu schauen.

Mein Herz schlug schneller, als ich die vertraute Adresse [email protected] entdeckte. Ohne Umschweife öffnete ich die Mail und begann zu lesen.

Liebe Jess,
nicht nur ich lasse dich an meinen Leben teilhaben, du tust das Gleiche für mich. Jedes Mal, wenn du mir antwortest, sehe ich die Welt mit deinen Augen, was nicht immer einfach ist. Doch ich versuche tapfer zu sein und diesen Weg mit dir zu gehen.

Niemand war einfühlsamer als er, ich hatte es gewusst. Anne sollte endlich von ihrer übertriebenen Vorstellung, dass es sich bei ihm um einen Sexualtriebtäter handeln würde, herunterkommen!

Natürlich werde ich dir auch weiterhin von meinen Unternehmungen berichten, obwohl nicht jeder Tag so spektakulär verlaufen wird, wie der gestrige. Wir haben jetzt gerade halb zwölf mittags, und ich werde mich heute einfach nur ausruhen, da uns morgen ein anstrengender Tag bevorsteht. Gestern Abend bin ich mit zwei meiner Kollegen in einer Bar versackt (es ist super, dass wir schon 21 sind), um Whiskey zu trinken. Jack Daniels ist wirklich lecker, ich kann ihn sehr empfehlen, falls du auf Whiskey stehen solltest.

Ich stand zwar nicht unbedingt auf Whiskey, aber weil NJ welchen trank, wollte ich das Getränk auch in der Zukunft probieren. Selbstverständlich nur, damit ich mitreden konnte.

Ich war ein wenig betrunken, aber nicht so stark, dass ich heute unter Kopfschmerzen leide, was es ziemlich angenehm für mich macht. Ich wäre sogar in der Lage, meiner Freundin, wenn ich eine hätte, die Welt zu Füßen zu legen, so wie du es dir vorstellst. Aber das sei nur am Rande erwähnt.

Prompt brachte er mich zum Schmunzeln, er war ja so süß!

Kommen wir nun zu deiner ersten, wirklich wichtigen Frage. Die Antwort darauf lautet natürlich medium, denn es gibt nur diese eine Art, Steaks zu essen. Well done ist Vergewaltigung am Steak und blutig essen es nur die Kannibalen, zu denen ich nicht gehöre.

„Ich auch nicht", murmelte ich zufrieden grinsend, bevor ich weiter las.

Deine Beschreibung, was das Empfinden betrifft, wenn man auf einer Bühne steht und den Applaus des Publikums hört, fällt, glaube ich, ziemlich realistisch aus. Ich versuche nun zu umschreiben, was ich fühle, wenn ich Menschen glücklich machen kann, denn man tut ja nichts anderes, wenn man auf einer Bühne steht und dem Publikum einen Teil von sich gibt, vermutlich den besten Teil. Es ist, als ob man über dem Boden schweben, und gleichzeitig vor Freude explodieren würde. Nichts auf der Welt gibt einem eine größere Genugtuung und man möchte nicht, dass es jemals aufhört. Es ist, als ob du in einen Rausch verfällst, richtig?

Ich war platt, als ich seine Worte las, denn er konnte sich wirklich gut in mich hineinversetzen! Wobei alles so realistisch klang, dass ich es direkt fühlen konnte. Langsam überzog mein Körper sich mit einer Gänsehaut, während ich meine Augen schloss, um auf einer imaginären Bühne zu stehen, und den Applaus des Publikums, für welches ich soeben getanzt hatte, entgegen zu nehmen. Euphorisch und traurig zugleich saß ich nun da, zitterte vor Freude und begann zeitgleich zu weinen.

Es schien Ewigkeiten her zu sein, dass ich so etwas hatte spüren dürfen, doch NJ schenkte mir gerade dieses Gefühl mit seinen Worten, die meine Seele trafen. Er war so liebenswert, so besonders, als ob er genau wusste, was mir gut tat. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete ich meine Augen, um weiter zu lesen.

