10. You found me

Jess

Das Piepen meines Handyweckers holte mich um Punkt zehn aus dem Tiefschlaf. Seit ich mit NJ schrieb, entwickelte sich wieder so etwas wie eine tägliche Routine in meinem tristen Leben. Er war meine Motivation, jeden Tag aufzustehen und regelmäßig meine E-Mails am Laptop zu checken.

Also erhob ich mich, hievte meinen Körper in den Rollstuhl, welcher vor dem Bett stand und rollte in Richtung Schreibtisch, um den Laptop aufzuklappen. Ich hatte noch in der Nacht, nachdem ich mich endgültig von der Party zurückgezogen hatte, NJs Mail beantwortet und hoffte natürlich jetzt auf eine Reaktion. Seufzend starrte ich Sekunden später auf den leeren Posteingang, doch richtig enttäuscht war ich nicht. Immerhin musste er arbeiten, im Gegensatz zu mir.

Nachdem ich frische Kleidung aus dem Schrank genommen hatte, rollte ich ins Badezimmer, das glücklicherweise nicht besetzt war. Malcolm lag sicher noch im Tiefschlaf, mein Vater saß wahrscheinlich auf der Terrasse und meine Mutter hatte mir ein kurzes „Guten Morgen, Jess", zugerufen, als sie das Haus mit einer großen Tüte betrat.

Darin befanden sich frische Brötchen vom Bäcker, ich nahm diesen himmlischen Geruch sofort wahr, was meinen Magen zum Knurren brachte. Trotzdem suchte ich zunächst das Bad auf, um später frisch geduscht am Frühstückstisch aufzukreuzen. Hungrig machte ich mich über eines der Brötchen her, was meinen Vater zum Schmunzeln animierte.

„Na, Jess, wie geht's dir heute?", fragte er, während meine Mutter mich mit Kaffee versorgte.

„Danke, es geht", antwortete ich, bevor ich von meinem mit Butter und Marmelade beschmierten Brötchen abbiss.

Während ich herzhaft kaute, traf eine Whatsapp Nachricht auf meinem Handy ein, welche ich sofort in Augenschein nahm. Wie zu erwarten stammte sie von Anne, die sich erkundigte, ob sie nachher vorbeischauen dürfte. Da ich nichts dagegen einzuwenden hatte, schrieb ich ihr sofort zurück.

„Anne kommt nachher", erklärte ich, als meine Eltern mich fragend ansahen.

„Das freut mich, sie ist so eine gute Freundin", kam es von meiner Mutter.

Anne war eine gute Freundin, doch sie verstand meine Situation nicht im Mindesten, was unser Streitgespräch vom gestrigen Abend bewies. Vielleicht änderte sich ihre Einstellung zu diesem Thema, aber im Grunde genommen war mir das ziemlich egal. Sie würde mich nicht davon abbringen können, weiterhin mit NJ zu schreiben.

Seine letzte E-Mail bewirkte, dass ich mich noch mehr in dieser virtuellen Welt verschanzen wollte, weil ich ihn dort treffen konnte. Doch sie hatte ebenso den Effekt, dass ich begann über viele Dinge nachzudenken, vor allem über das, was passieren würde, wenn mein Nerv sich komplett erholen sollte.

Im Moment waren meine Beine nur ein nutzloses Anhängsel, früher öffneten sie mir das Tor zu einer anderen Welt. Tanzen, springen, Pirouetten drehen, all das blieb mir verwehrt und irgendwie kam ich damit überhaupt nicht klar. Ich wünschte mir mein altes Leben zurück, doch niemand war in der Lage, es mir wiederzugeben. Niemand.

Aber jetzt gab es NJ, der mich in eine andere Welt entführte, der mir zeigte, dass er für mich da war, der mich zum Lachen brachte, und der über Dinge schrieb, die ich begierig las. Es faszinierte mich, dass er so viel von der Welt sehen konnte. Auch ich hatte mir vor diesem Unfall immer vorgenommen, nicht nur in England zu versauern, sondern in ferne Länder zu reisen.

