13. Flirt

Niall

Nachdem ich die E-Mail an Jess abgeschickt hatte, stellte ich mit einem Blick auf die Uhr fest, dass es bereits an der Zeit war, sich für das Abendessen fertig zu machen. Schnell sprang ich unter die Dusche, stylte mich anschließend und verließ meine Suite, um an Zayns Tür zu klopfen. Er öffnete mir auch sofort mit einem breiten Grinsen auf seinen Lippen und einem Handtuch, welches er um seine Hüften geschlungen hatte.

„Hey, Nialler, na hast du ausgeschlafen?", fragte er mit einem Augenzwinkern.

Grinsend schob ich ihn ins Zimmer, ließ mich auf einen der Sessel fallen und sagte: „Ich habe nicht geschlafen."

Sein Grinsen verbreiterte sich noch um einiges, als er sagte: „Du siehst so herrlich entspannt aus, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass du gerade Sex gehabt hast."

„Ja, klar, mit meiner Hand unter der Dusche", witzelte ich, worauf Zayn mir auf die Schulter klopfte.

„Weißt du Niall, warum soll es dir besser ergehen als mir? Ich muss auch bis zum vierten August warten, bis ich wieder Sex haben werde. Aber mit etwas Glück bist du schon früher dran. Du musst dir nur eine neue Schnitte aufreißen."

„Als ob das so einfach wäre", brummte ich vor mich hin, während ich mit einer Hand durch meine Haare fuhr.

Merkwürdigerweise dachte ich gerade an Jess. Ob meine Antwort bezüglich dieser Gruppentherapie ihr wohl helfen konnte, eine Entscheidung zu treffen? Ich hoffte sehr, dass sie zumindest versuchen würde, daran teilzunehmen, wenigstens ein einziges Mal, um dann vielleicht zu merken, dass es ihr gut tat.

„Niall?" Zayns Stimme riss mich aus meinen Gedanken und bewirkte, dass ich meinen Kopf überrascht anhob.

„Was ist denn?"

„Träumst du schon vom Vögeln mit einer heißen Braut? Ich habe dich gerade gefragt, wo wir etwas essen wollen."

„Ich bin für Steaks", antwortete ich einsilbig.

„Ok, dann sind wir schon zu zweit, wenn Liam noch mitmacht, haben wir die anderen überstimmt."

Meine ganze Hoffnung lag nun auf Liam, der Steaks über alles liebte, und er ließ mich nicht im Stich. Als wir uns kurze Zeit später mit den anderen in der Lobby trafen, um über das Abendessen zu verhandeln, sagte er kurz und bündig: „So ein schönes, saftiges Filetsteak würde mir jetzt gefallen."

„Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann", erwiderte ich grinsend.

„Ich habe heute meinen vegetarischen Tag", warf Harry ein.

„Na und? Dann isst du eben Salat und Folienkartoffeln", meinte Louis trocken.

Gleich darauf setzten wir uns in Bewegung, um das Steakrestaurant aufzusuchen, welches fast direkt gegenüber des Hotels, auf der anderen Straßenseite lag. Selbst diese kurze Strecke konnten wir nicht ohne unsere Security Leute zurücklegen, da uns überall Fans auflauerten. In solchen Situationen stellte ich mir manchmal vor, wie es wohl wäre, nicht mehr berühmt, sondern ein ganz normaler Mensch zu sein, der unbehelligt durch die Straßen laufen durfte, wann immer es ihm beliebte.

Seit fünf Jahren war mir das nicht mehr vergönnt und obwohl ich mich inzwischen daran gewöhnt hatte, kam es mir trotzdem seltsam vor. Die meisten Leute dachten wahrscheinlich, dass wir mit jeder Menge Selbstbewusstsein aufwarten konnten und so gut wie keine Ängste kannten, wenn es darum ging, zwischenmenschliche Kontakte zu knüpfen. Die Realität sah jedoch ein bisschen anders aus.

Wir alle litten unter den gleichen Unsicherheiten diesbezüglich, wie jeder andere Typ in unserem Alter. Natürlich kamen wir vielleicht schneller an hübsche Frauen heran, aber das waren meistens solche, mit denen wir keine feste Beziehung eingehen würden. Eine Frau fürs Bett fand man immer, doch eine für das Herz zu finden bereitete große Schwierigkeiten. Hinzu kam die Tatsache, dass wir uns nie sicher sein konnten, ob sie nun unser Geld, unseren Status oder wirklich uns als Mensch liebte.