Kommen wir nun zu der Sache mit der Therapie. Ich bin sehr stolz auf dich, dass du es versuchen willst, ehrlich! Und ich drücke dir ganz fest die Daumen, dass es etwas bringt und du vielleicht sogar nette Leute kennenlernst, die sich als Freunde erweisen.

„Vergiss es", wisperte ich leise, „keiner wird so ein guter Freund werden wie du."

Eigentlich wollte ich auch niemanden so nahe an mich heranlassen, wie NJ, der mein uneingeschränktes Vertrauen besaß.

Und ja, gute Freunde sind unersetzbar. Anne scheint echt in Ordnung zu sein, du solltest es ihr nicht übel nehmen, dass sie so vorsichtig ist, was unseren Kontakt angeht, der mir übrigens sehr wichtig geworden ist. Auch ich würde ihn nicht abbrechen wollen und ich weiß, was du damit meinst, wenn du sagst, dass du mich nicht aufgeben willst. Ich möchte dich auch nicht aufgeben, Jess. In keiner Art und Weise, weder unsere Brieffreundschaft, noch dich als Mensch. Du bist mir sehr ans Herz gewachsen. Das soll jetzt keine Floskel sein, ich meine es ernst.

Er zauberte schon wieder ein Lächeln auf mein Gesicht, er konnte es einfach!

Schön, dass du über Tim hinweg bist, so wie ich über meine Ex. Es ist besser, einfach vorwärts zu schauen, als Menschen hinterher zu trauern, die es nicht wert sind.

Diese Aussage traf zu 100 Prozent zu! Ich war so froh, Tim einen mentalen Tritt verpasst zu haben, etwas Anderes verdiente er nämlich nicht.

Die Sache mit deinem Knie hört sich nicht gut an, und ich kann verstehen, dass du den Mut verloren hast. Trotzdem solltest du im Hinterkopf behalten, vielleicht irgendwann eine zweite Meinung einzuholen. Es gibt viele Ärzte, aber nicht alle sind gleich gut, verstehst du? Diese Erfahrung habe ich auf jeden Fall gemacht, ich weiß, wovon ich spreche und würde dir nicht dazu raten, wenn ich es nicht besser wüsste. Aber lass dir Zeit und tue es erst, wenn du soweit bist.

Und wieder kam diese Fürsorge durch, mit welcher er mich regelmäßig umgab. Wie machte er das nur? Warum konnte ich nicht einen Freund wie ihn an meiner Seite haben, als dieser Unfall passierte? NJ hätte zu mir gestanden und versucht, das Beste daraus zu machen. Er wäre nicht weggelaufen wie Tim, dieses feige Schwein. Die leichte Zornattacke, welche in mir aufkeimte, erstickte ich damit, dass ich die nächsten Zeilen der E-Mail in mir aufnahm.

Meine Physiotherapie hat mir wirklich sehr geholfen, schneller fit zu werden, aber kommen wir nun zu den Schmerzmitteln und der Aussage, dass wir Männer es einfacher hätten, weil wir nicht unter Regelschmerzen leiden. Kannst du dir vorstellen wie es ist, sich jeden Tag rasieren zu müssen? Das ist echt ätzend, weil so viel Zeit drauf geht, andererseits möchte ich auch nicht mit einem Bart herumlaufen, ich glaube das steht mir nicht. Ok, mein Vergleich ist nicht sonderlich gut, aber es war einen Versuch wert.

„Dein Vergleich stinkt zum Himmel", lachte ich, bevor ich wieder zum Lesen überging.

Ich finde es schön, dass dir meine Schuhe gefallen und habe mir natürlich auch das Bild von deinen allerersten Ballettschuhen angeschaut. Sie sind echt niedlich und so winzig! Du musst sehr süß in diesem kleinen Ballettkleidchen ausgesehen haben. Keine Angst, ich möchte nicht, dass du mir ein Kinderfoto von dir schickst, unsere Absprache gilt nach wie vor.

Es beruhigte mich immer wieder zu lesen, dass er sein Wort nicht brach, so baute er nämlich das Vertrauen zwischen uns stetig auf.