Im Moment gab es für mich jedoch keine Chance, das zu tun und vielleicht würde ich diese auch nie wieder erhalten. Manchmal bereute ich es, gewisse Dinge nicht getan oder ausprobiert zu haben, in der Annahme, dass später noch genügend Zeit dafür bleiben würde. Doch eines bereute ich nicht: Dass ich für das Ballett gelebt, und mich aufgeopfert hatte, wenn ich auf einer Bühne stand.

Nachdem ich das Frühstück beendet hatte, rollte ich in mein Zimmer zurück, um zunächst nach den E-Mails zu schauen, doch NJ hatte noch nichts von sich hören lassen. Somit blieb mir nichts anderes übrig, als auf Annes Eintreffen zu warten und mir die Zeit bis dahin mit einer DVD zu vertreiben. Da es jedoch an diesem Tag mit meiner Konzentration nicht richtig klappte, beschloss ich, den Film zu einem späteren Zeitpunkt fertig zu schauen.

Meine Finger tasteten nach meinem iPod, welcher auf dem Nachttisch lag, bekamen ihn schließlich zu fassen und kurze Zeit später steckte ich die In-Ears in die Gehörgänge, um die Musik meiner Lieblingsband anzuhören: The Fray. Gleich der erste Song der ertönte, manifestierte sich in meinem Innersten You found me.

Obwohl es sich um einen traurigen Text handelte, trug dieser trotzdem dazu bei, mich ein wenig zum Schmunzeln zu bringen. Der Titel passte irgendwie zu meiner derzeitigen Situation. NJ hatte mich im Internet gefunden, oder ich ihn, das war nun reine Auslegungssache.

Ich hörte den Song gleich dreimal hintereinander, bevor ich zu anderen Liedern überging. The Fray waren seit Jahren meine Lieblingsgruppe, erst im letzten Jahr hatte ich ein Konzert von ihnen besucht. Doch selbst dazu fehlte mir nun jegliche Motivation. Die Arenas boten zwar auch behindertengerechte Sitzplätze an, aber das kam für mich nicht in Frage. Wenn ich ein Konzert besuchen würde, wollte ich auch tanzen, herumspringen und meine gute Laune voll herauslassen. Wie bitte sollte das in einem Rollstuhl sitzend funktionieren? Wohl eher gar nicht.

Seufzend drehte ich mich zur Seite und wartete eigentlich nur auf Annes Eintreffen. Normalerweise war sie immer pünktlich und auch heute ließ sie mich dahingehend nicht im Stich. Als es laut an meine Tür klopfte, wusste ich genau, dass Anne davor stand und so rief ich nur. „Komm rein!"

Sekunden später schob sich ihr schlanker Körper durch den Türspalt. Ihr Gesicht wirkte frisch und ausgeruht, obwohl sie die gestrige Party nicht gerade früh verlassen hatte.

Mit einem leichten Magengrummeln beobachtete ich, wie sie sich auf das Bett setzte und mir mit Handzeichen zu verstehen gab, dass ich die Ohrenstöpsel herausnehmen sollte, was ich dann auch tat.

„Na, Jess, wie geht es dir heute?"

„Danke gut, ich habe keinen Hangover falls du das meinst", erwiderte ich mit einem leichten Grinsen im Gesicht.

„Eigentlich wollte ich nicht auf die Party anspielen, sondern auf etwas Anderes."

Ich wusste haargenau, was sie damit meinte, doch ich tat auf unwissend und fragte mit hochgezogenen Augenbrauen: „Was meinst du denn damit?"

„Ach komm schon. Hast du heute schon mit diesem Typ geschrieben?", platzte sie heraus.

„Nein, aber gestern, direkt nach der Party habe ich seine E-Mail beantwortet", erklärte ich lässig.