Liam, Louis und Zayn konnten sich glücklich schätzen, feste Freundinnen zu haben, die nicht unbedingt scharf auf diesen Sonderstatus waren, während Harry und ich noch immer etwas orientierungslos durch die Gegend pendelten, was diese Sache anging.

Er datete genau wie ich, hin und wieder hübsche Frauen, doch etwas wirklich Ernstes, wie die Klatschblätter immer behaupteten, war nie dabei. Somit hielten wir uns mit jenen weiblichen Wesen, die verschwiegen waren und uns die Nächte versüßten, über Wasser. Man sollte Sex keinesfalls überbewerten, aber hin und wieder war er echt nötig.

Die beiden Nächte mit Kelly trugen zwar dazu bei, dass ich im Augenblick noch recht entspannt durch die Gegend lief, doch spätestens in zwei Wochen würde das anders aussehen. Mein Date mit Nathalie fand jedoch erst in drei Wochen statt, also hieß es warten. All das ging mir durch den Kopf, während wir die kurze Strecke zum Restaurant im Laufschritt zurücklegten.

Dort angekommen, geleitete man uns zu dem reservierten, ellenlangen Tisch, an welchem wir nun unsere Plätze einnahmen. Zu meiner Rechten saß Zayn, während Harry links neben mir bereits in die Speisekarte starrte. Ich fragte mich gerade, seit wann er vegetarische Tage einlegte, als er auch schon sagte: „Ich werde den Salat vom Buffet nehmen und eine Ladung Country Potatoes."

„Das klingt gut, Harry, aber vergiss die Eier nicht, die steigern deine Potenz", zog Liam ihn auf.

„Du Arsch!", lachte unser Lockenkopf. „Niall sollte auch Eier essen", setzte er noch hinzu.

Nun bedachte ich ihn mit einem mitleidigen Blick. „Ich brauche erst in drei Wochen wieder Eier", lautete meine Aussage, begleitet durch ein massives Grinsen.

„Er hatte Sex mit seiner Hand unter der Dusche", erklärte Zayn mit total ernstem Gesicht, welches Louis sofort zum Lachen reizte.

„Welche Hand war es denn und ich hoffe, du hast sie gründlich gewaschen", frotzelte er.

Aus einem unbekannten Grund fragte ich mich, was Jess wohl zu dieser Konversation gesagt hätte und so antwortete ich nur: „Ihr seid solche Idioten, echt!"

Warum musste ich plötzlich auch in solchen Situationen an das Mädchen im Rollstuhl denken? Sie geisterte immer öfter durch meine Gedanken, so als ob sie mir sagen wollte, dass ich mein Leben in manchen Dingen vielleicht überdenken sollte. Es gab weiß Gott schlimmere Probleme, als keinen Sex zu haben, dieses Bewusstsein drängte sich in mein Herz, als ich an die E-Mails dachte, die wir schrieben.

Jess kämpfte um ihre Daseinsberechtigung und hoffentlich bald darum wieder laufen zu können. Es gab nichts, was ich mir im Augenblick mehr wünschte, als ihre Hand halten zu können, wenn sie ihre ersten Schritte gehen würde.

„Niall, träumst du?"

Harry stieß mich an und Zayn sagte prompt: „Er ist heute nicht so ganz anwesend, er hat vorhin auch schon so abwesend reagiert."

„Ich weiß gar nicht, was ihr habt, ich bin doch da und höre euch zu", verteidigte ich mich nicht gerade überzeugend, was dazu führte, dass die Stichelei kein Ende nahm.

Liam traf es mal wieder auf den Punkt, indem er seinen Senf dazugab: „Vermutlich besitzt er jetzt zwei Persönlichkeiten."

„Du meinst, er war gerade NJ?", platzte Louis heraus, was die anderen zum Lachen animierte.

„Genau, NJ! Warum reißt du nicht deine online Briefbekanntschaft auf und lässt sie hier einfliegen?", schlug Zayn vor. „Dann könntest du auch deine Hände schonen."

„Die brauche ich noch, um E-Mails zu schreiben, also werden sie so oder so nicht überbeansprucht!", erklärte ich mit bissigem Tonfall.

