09. Virtual embrace

Niall

Der Tag in San Francisco verging wie im Flug. Nach einer verspäteten Landung und einem Herumgeschleiche im Stau zu unserem Hotel, checkten wir schnell ein und wurden anschließend sofort von unserem Tourmanager zusammengetrommelt. Er wies ausdrücklich darauf hin, dass wir um zwei Uhr nachmittags abmarschbereit zu sein hätten, da es dann zum Soundcheck gehen würde. Somit würde mir nicht viel Zeit bleiben, um mich mit Kelly zu beschäftigen, die in einer halbe Stunde eintreffen würde.

Sie hatte mir nämlich gerade eine Nachricht zukommen lassen, während der Tourmanager uns noch zu laberte. Gelangweilt spielte ich mit meinem Handy und schaute nach, ob Jess vielleicht schon geantwortet hatte. Da dies nicht der Fall war, ließ ich das Handy wieder in der Hosentasche verschwinden, damit meine Bandkollegen endlich mit ihrem fiesen Grinsen aufhörten.

Als Zayn die Buchstaben NJ stumm mit seinen Lippen formte, hätte ich ihm am liebsten eine reingehauen. Sie würden nicht aufhören, mich zu nerven, ich wusste es und konnte nichts dagegen unternehmen, was mich rasend vor Zorn werden ließ. Konnten sie sich nicht einmal um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern? Inbrünstig betete ich, dass diese Zusammenkunft sich gleich dem Ende zuneigen würde, damit ich schnell meine Suite aufsuchen konnte, doch leider dauerte es gerade heute ein wenig länger als gewöhnlich.

Dann, nach weiteren endlosen zehn Minuten entließ der Tourmanager uns endlich aus seiner Obhut. Wie von einer Tarantel gestochen sprang ich auf, verließ das Besprechungszimmer und rannte förmlich in Richtung meiner Suite. Dort angekommen, holte ich mein Handy hervor, um eine Nachricht von Kelly zu erblicken.

"Sitze in der Hotelbar und warte auf dich."

Auch das noch! Heute geriet ich irgendwie mächtig ins Schwitzen, zumal es mir gerade wichtiger erschien, meine E-Mails zu checken, als Kelly zu bitten, nach oben zu kommen. Leider hatte Jess noch immer nicht geantwortet, doch ich ging davon aus, dass ich bald eine neue E-Mail von ihr empfangen würde.

Ich stieß ein kurzes Seufzen aus, bevor ich Kelly anrief.

„Du kannst hochkommen, Zimmer 5425", sagte ich kurz und knapp.

Es dauerte keine fünf Minuten, da stand die Blondine lächelnd vor meiner Tür. Schnell zog ich sie hinein, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und streichelte kurz über ihren knackigen Po.

„Leider haben wir nicht viel Zeit, wir müssen gleich zum Soundcheck", erklärte ich sofort, was Kelly mit einem Nicken zur Kenntnis nahm.

„Ich habe gehört, dass ihr ziemlich spät dran seid", bemerkte sie und zwinkerte mir zu. „Dafür haben wir eine lange Nacht vor uns, Nialler."

Die hatten wir weiß Gott wirklich, denn nach dem Konzert stand absolut nichts mehr an, außer meinen Adrenalinspiegel abzubauen, was mir mit Kellys Hilfe ziemlich gut gelingen würde.

„Wir müssen in einer halben Stunde los, das reicht gerade noch, um schnell etwas zu essen", beschwerte ich mich, worauf Kelly nur lachte.

Sie kannte meine Vorliebe für das Essen genau.

Mit einer großen Pizza im Magen und Kelly im Schlepptau tauchte ich pünktlich in unserem Besprechungszimmer auf, wo man uns in drei Gruppen aufteilte. Es ging mehr oder weniger darum, wer in welchem Wagen sitzen würde, da wir aus Sicherheitsgründen immer mehr als einen benutzten. Kelly durfte den Security Leuten in einem der schwarzen SUVs Gesellschaft leisten, was ihr außerordentlich gut gefiel. Ich hingegen teilte die Rückbank mit Harry, der sich darüber ausließ, wie müde er sei und, dass wir nicht einmal dazu gekommen wären, uns vor dem Konzert nochmal kurz hinzulegen. Eigentlich hätte ich auch gerne noch ein Nickerchen gemacht, doch das musste heute leider ausfallen.

Zum Glück wurden wir immer putzmunter, sobald wir auf einer Bühne standen und dem Publikum einheizten. Selbst während des Soundchecks spürte man nichts mehr von unserer vorangegangen Müdigkeit, vielmehr kam nun unsere Vorfreude auf das Konzert durch.