Anne seufzte abgrundtief. „Jess, bitte hör mir zu. Das, was du da tust, ist gefährlich! Du wärst nicht die Erste, die von so etwas betroffen ist!"

„Von was betroffen?", fauchte ich ungehalten zurück. „Ich werde mich nie mit ihm treffen, also kann er mir auch nicht gefährlich werden!"

„Du bist so stur! Er wird dich irgendwann um den kleinen Finger wickeln, und wirst darauf hereinfallen, ihm Bilder schicken, die dann vielleicht irgendwann im Internet veröffentlicht werden!"

Anne ging nicht von ihrer These ab, dass es sich bei NJ um einen gestörten Triebtäter handelte, was mich ziemlich wütend machte.

„Hör bitte auf damit", bat ich sie. „Du hast keine Ahnung was es heißt, jeden Tag zuhause alleine herumzuhängen. Immerhin bietet er mir eine gewisse Unterhaltung! Er ist nett, kann sich gut ausdrücken und hat einen super coolen Job."

„Wer's glaubt wird selig", presste Anne hervor, wobei sich eine Sorgenfalte auf ihrer sonst so glatten Stirn bildete.

Ich kannte diesen Gesichtsausdruck genau, er kam immer, wenn sie mich von einer Dummheit abhalten wollte. Doch in diesem Fall hatte sie überhaupt keinen Grund dazu. Und selbst wenn, würde ich das von alleine merken und den Kontakt abbrechen. Etwas in meinem Herzen sagte mir, dass es jedoch nicht so weit kommen würde. Ich hatte bereits begonnen, ihm zu vertrauen und zwar mehr, als den Menschen, die ich bereits seit vielen Jahren kannte.

Diese Wahrnehmung fühlte sich zwar merkwürdig, aber nicht falsch an. Was ich tat, war richtig, daran gab es keinen Zweifel. Und nichts und niemand würde mich davon abhalten könne, den Kontakt zu ihm aufrecht zu erhalten.

Mit einem Ruck setzte ich mich auf, um laut hervorzubringen, was mir auf der Zunge lag: „Anne, du willst es einfach nicht verstehen! Außerdem bin ich alt genug, um selbst auf mich aufzupassen! Und sollte er irgendwann irgendwelche Nacktfotos (ich betonte das Nackt ganz besonders), von mir haben wollen, bekommt er sie nur, wenn ich auch welche von ihm kriege."

Als Anne daraufhin nach Luft schnappte, konnte ich mich vor Lachen kaum noch halten. Es wurde so schlimm, dass ich Seitenstechen bekam und hilflos auf dem Bett zusammensackte. Tränen kullerten aus meinen Augen, ich nahm meine beste Freundin nur noch verschwommen wahr, die nun ihre Hände über dem Kopf zusammenschlug, weil sie endlich begriff, dass ich sie nur verarschen wollte.

„Du bist so fies, Jess, ehrlich!"

Noch immer grinsend wischte ich mir die Tränen aus den Augen, setzte mich wieder auf, wuschelte durch ihre schwarzen Haare und sagte: „Keine Angst, ich werde ihm keine Fotos schicken, ob nackt oder angezogen. Aber du wirst mich nicht davon abbringen können, weiterhin mit ihm zu schreiben."

Anne betrachtete mich nachdenklich, streichelte über meine Wange und sagte dann: „Jess, du hast dich irgendwie verändert, ich weiß noch nicht, ob ich das gut oder schlecht finde."

Ein wenig verdattert saß ich nun da. „Ich habe mich verändert? Wie meinst du das denn?"

„Na ja, du wirkst so anders, so distanziert, als ob du..."

„Als ob ich?"

„Als ob du in einer anderen Welt bist."