Langsam reichte es mir wirklich, was meine Freunde nun zu spüren schienen, denn sie hielten plötzlich ihre Klappe und schauten mich merkwürdig an.

„Niall, komm schon, du kannst doch dieses Mädchen nicht so verarschen", meinte Louis schließlich ruhig.

„Ich verarsche sie nicht, das liegt mir fern."

„Und warum schreibst du ihr dann unter dem Pseudonym NJ E-Mails?", wollte Harry wissen, der dann an seinem Bier nippte, sodass sein Mund von Schaum eingerahmt wurde, was ziemlich lustig aussah.

Trotzdem konnte ich nicht lachen, ich war weit davon entfernt. Genauer gesagt hätte ich am liebsten losgeheult, als ich an Jess dachte, die ihren Lebenstraum aufgeben musste. Ich musste wohl ziemlich niedergeschlagen gewirkt haben, denn Zayn legte eine Hand auf meine Schulter, als er betreten sagte: „Du musst uns nichts davon erzählen, Niall, wenn du nicht willst. Aber denk daran, das könnte irgendwann nach hinten losgehen."

Was sollte ich nun dazu sagen? Am besten ich hüllte mich in Schweigen, denn mein Geheimnis ausplaudern kam nicht in Frage. Jess hatte sich mir anvertraut, nur mir, etwas, was ich sehr zu schätzen wusste. Ich würde sie niemals enttäuschen und ihre Probleme einfach so mit anderen bereden. Es ging niemand etwas an, was wir uns in diesen E-Mails, die immer persönlicher wurden, mitteilten.

Glücklicherweise tauchte die Bedienung an unserem Tisch auf, um das Essen zu servieren. Somit blieb ich meinen Bandkollegen zwar eine Antwort schuldig, doch das vergaßen diese recht schnell, da sich jeder seinem Essen zuwandte. Wir redeten nun über die anstehenden Konzerte in den kommenden Tagen. Unseren nächsten Auftritt hatten wir in Seattle, im Staat Washington, am fünfzehnten Juli. Somit blieb uns noch ein Tag in San Francisco, den wir zum Relaxen oder Sport treiben nutzen wollten. Meine Gedanken schweiften jedoch während der Unterhaltung immer wieder zu Jess, die wahrscheinlich schon tief und fest schlief.

Nach dem Essen beschlossen Harry, Zayn und ich, eine Bar aufzusuchen, während die anderen beiden sich ins Hotel zurückzogen. Sie wünschten Harry und meiner Wenigkeit viel Spaß bei der Jagd, als wir uns voneinander verabschiedeten, um dann schnellstmöglich ein Taxi aufzutreiben, welches uns zu der bekannten Bar brachte. Dort verkehrten viele Prominenten aber auch ganz normale Leute, was uns gefiel.

Zayn orderte sogleich eine Runde harter Drinks, jetzt, da wir alle einundzwanzig waren, stellte das auch kein Problem mehr dar. Nach zwei Gläsern Jack Daniels auf Eis geriet ich so richtig schön in Fahrt, was das Reden anging, wobei ich keineswegs betrunken, sondern nur angeheitert war.

Harry und Zayn erging es nicht anders und so begannen wir eine lustige, ziemlich sinnlose Konversation, die sich unter anderem darum drehte, was man einer Frau schenken könnte, um ihr Herz zu erobern. Zayn, der dieses Problem bereits hinter sich gelassen hatte – schließlich war er seit geraumer Zeit mit Perrie verlobt -, beteiligte sich trotzdem an unserem Gespräch, indem er mit guten Ratschlägen aufwartete, welche jedoch bei Harry und mir auf taube Ohren stießen.

„Vergiss es, ich schenke einer Frau keinen teuren Schmuck, um ihr Herz zu erobern, du etwa, Niall?" Auf eine Antwort wartend, blickte Harry in mein Gesicht.

„Nein, das würde ich auch nicht tun", kam es prompt von mir. „Ich will mir doch meine Liebe nicht erkaufen müssen!"

„Eben! Und irgendwann, wenn du die Alte dann genug gespoilert hast, verlässt sie dich und haut mit dem wertvollen Schmuck ab!", gab Harry seinen Senf dazu.