Deine Aussage, dass du das Foto von deinem Schlafanzug mit dem Mickey Mouse Print nicht selbst schießen kannst, hat mich mal wieder zum Nachdenken gebracht. Es sind so viele Kleinigkeiten, die man nicht bedenkt, wenn man auf zwei Beinen stehen und herumlaufen kann. Ich hoffe trotzdem, dass dein Bruder dies inzwischen für dich erledigt hat, denn ich möchte unbedingt ein Bild davon haben! Ja, ich bin neugierig, wie der Schlafanzug aussieht, ich gebe es zu!

Mein Grinsen hörte nicht auf, es wurde immer breiter, vor allem als ich mir die nächsten Zeilen zu Gemüte führte.

Ob Calvin Klein bei mir Maß genommen hat, als er die erste Boxershorts anfertigte, weiß ich nicht, jedenfalls passen sie wie angegossen. Ich trage übrigens nur schwarze und weiße Boxershorts, welche Farbe bevorzugst du bei deiner Unterwäsche? Und da wir gerade über Maße reden, würdest du es als unverschämt empfinden, wenn ich mich nach der Körbchen Größe deiner BHs erkundige? Ich würde ja auf B tippen, da du als Tänzerin bestimmt angemessene Proportionen haben musstest. Verstehe mich bitte nicht falsch, B ist keineswegs zu klein, wenn die Frau schlank und zierlich ist, denn dann wäre C schon wieder zu viel. Außerdem liegt B besser in der Hand, zumindest in meiner.

Meine unkontrollierten Lachanfälle wurden immer schlimmer, ich konnte mich nur schwer beruhigen. Er war so göttlich, so unverfroren, so ehrlich! Da wir uns auch nie im realen Leben über den Weg laufen würden, konnten wir auch ganz entspannt über solche Dinge diskutieren.

Als ich deinen Satz mit dem Kartoffelsack und der Jogginghose gelesen habe, die zusammen in einem Bett liegen, habe ich mich gefragt, was dabei herauskommen würde. Ein Kartoffelsack mit Sweatshirt Stoff oder eine Jogginghose, die sich anfühlt wie ein Kartoffelsack? Ich glaube, das wird für immer ungeklärt bleiben, deswegen würde ich es bevorzugen, dass du deinen Schlafanzug mit dem Mickey Mouse Print trägst und ich meine Calvin Klein Boxershorts, wenn wir uns die Klamotten langsam und genüsslich ausziehen.

Nun rannen Tränen vor Lachen über mein Gesicht, er war so witzig und irgendwie klang es so sexy, wenn er mit mir schrieb. Stundenlang hätte ich seine Briefe lesen können, ohne dass es langweilig wurde. Doch er besaß auch eine ernste Seite, welche seine nächsten Worte demonstrierten.

Auch ich kann diese unsichtbare Verbindung zwischen uns, welche du erwähntest, spüren. Es gibt mir so viel mit dir zu schreiben und gleichzeitig bekomme ich etwas dafür zurück. Du schenkst mir dein Vertrauen Jess, genauso wie ich dir meines. Wir sollten das wirklich als ein besonderes Geschenk betrachten, denn es ist nicht selbstverständlich und kommt bestimmt auch nicht häufig vor, dass zwei einander fremde Menschen, ihre Hoffnungen, Gedanke und Wünsche auf diese Art und Weise austauschen, wie wir beide es tun.

Mit solchen Sätzen brachte er mein Herz zum Schmelzen, jedes Mal und immer wieder, als ob er genau wusste, wo er ansetzen musste, um den Kern meiner Seele zu treffen. Ich würde ihm einfach alles anvertrauen, ohne Zweifel, ohne Angst und ohne ein schlechtes Gewissen.