Ihre Scharfsinnigkeit beeindruckte mich schon immer. Ich befand mich gerade in einer anderen Welt, einem Universum, in welchem nur NJ und ich uns trafen. Wir hatten uns nicht gesucht, aber gefunden und ich wollte ihn nicht mehr los lassen. In der virtuellen Welt ein wenig an seinem Leben teilhaben zu können, fühlte sich aufregend an. Außerdem tat es gut, sich aussprechen zu können, denn nichts anderes passierte zwischen uns, wenn wir miteinander schrieben.

In meinem Kopf spielte schon wieder das Lied You found me, als ich Anne anstarrte.
„Vielleicht möchte ich ja gerne in meiner eigenen Welt leben, um den Grausamkeiten der anderen zu entgehen", formulierte ich meinen nächsten Satz.

„Ich glaube, es ist besser, wenn du psychologische Hilfe aufsuchst, hast du darüber schon mal nachgedacht?", wollte Anne wissen, was mich erneut auf die Palme brachte.

„Vergiss es, ich brauche keinen verschrobenen Psychologen, der mich sowieso nicht versteht!", blökte ich zurück.

In der Reha Klinik hatte ich die unliebsame Erfahrung machen müssen, dass die Psychologen überhaupt nicht auf mich eingingen, und mich förmlich dazu zwangen, umzudenken. Damit förderten sie jedoch nur meine Sturheit. Anne wusste das und gerade deshalb war es mir ein Rätsel, weshalb sie nun mit diesem Vorschlag daherkam. Einige Sekunden später sollte ich das jedoch erfahren.

„Jess, ich dachte da auch mehr an eine Art Gruppentherapie. In der Kreisstadt wird so etwas angeboten."

„Woher weißt du das denn?" Mein verblüffter Gesichtsausdruck reizte sie zum Lachen.

„Ich bin deine beste Freundin und ich werde alles dafür tun, dass es dir besser geht. Eine gute Bekannte hat mir erzählt, dass es so eine Gruppe gibt, die sich zweimal pro Woche zusammenfindet, um gemeinsam über ihre Probleme zu reden. Das kann ganz unterschiedliche Bereiche betreffen, also nicht jeder ist gehbehindert. Vielleicht solltest du dich einfach mal dazugesellen. Ich würde dich auch hinbringen und wieder nach Hause fahren. Und wenn es dir nichts bringt, brauchst du dort nicht wieder aufzukreuzen. Aber es wäre so toll, wenn du es zumindest einmal versuchen würdest."

Jetzt musste ich schlucken, denn Anne schien sich wirklich große Sorgen um mich machen. Ihr lag viel daran, dass sich meine Psyche verbesserte, sie war eine wirklich gute Freundin.

Ich dachte zwei Sekunden nach, atmete tief durch und sagte dann: „Ich werde es mir überlegen, ok?"

Nun umarmte sie mich vorsichtig. „Das ist toll von dir, Jess!"

Wir verbrachten einen wunderschönen Nachmittag auf der Terrasse zusammen, mit viel Kuchen essen, unsinnigen Gesprächen und verabschiedeten uns am frühen Abend mit dem Versprechen, uns bald wieder zu sehen.

Nachdem Anne gegangen war, rollte ich zurück in mein Zimmer, um mich unverzüglich vor den Laptop zu setzen. Meine Augen leuchteten beim Lesen der E-Mail Adresse [email protected], welche in meinem Posteingang auftauchte. Nun konnte mich nichts mehr davon abhalten, in eine andere Welt abzutauchen. Umso enttäuschter reagierte ich, als ich die wenigen Zeilen las.

Liebe Jess,
ich habe gerade deine E-Mail gelesen und werde dir später ausführlich antworten, da ich im Augenblick noch anderweitig beschäftigt bin.

Alles Liebe, NJ

Doch dann realisierte ich, wie liebenswert er eigentlich war. NJ teilte mir sogar mit, dass er im Moment keine Zeit hätte, um eine ausführliche Mail zu schreiben. Das ließ mich wissen, dass ich ihm nicht egal war, dass er genauso darauf wartete mit mir korrespondieren zu können, wie ich das tat. Nun blieb mir nichts anderes übrig, als stündlich meine E-Mails abzufragen, in der Hoffnung, dass er bald antworten würde.