„Und wie bitte wollt ihr beiden eisernen Singles die Frau eures Lebens glücklich machen und an euch binden?", meinte Zayn verschmitzt grinsend und nippte an seinem Glas.

„Indem wir ihr etwas Außergewöhnliches zukommen lassen, es muss ja nicht teuer sein, oder?"

Harry schaute zu mir, als er das aussprach, um meine Zustimmung einzuholen.

Nachdenklich nippte ich an meinem dritten Whiskey, die Wirkung des Alkohols breitete sich in meinem Körper, sowie in meinem Geist aus, was dazu führte, dass ich plötzlich Dinge sagte, die ich eigentlich hatte für mich behalten wollen.

„Ich würde ihr ihren größten Traum schenken", entfuhr es mir.

Misstrauisch und neugierig zugleich, trafen mich die Blicke meiner Freunde, als Zayn auch schon redete. „Meinst du jetzt eine bestimmte Person damit?"

„Ja."

Ich schwenkte die Eiswürfel in meinem Glas in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, bevor ich weiter redete.

„Sie kann nicht mehr laufen und wird nie wieder tanzen."

Es herrschte einen Moment lang eine beinahe unheimliche Stille zwischen uns, bis Harry eine Frage stellte: „Redest du von diesem Mädchen, mit dem du schreibst?"

Schnell kippte ich den letzten Rest Whiskey in einem Zug hinunter, spürte das angenehme Brennen in meiner Kehle, und setzte dann zu einer schlichten Antwort an.

„So ist es und mehr möchte ich dazu nicht sagen."

Dieser Satz beendete unsere Diskussion schlagartig, Zayn räusperte sich nun, um einen Vorschlag zu machen: „Sollten wir nicht lieber ins Hotel zurückgehen? Ich werde morgen eine Webcam Session mit Perrie machen und wenn ich noch halb verschlafen und mit verquollenen Augen in die Kamera schaue, wird sie nicht begeistert sein."

Da wir geneigt waren, seine Bedenken anzuerkennen, bezahlten wir unsere Getränke und ließen uns umgehend mit einem Taxi zu unserem Hotel kutschieren. Dort angekommen, suchten wir direkt unsere Zimmer auf, nachdem wir uns eine Gute Nacht gewünscht hatten. Binnen kürzester Zeit lag ich in meinem Bett und versank in einen tiefen Schlaf.

Als ich am nächsten Tag von den Sonnenstrahlen erwachte, welche durch die Jalousien fielen, begann ich leicht zu blinzeln und tastete nach meinem Handy, das zum Glück gleich auffindbar war, da es auf dem Nachttisch lag.

Seufzend stellte ich fest, dass es bereits viertel nach elf war und mein Körper die Zeitumstellung in der Zwischenzeit wohl gut wegsteckte. Ohne darüber nachzudenken glitten meine Finger über das Display; ich öffnete den E-Mail Eingang und sah zu meiner Freude, dass Jess geantwortet hatte. Schlagartig streifte ich die Müdigkeit ab, setzte mich auf, und begann konzentriert zu lesen.

Lieber NJ,
danke, dass du mich an deinem Leben teilhaben lässt.

Bereits nach diesem ersten Satz musste ich eine kurze Pause einlegen. Sie bedankte sich dafür, dass ich ihr nur die halbe Wahrheit erzählte. Ich kam mir vor wie ein Schwein, das seine Freundin betrog, wusste jedoch nicht warum. Mit einem enorm schlechten Gewissen las ich nun weiter.

Die Sache mit dem Cable Car klingt echt spannend und sehr lustig. Ich wäre liebend gerne mitgefahren, das kannst du mir glauben! Aber wie du selbst schon herausgefunden hast, wird es nie dazu kommen. Trotzdem freue ich mich, über solche Dinge lesen zu können, da ich ein Mensch bin, der sich für Vieles interessiert. Auch Alcatraz würde ich mir gerne einmal besichtigen, es muss wahnsinnig toll sein, sich dort alles anschauen zu können. Du hast dich also danach erkundigt, ob gehbehinderte Menschen zur Festung transportiert werden können, was ich sehr aufmerksam finde. Es zeugt davon, wie fürsorglich du bist, das mag ich sehr an dir. Ich könnte mir vorstellen, dass du deiner Freundin, wenn du eine hättest, die Welt zu Füßen legen würdest. Schade, dass es nicht mehr Männer gibt, die so sind wie du.