Natürlich werde ich am 16. Juli an dich denken, sehr oft sogar, vielleicht gibt es dir Kraft und Mut, was ich mir sehr wünschen würde. Im Übrigen glaube ich nicht, dass die anderen Menschen in dieser Gruppe dich bemitleiden, denn ihre Gründe dort aufzutauchen, ähneln deinen. Sie versuchen nach einem Schicksalsschlag wieder mit ihrem Leben klar zu kommen. Das ist nicht einfach und je länger ich in diesem Zusammenhang über dich nachdenke, desto trauriger werde ich. Aber ich würde dich nie bemitleiden, im Gegenteil. Ich werde dich jeden Tag daran erinnern, dass das Leben noch viele Dinge für dich bereithält. Und falls du dich nicht traust, unbekanntes Terrain zu betreten, denk immer daran: Ich halte deine Hand.

„NJ, was würde ich nur ohne dich tun?", flüsterte ich kaum hörbar.

In jenem Moment wollte ich so gerne seine Hand halten, in der Realität, nicht in der virtuellen Welt. Ob sie sich wohl zärtlich anfühlte?

Für einen Augenblick hörte ich auf zu lesen, weil mein Herz sich schmerzlich zusammenzog. Warum konnte er nicht einfach im Nachbarort wohnen und mich jeden Tag besuchen? Die Frage, die sich mir nun aufdrängte, trug nicht dazu bei, es einfacher zu machen. Was, wenn er ganze Zauber zwischen uns dann einfach verfliegen würde? So wie es gerade war, fühlte es sich perfekt an und ich tat gut daran, nichts zu ändern, sondern einfach den Dingen ihren Lauf zu lassen. Seufzend wandte ich mich den letzten Sätzen der E-Mail zu.

Mein Musikgeschmack ist sehr breit gefächert, wobei ich die klassischen Rocksongs aus den Achtzigern bevorzuge. Somit wären wir bei einem meiner liebsten Hobbys angekommen. Ich spiele leidenschaftlich gerne Gitarre, wenn ich nicht gerade mit dir im Internet schreibe. Außerdem koche und esse ich sehr gerne, wobei hier Jamie Olivers Rezepte an erster Stelle stehen. Du siehst, ich besitze keine düsteren Geheimnisse, wie du es vielleicht vermutet hast. Wie sieht es bei dir aus? Was außer Ballett ist in deinem Leben noch wichtig?
Die Idee, ein Haustier NJ zu nennen ist schon krass aber ich vermute, ich kann dich nicht davon abhalten. Schön, dass du mir ein Mitspracherecht bezüglich der Tierart einräumst, denn ich möchte kein Hamster sein. Ich wäre gerne eine Giraffe; Mist, die kann man nicht als Haustier halten, das ist jetzt echt blöd!

Schon wieder löste seine Bemerkung ein Lachen bei mir aus, genauso wie sein Schlusssatz.

Es würde sich toll anfühlen, wenn wir beide zusammen kuscheln würden, davon bin ich überzeugt. In diesem Sinne wünsche ich dir eine gute Nacht, süße Träume und viel Erfolg beim Antworten auf mein unsinniges Gerede.

Alles Liebe, NJ

P.S.: Frauen mit Humor sind sexy und du besitzt reichlich davon!

Gott, was für eine E-Mail! Erschöpft ließ ich mich in den Rollstuhl zurücksinken, um meine Gefühle und Gedanken zu sortieren. Er besaß absolut alles, was ich an einem Mann schätzte; Humor, Sarkasmus, Liebenswürdigkeit, Offenheit, Zielstrebigkeit, und die Gabe, mich zum Lachen zu bringen, wann immer er es wollte. Aus diesem Grund gerieten unser E-Mails ein wenig außer Kontrolle, was ich jedoch nicht schlimm fand, denn ich war schon lange kein braves Mädchen mehr. Mit einem verschmitzten Grinsen auf den Lippen, machte ich mich daran, die Antwort zu tippen.

„Du wirst dich noch wundern, NJ", murmelte ich vor mich hin. „Ich werde dir zeigen, wie weit Jess wirklich gehen kann."

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Oh, oh, wie wird wohl die nächste Email von Jess ausfallen? Die beiden kommen sich schon recht nahe, oder? Findet ihr das gut?

LG, Ambi xxx


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