Der Abend zog sich wie Kaugummi dahin, so sehnsüchtig wartete ich auf ein Lebenszeichen von ihm, rollte ständig zwischen Bett und Schreibtisch hinterher, bis ich es fast nicht mehr aushalten konnte. Meine Erlösung trat allerdings erst um ein Uhr nachts ein, als endlich die nächste E-Mail folgte.

Liebe Jess,
nun muss ich mich wohl entschuldigen, weil es so lange gedauert hat, bis ich zurückschreiben konnte. Du hast gerade die Schattenseiten meines Berufes kennengelernt, denn dieser ist oft hektisch und unberechenbar. Vorhin musste ich einer Besprechung beiwohnen und heute Abend muss ich auch noch arbeiten. Aber die Zeit, die ich nun zur Verfügung habe, möchte ich nutzen, um dir zu antworten.

Oh Gott, er war ja so süß! Schnell las ich weiter, um ja nichts zu verpassen.

Ich hoffe, die Geburtstagsfeier von deinem Bruder war schön, womit wir gleich bei deiner ersten Frage angelangt sind. Ich habe auch einen Bruder, allerdings einen älteren. Er ist verheiratet und hat einen Sohn, der mein Patenkind ist. Ich liebe den Kleinen über alles und bin manchmal traurig, weil ich ihn nicht so oft sehen kann, wie es gerne möchte.

Mein Gesicht überzog sich mit einem strahlenden Lächeln, als ich diese Zeilen verschlang. Er hatte ein Patenkind, einen kleinen Jungen, was ich unglaublich toll fand. Seiner Äußerung nach zu urteilen schien er ihn sehr zu vermissen, was mir erneut zeigte, wie liebenswert er wirklich war. Gespannt folgten meine Augen erneut dem Text.

Du hast absolut Recht, dass ich keine Freundin habe liegt zum größten Teil an meinem Beruf. In Puncto Beziehungen, denke ich genauso wie du: Treue steht an erster Stelle und ich liebe entweder ganz oder gar nicht, also auch nur mit ganzem Herzen. Außerdem sollte man einen Menschen nicht nach seinem Aussehen beurteilen, sondern nach seinem Charakter.

Ich wette, wenn du vorher gewusst hättest, welch schlechten Charakter Tim hat, wärst du nie mit ihm zusammen gekommen. Aber hinterher ist man immer schlauer. Diese Erfahrung musste ich auch schon machen, denn meine Ex-Freundin hat wegen einem anderen mit mir Schluss gemacht. Mittlerweile finde ich es recht angenehm solo zu sein, was natürlich auch mit meiner Lebenssituation zusammenhängt, aber wie gesagt, wenn mir die richtige Frau über den Weg laufen würde, könnte ich sie nicht so einfach gehen lassen, selbst wenn wir oft räumlich getrennt sein würden.

Er klang so fürsorglich und es tat mir irgendwie leid, dass er auch eine schlechte Erfahrung hatte machen müssen. NJ verdiente das genauso wenig wie ich.

Wie geht es deinen Beinen heute? Beim Versuch mir vorzustellen, wie sich dieses Kribbeln wohl anfühlt, bin ich zur Überzeugung gekommen, dass es bestimmt wahnsinnig unangenehm sein muss. Vielleicht interessiert es dich zu erfahren, dass ich Anfang letzten Jahres eine recht schwere Knie OP hinter mich bringen musste, um meine Arbeit fortführen zu können. Allerdings habe ich mir das Knie beim Fußballspielen kaputt gemacht und nicht bei einem Autounfall. Meine Kniescheibe sprang in einem Jahr sage und schreibe acht Mal heraus, was mich regelmäßig vor Schmerzen fast die Decke hochgehen ließ. Aber nun ist alles gut, ich werde nur nie wieder Fußball spielen, weil ich es nicht riskieren will, nochmals eine Verletzung zu kassieren. Stattdessen spiele ich in meiner Freizeit Golf, das belastet das Knie sehr viel weniger, außerdem hält man sich an der frischen Luft auf, was mir gut gefällt. Ich mag es, wenn einem der Wind um die Nase weht. Ich wette, du bist überrascht, die Sache mit dem Knie zu lesen, oder?