Nun musste ich erneut schlucken. So besonders war ich doch gar nicht, ich war nicht mal ehrlich zu ihr, was meinen Job anging, eine Sache, die mir doch schwer zu schaffen machte.

Crawfish ist wirklich lecker, ich liebe dieses Gericht! Ich liebe Fisch im Allgemeinen, aber auch Fleisch. Übrigens esse ich meine Steaks medium gebraten, nicht blutig. Wie sieht es bei dir aus?

„Medium, Jess, nur medium, wir verstehen uns super, was das Essen angeht", murmelte ich grinsend vor mich hin, bevor ich die nächsten Zeilen verschlang.

Ich kann total nachvollziehen, dass dein Job dich so glücklich macht, bei mir war das genauso, als ich noch tanzen konnte. Ich hätte für meinen Job gelebt, nur dafür, jeden Abend auf einer Bühne zu stehen und vor dem Publikum zu tanzen. Weißt du, wie toll es sich anfühlt, den Applaus zu hören? Wie schön es ist, wenn du fühlst, wie glücklich und zufrieden die Menschen nach deinem Auftritt nach Hause gehen?

„Es ist das beste Gefühl der Welt", die Worte, welche ich nun aussprach, entsprachen jenen, die Jess geschrieben hatte, und waren gleichzeitig das, was ich empfand.

Dies machte mich glücklich und traurig zugleich. Glücklich, weil wir so viele Gemeinsamkeiten besaßen und traurig, weil ich nicht alle mit ihr teilen konnte. Mein Gefühl, dass wir uns vermutlich stundenlang über die gleiche Sache unterhalten konnten, ohne dass es langweilig wurde, verstärkte sich zusehends. Für eine Sekunde befand ich mich in einer anderen Welt, auf einer Bühne, umgeben von tosendem Applaus, welchen ich in mir aufnahm, wie die Luft zum Atmen. Niemand würde Jess jemals besser verstehen können als ich.

Als meine Augen zurück zum Text wanderten, waren sie ein bisschen feucht, was ich jedoch zu ignorieren versuchte.

Der sechzehnte Juli scheint nun für uns beide ein wichtiges Datum zu sein. Für dich ist es der Geburtstag deines Patenkindes, für mich wird an diesem Tag die erste Stunde in dieser Therapiegruppe stattfinden. Du hast richtig gelesen, ich habe mich dazu entschlossen, es zumindest zu versuchen.

Wow! Sie wollte es echt probieren, was ein Stein von meinem Herzen fallen ließ. Vielleicht würde sie neuen Mut bekommen, ich betete dafür.

Wäre es zu viel verlangt, wenn ich darum bitte, dass du mir Glück wünschst? Ich denke nicht, ich glaube, du wirst das gerne tun, oder?

„Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt, Jess", wisperte ich leise, mit noch immer feuchten Augen.

Übrigens bringt meine Freundin, die dich für einen Sexualtriebtäter hält, mich hin und fährt mich auch später wieder nach Hause. Wie du schon bemerkt hast, sind gute Freunde unersetzbar. Anne ist wirklich ein lieber Mensch, aber sie ist extrem vorsichtig, was das Internet angeht, deshalb bereitest du ihr wohl Kopfzerbrechen, oder besser gesagt, unser Kontakt, den wir ja regelmäßig pflegen. Das wird sich auch nicht ändern, ich denke gar nicht daran, dich aufzugeben. Gott, das hört sich jetzt so an, als ob wir ein Paar wären, aber ich weiß nicht, wie es anders ausdrücken soll. Ich denke, du verstehst, was ich meine.

Natürlich tat ich das, ich begriff haargenau, was sie damit ausdrücken wollte, denn mir erging es nicht anders, auch ich wollte Jess nicht aufgeben. Wobei der Begriff nicht aufgeben verschieden Bedeutungen erklärte. Unsere Brieffreundschaft, aber auch den Menschen Jess, den ich niemals im Stich lassen würde. Dafür war sie mir in dieser kurzen Zeit schon zu sehr ans Herz gewachsen.

Ich bilde mir ein, aus deinen Worten herausgehört zu haben, dass du die Sache mit deiner Ex-Freundin inzwischen verarbeitet hast. Vielleicht freut es dich zu hören, dass es mir mit Tim ebenso ergeht. Er hat keinerlei Bedeutung mehr für mich und kann mir auch nicht mehr wehtun, was ich absolut super finde.