Und ob ich überrascht war! Es interessierte mich sogar brennend, welche Art der Knieoperation er wohl hinter sich gebracht hatte. Die Kniescheibe musste auf jeden Fall fixiert worden sein, um sie an dem ständigen Herausspringen zu hindern.

Kommen wir nun zu etwas angenehmeren Dingen. Deine Frage zu Katy Perry kann ich sehr leicht beantworten. Ich habe sie bereits mehrere Male getroffen und muss zugeben, dass sie ein sehr netter, liebenswerter und vor allem lustiger Mensch ist, der gerne lacht. Sollte sie mir demnächst zufällig über den Weg laufen, werde ich versuchen, ein Autogramm für dich zu ergattern, wobei wir allerdings noch verhandeln müssten, wie deine Gegenleistung hierzu aussieht.

Nein, ich möchte noch immer keine Nacktbilder von dir sehen, denn ich bin wirklich kein Perversling. Aber wie wäre es, wenn du mir ein Foto von deinen ersten Ballettschuhen schickst? Ich denke, die hast du bestimmt aufgehoben, oder? Sie sehen wahrscheinlich sehr süß aus, weil du damals vermutlich winzige Füße hattest. Welche Schuhgröße hast du eigentlich? Ich trage Größe acht, habe also ziemlich kleine Füße für einen Mann.

Ich musste lächeln, denn auch ich besaß relativ kleine Füße. Er wollte also ein Foto von meinen Ballettschuhen sehen, als Gegenleistung für ein Autogramm von meiner Lieblingssängerin. Anne würde vermutlich ausflippen, wenn ich ihr jemals davon erzählen sollte. Meine Nachdenklichkeit schlug binnen kürzester Zeit in einen Heiterkeitsausbruch um, als ich die nächsten Worte verinnerlichte.

So, meine liebe Jess, kommen wir nun zu deiner Frage/Aussage, dass du verborgene Dinge von mir entdecken möchtest. Ob ich es dir gestatte, diese zu entdecken, liegt einzig und alleine an dir. Wie weit möchten wir bei unserem Kennenlernen gehen? Keine Angst, ich meine damit nicht, dass du unter meine Bettdecke schauen sollst, sondern, vielleicht ein bisschen in mein Inneres. Du hast mir dein Herz geöffnet, was ich sehr zu schätzen weiß und ich glaube, ich könnte dir auch alles anvertrauen, was mich bedrückt. Ich würde mich freuen, wenn du an einer intensiven online Brieffreundschaft interessiert wärst, denn ich mag dich wirklich gerne und würde unsere E-Mails sehr vermissen.

Mein Herz schlug schneller, ich war wahnsinnig aufgeregt, als ich diese Zeilen ein zweites Mal las. Er fühlte genau das Gleiche wie ich! Das war kein Zufall, wir sollten uns im Internet finden!

Weiterhin möchte ich dich wissen lassen, dass es mir ganz genauso geht wie dir, was unsere Kommunikation betrifft. Ich denke auch, dass wir so ziemlich auf einer Wellenlänge schwimmen, denn deine virtuelle Umarmung hat auf jeden Fall ganz toll geklappt! Schickst du mir noch mehr davon?

Ich sah das Zwinkern seiner blauen Augen förmlich vor mir, als ich diese Frage las. Doch NJ konnte ganz beruhigt sein, ich würde ihm so viele virtuelle Umarmungen senden, wie nur möglich. Schließlich profitierte ich auch davon, da es sich um einen Austausch handelte, den wir erfolgreich praktizierten.

Du sprachst in deiner letzten Mail von zwei Kaninchen, ich hatte eine Katze als Haustier, sie trug den Namen Jess. Bitte lach nicht, das ist die Wahrheit. Leider ist sie 2013 gestorben. Ich liebe Katzen, denn es sind sensible Tiere, mit denen man super gut kuscheln kann. Du hast es schon richtig erkannt, ich bin eher der Kuscheltyp, auch wenn viele das nicht vermuten. Die meisten Frauen denken, dass ich ein Aufreißer bin, nun vielleicht bin ich das manchmal, aber nicht, wenn ich wirklich Interesse an einer Frau habe, also wenn es auf eine ernsthafte Beziehung hinauslaufen soll.

Seine schonungslose Ehrlichkeit haute mich mal wieder um und bewirkte, dass sich eine grenzenlose Neugierde in mir aufbaute, was das Thema Frauen und NJ anging. Ich musste ihm unbedingt einige Fragen diesbezüglich stellen. Das seine Katze so hieß wie ich, fand ich im ersten Augenblick komisch, andererseits sprach nichts dagegen, eine Katze Jess zu nennen. Mein voller Name lautete Jessica, Jess war nur die Abkürzung, die meine Familie und Freunde verwendeten. Nun führte ich mir die letzten Zeilen zu Gemüte.

Du denkst also, dass ich ein toller Mensch bin? Dieses Kompliment gebe ich gerne an dich zurück. Du bist so liebenswert, was es für mich noch schwerer macht zu verstehen, warum Tim dir so etwas angetan hat. Es sieht wohl so aus, als würden wir beide wohl noch eine ganze Weile auf unsere Traumpartner warten müssen. Das Gute daran ist, dass wir in dieser Zeit ganz viele E-Mails schreiben können.

Ich freue mich schon darauf, wieder etwas von dir zu hören und wünsche dir eine gute Nacht. Schlaf schön!

Alles Liebe, NJ

P.S.: Hast du das Schokoladeneis inzwischen vernichtet?

Das Schokoladeneis hatte ich total vergessen! Es lag noch immer in der Gefriertruhe im Keller, was mich unheimlich fuchste, denn ich konnte keine Treppen steigen, um meine Sucht zu befriedigen. Zum ersten Mal seit langer Zeit wünschte ich mir, wieder laufen zu können. Nur, um an dieses verdammte Eis herankommen zu können, nur deswegen! Aufmerksam hob ich meinen Kopf, als ein Geräusch aus dem Nachbarzimmer ertönte. Malcolm schien noch wach zu sein und das war meine Rettung. Schnell griff ich nach meinem Handy, um eine Nachricht per Whatsapp zu verschicken.

Holst du mir bitte Schokoladeneis aus dem Keller? Ich hab dich lieb, Jess

Sekunden später hörte ich, wie seine Zimmertür aufging und Schritte, die in Richtung Keller liefen. Meine Augen leuchteten vor Freude, als mein Bruder kurze Zeit später in mein Zimmer geschlichen kam, um mir die Packung Schokoladeneis nebst einem Löffel in die Hand zu drücken.

„Lass es dir schmecken, Jess."

Er zwinkerte und verschwand, nachdem ich ihm ein „Danke, du bist der Beste", zugerufen hatte.
Nun konnte ich anfangen zu schreiben und nebenbei das Eis verdrücken. Als meine Finger über die Tastatur flogen, fühlte ich mich frei und unbeschwert. Es war NJ, der dieses Gefühl in mir auslöste. Er hatte mich nur aus diesem Grund gefunden.
______________________
Wie findet ihr Annes Vorschlag, dass Jess eine Art Selbsthilfegruppe aufsuchen sollte?
Und wie gefällt euch die weitere Entwicklung zwischen Niall und Jess?
LG, Ambi xxx


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top