Auch ich fand das spitze, sehr sogar! Es freute mich riesig, dass sie so schnell über dieses Arschloch hinweggekommen war und fragte mich insgeheim, wer oder was das wohl ausgelöst haben mochte.

Kommen wir nun zu der Sache mit unseren Knien. Es ist echt ein Wunder, dass du keine Schmerzen mehr hast und ich freue mich sehr für doch, dass du alles tun kannst, was du möchtest, Sport und all diese Dinge. An meinem Knie ist so Einiges kaputt, unter anderem auch die Bänder. Außerdem habe ich eine leichte Knorpelabsplitterung. Na ja, jedenfalls sagten mir die Ärzte, dass es mit dem Ballett vorbei sei und ab da habe ich mich auch nicht weiter drum gekümmert, weil es keine Relevanz mehr für mich hatte, verstehst du?

Ich konnte Jess tatsächlich bis zu einem gewissen Punkt verstehen, aber sie sollte sich meiner Ansicht nach unbedingt eine zweite Meinung einholen. Ich selbst war von einem der besten Kniespezialisten der Welt operiert worden, der mir gleich zu verstehen gegeben hatte, dass es zwar keine einfache OP sein würde, er das aber ohne Probleme hinkriegen sollte. Schließlich hatte ich es gewagt und gewonnen. Aber ich wusste nicht, wie es bei Jess aussah. Meine sportlichen Aktivitäten beschränkten sich darauf, Golf zu spielen und auf der Bühne herumzuspringen. Ballett zu tanzen führte sicher zu einem ganz anderen Belastungsgrad für das Knie.

Du hörst dich so tapfer an, wenn du von deiner Physiotherapie berichtest, es war sicher nicht einfach. Sei froh, dass du alles so gut hinter dich gebracht hast. Du brauchst dir übrigens keine Gedanken wegen meiner Schmerzmittel zu machen, es sind nur ganz normale Tabletten gegen Regelschmerzen, sie helfen auch bei Kopfweh, das habe ich schon getestet! Ihr Männer habt es ja so gut, euch bleibt all das erspart!

Moment! Immerhin mussten wir uns jeden Morgen rasieren, wenn wir nicht mit einem Bart durch die Gegend laufen wollten. Das war ein ziemlich gerechter Ausgleich, fand ich zumindest.

Das Foto von deinen Schuhen ist cool, sie gefallen mir. Im Gegenzug sende ich dir nun eines von meinen allerersten Ballettschuhen. Leider kann ich dir zu diesem Zeitpunkt noch keines von meinem Schlafanzug schicken. Ich habe zwar versucht, das edle Kleidungsstück zu fotografieren, als es auf meinem Bett lag, doch die Tatsache, dass ich in einem Rollstuhl sitze, und mich nicht hinstellen kann, hat erfolgreich verhindert, dass ich ihn auf dem Bild einfangen konnte, wie es ihm gebührt. Mein Bruder muss das später oder morgen für mich erledigen, ich hoffe, das macht dir nichts aus. Ich werde ihm nicht verraten, wozu ich dieses Bild benötige, versprochen!

Sie war ja so witzig, dass ich schon wieder lachen musste. Jess besaß echt einen tollen Humor, etwas, was ich an Frauen schätzte. Humor machte eine Frau unendlich sexy.

Nun sind wir schon wieder beim Thema „unter der Bettdecke" angelangt. Calvin Klein ist auch meine bevorzugte Marke, wenn es um Unterwäsche geht und nein, ich meine damit nicht die Boxershorts. Ich liebe die BHs von Calvin Klein, manchmal rede ich mir ein, er hätte meinen Busen als Maß genommen, bevor er den ersten anfertigen ließ, so gut passen sie nämlich. Ist das bei dir auch so? Also ich meine, hast du bei den Boxershorts auch das Gefühl, dass Calvin Klein bei dir Maß genommen hat?

Ein überbreites Grinsen überzog mein Gesicht, als ich diese Zeilen las. Jess war einfach nur göttlich! Und ihr nächster Satz setzte sogar noch eins oben drauf.

Weißt du, was ich mir gerade vorstelle? Wir beide liegen unter einer Bettdecke, ich mit einem Kartoffelsack bekleidet und du in deiner Jogginghose, die ziemlich gut an dir aussieht. Jetzt frage ich mich nur, wer zuerst anfängt, dem anderen die Klamotten vom Leib zu reißen. Oder wollen wir uns diese lieber langsam und genüsslich ausziehen?

Meine Augen wurden schon wieder ganz feucht, dieses Mal jedoch vor Lachen. Ich japste mehrmals nach Luft, bevor ich die nächsten Sätze lesen konnte.

Somit habe ich wohl deine Frage beantwortet, ob ich Jogginghosen unsexy finde. Ich denke, es verhält sich ähnlich wie bei dem Kartoffelsack, es kommt immer darauf an, was drin steckt! Spaß beiseite, ich wollte dir noch sagen, wie erstaunlich ich es finde, und wie sehr es mich berührt, dass du fühlst, wenn ich weinen muss. Es ist so, als ob eine unsichtbare Verbindung zwischen uns herrscht. Vielleicht ist es das, was dieses Vertrauen zwischen uns aufkommen lässt. Ich bin dankbar dafür, dass ich dich kennenlernen darf, jedes Mal ein bisschen besser. Ich hoffe, dir geht das ebenso. Bitte denke am 16. Juli an mich, ich habe ehrlich gesagt ein bisschen Angst vor dieser Therapiegruppe. Was, wenn sie mich bemitleiden? Das kann ich gar nicht ab! Ich komme mir so verloren vor!

Mein Herz schlug gerade Purzelbäume, so sehr nahm sie mich mit ihren Worten gefangen. Sowohl mit den lustigen, als auch mit den ernsten. Jess war ein Geschenk, ein sehr wertvolles sogar. Jemand, den ich tief in mein Herz blicken lassen konnte, ohne Angst zu haben, dass sie es verletzen würde. Nun war ich bei den letzten Sätzen angelangt.

Du wolltest wissen welche Musik ich gerne höre. Ich mag alles außer Techno, das geht mir auf den Geist. Was hörst du am liebsten? Und hast du noch andere Hobbies außer Golf spielen und mit fremden Frauen im Internet zu schreiben? Du darfst mich ruhig in deine düsteren Geheimnisse einweihen, sie sind bei mir gut aufgehoben! Da du nun eine neue Jess in deinem Leben hast, ich aber noch nie einen NJ hatte, überlege ich ernsthaft, ein Haustier mit diesem Namen anzuschaffen. Vielleicht einen Hamster, oder wäre dir ein anderes Tier lieber? Beantworte mir das bitte in deiner nächsten E-Mail, ok? Ich freue mich schon darauf, wieder etwas von dir zu hören.

Alles Liebe, Jess

P.S.: Nach deiner letzten E-Mail habe ich mich gefragt, wie es sich wohl anfühlt, wenn wir beide miteinander kuscheln würden. Ich denke, es wäre ein schönes Gefühl.

Mein Herz schlug wie verrückt, gleichzeitig hatte ich Probleme, meine Atmung unter Kontrolle zu halten. Nannte man das schon flirten, was wir hier trieben? Oder war das die Vorstufe davon? Wenn ja, wollte ich auf jeden Fall mehr! Jess war so süß, witzig und ihre Sätze wurden von Mal zu Mal gewagter, sie drückten so etwas wie Sexappeal aus. Gott, was dachte ich da für schlimme Sachen? Das Mädchen saß in einem Rollstuhl, verdammt!

„Niall, reiß dich zusammen", sagte ich zu mir selbst, während ich begann, auf ihre E-Mail zu antworten.

Ich musste mich beeilen, denn sie sollte diese auf jeden Fall vor ihrer ersten Therapiestunde lesen, vor welcher sie ein bisschen Angst zu haben schien, was ich jedoch verstehen konnte. Doch ich behielt auch die Dinge im Hinterkopf, die dazu führten, dass meine Gedanken immer wieder abschweiften. Jess und ich zusammen in einem Bett liegend. Der Kartoffelsack und die Jogginghose, die miteinander kuschelten. Das konnte was werden.
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Die beiden kommen sich immer näher in diesen Emails. Wie findet ihr das? Denkt ihr das könnte noch so weitergehen?
LG, Ambi xxx


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