Im Anschluss an die Proben durften wir noch ein bisschen im Backstage Bereich umhertollen, wie wir es eigentlich immer taten. Kelly war selbst hierbei eine geduldige Zuschauerin und lachte, als ich auf einem Segway an ihr vorbei fuhr, natürlich nicht ohne zu winken.

Irgendwann sammelte die Crew uns ein, weil wir zum Stylen bei Lou antreten sollten. Wie immer drehte sich die Diskussion darum, wer das erste Opfer sein durfte, denn die anderen konnten sich so lange noch entspannen. Üblicherweise wurde das ausgelost und auch heute verzichteten wir nicht darauf.

Dieses Mal traf es Zayn als Ersten, der sich seufzend in die Hände unserer Stylistin gab, während der Rest sich auf einem großen Sofa und mehreren Sesseln herumlümmelte. Kellys Kopf lag in meinem Schoß, mit ihrer langen, blonden Mähne sah sie fast aus wie Rapunzel. Nur alleine diese Vorstellung brachte mich so sehr zum Lachen, dass Liam, Harry und Louis erstaunt aufsahen. Ich behielt jedoch meine Gedanken bei mir, zuckte nur mit den Schultern und flüsterte Kelly dann ins Ohr: „Lass mich bitte aufstehen, ich muss mal für kleine Jungs."

In Wahrheit wollte ich nur ungestört meine E-Mails checken, was natürlich keiner wissen sollte. Langsam schlenderte ich unauffällig in Richtung der Toiletten, um sofort mein Handy hervorzuholen und dann eine raschen Blick auf das Display zu werfen.

Es war noch immer keine E-Mail von Jess zu sehen, was mich traurig werden ließ. Nachher würde ich auf der Bühne stehen und nicht in der Lage dazu sein, meinen Email Account aufzurufen. Irgendwie regte mich das auf, denn ich wollte Jess' E-Mail sofort lesen und möglichst zeitnah darauf antworten. Aber heute schien das nicht zu klappen, jedenfalls verließ ich einige Minuten später das stille Örtchen, ohne eine E-Mail erhalten zu haben.

Vielleicht war das auch besser so, denn im Moment wäre ich sowieso nicht in der Lage gewesen, darauf zu antworten, da mein Lampenfieber sich langsam aber sicher bemerkbar machte. Trotz fünfjähriger Erfahrung im Showgeschäft ließ sich dieses einfach nicht abstellen, vermutlich würde ich für den Rest meines Lebens damit zu kämpfen haben. Das Schöne an der ganzen Sache war jedoch, dass es sich verflüchtigte, sobald ich auf der Bühne stand, um für unsere Fans zu singen.

Kurz nach meiner Rückkehr in den Backstage Bereich verabschiedete sich Kelly, da sie ihren Platz im Stadion einnehmen wollte.

„Mach's gut Nialler, wir sehen uns später", raunte sie mir ins Ohr, was ich mit einem breiten Grinsen quittierte.

Harry war der Nächste, der Lou zum Opfer fiel. Es war gar nicht so einfach, seine immer länger werdenden Haare zu bändigen. Ich selbst stand nicht wirklich auf lange Haare, zumindest nicht bei Männern, aber das war schließlich seine Sache. Direkt nach Harry kam ich an die Reihe, dann Louis und zum Schluss Liam.

Zwischendurch riskierten Louis und ich einen Blick in die Arena, die wie ein Hexenkessel brodelte. Ich fragte mich oft genug, wie wir es schafften, ein komplettes Stadion in eine derartige Euphorie zu versetzen, doch unser Fans erstaunten uns immer wieder aufs Neue, wenn es um solche Dinge ging.

„Noch zehn Minuten bis zum Auftritt", hörten wir unseren Tourmanager brüllen, der sicher gehen wollte, dass wir auch alle anwesend waren.

Liam zog sich gerade eine ärmellose Jeans Weste über, bevor er sich zu uns gesellte.

„Ich wäre dann soweit", meinte er grinsend.

„Ok, dann lasst uns noch Eine rauchen gehen", bestimmte Louis.

Das Management sah es zwar nicht gerne, wenn wir mit unseren Glimmstängeln im Hals herumspazierten, doch das interessierte uns einen Scheiß. Wir waren schon lange volljährig und ließen uns dementsprechend auch keine Vorschriften mehr machen. Lockenköpfchen war der Einzige, der nicht rauchte, doch er leistete uns trotzdem Gesellschaft.

„Noch fünf Minuten!", ertönte nun die tiefe Stimme unseres Tourmanagers erneut.

„Gleich wird es ernst", meinte Zayn grinsend.

Ich spürte wie mein Lampenfieber langsam seinen Höhepunkt erreichte, das war kurz vor den Auftritten immer so, doch gleich würde es vorbei sein. Und zwar in jenem Moment, in welchem ich auf der Bühne stehen und das Publikum sehen würde.

„Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, null!"

Nachdem wir alle die Zahlen hinuntergezählt und dabei unsere Hände aufeinandergelegt hatten, ging es los. Wir stürmten die Bühne und eröffneten die Show mit dem Titel Clouds, einem Song aus unserem aktuellen Album FOUR.

Das Publikum feierte uns von der ersten Sekunde an, wie sie es immer taten. Ich sah die Mädels in den vorderen Reihen weinen, kreischen und manche fielen sogar um, was mir echt leid tat. Da zahlten sie schon die horrenden Preise für eine Eintrittskarte und mussten dann rausgetragen werden, weil sie vor Aufregung hyperventilierten.

Ich würde es wohl nie verstehen, dass man uns so viel Bedeutung beimaß, schließlich waren wir ganz normale, sterbliche Jungs, die ein bisschen singen konnten und Spaß daran hatten, auf der Bühne zu stehen. Und diesen Spaß lebten wir auch am heutigen Abend aus. Wir drehten richtig auf und zwar bis zum Schluss, was die Fans uns in jeder Hinsicht dankten.

Als das Konzert vorüber war, rannten wir in Richtung Bus, der uns zum Hotel fahren würde und zogen uns im Laufen sogar um. Ein klatschnasses T-Shirt trug sich nicht unbedingt angenehm auf der Haut und führte außerdem zu Erkältungen. Schnaufend ließ ich mich auf den Sitz neben Liam fallen und pumpte erstmal eine Flasche Wasser ab. Erst danach normalisierte sich meine Atmung ein wenig. Im Bus herrschte eine ziemlich ausgelassene Stimmung, wie nach jedem Konzert. Wir lachten, alberten herum und zogen Bilanz aus diesem überaus vergnüglichen Abend.

Im Hotel angekommen, stürmten die anderen in die Bar, während ich meine Suite aufsuchte, um auf Kelly zu warten, die jeden Moment eintreffen musste. Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, klopfte es auch schon an.

„Niall, mach auf, ich bin's."

Grinsend öffnete ich der Blondine, zog sie in den Raum und fragte: „Bist du fit, oder hast du dich auf dem Konzert verausgabt?"

„Ich bin total fit!"

Ihr Schlafzimmerblick konnte mich wirklich davon überzeugen, dass ich wohl in dieser Nacht nicht unbedingt zur Ruhe kommen würde. Kelly und ich vergnügten uns mehrere Stunden, mit entsprechenden Pausen, und so lange, bis mein Adrenalinspiegel langsam aber sicher nach unten sackte, was mir einen völlig entspannten Schlaf garantierte.

Als ich am nächsten Tag erwachte, weil das fahle Sonnenlicht sich den Weg durch die Jalousien bahnte, spürte ich, dass mein Kopf ein wenig schmerzte. Ich fühlte mich, als hätte ich die ganze Nacht durchgesoffen, dabei hatten wir nur eine Flasche Champagner auf dem Zimmer geleert.

Schnell kniff ich die Augen zusammen und tastete blind nach meinen Aspirin Tabletten, die gewöhnlich auf dem Nachttisch lagen und die ich für solche Fälle immer parat hatte. Doch ich konnte sie nicht finden und bekam stattdessen mein Handy zu fassen.

Schlagartig wurde mein Gehirn von dem Gedanken an Jess durchflutet. Ich musste unbedingt nachschauen, ob sie mir geschrieben hatte. Vergessen waren die Kopfschmerzen und auch die Tatsache, dass Kelly neben mir im Tiefschlaf lag. Zumindest ließen ihre regelmäßigen Atemzüge das vermuten. Dieses Mal ersparte ich mir den Weg ins Bad, denn ich war so ungeduldig, wenn es um diese E-Mail ging, dass ich keine Sekunde länger warten wollte.

Mein Herz klopfte wie verrückt, als ich die bekannte Adresse [email protected] auf meinem Display erblickte. Jetzt konnte mich nichts mehr davon abhalten, ihre Worte zu lesen.

Lieber NJ,
es tut mir leid, dass meine Antwort so lange gedauert hat, aber mein Bruder hat gestern seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert. Obwohl ich deine Mail noch am Abend gelesen habe, konnte ich nicht sofort zurückschreiben. Zum einen, weil ich der Feier nicht so lange fernbleiben wollte und zum anderen, weil mich deine Worte so sehr aufgewühlt haben, aber im positiven Sinne.

Nun war ich gespannt, was sie damit meinte.

Du kannst dir vielleicht gar nicht vorstellen, was in mir vorging, als ich diese Zeilen gelesen und verinnerlicht habe. Es bedeutet mir sehr viel zu wissen, dass du für mich da sein würdest, sollte ich einen neuen Weg beschreiten wollen, obwohl das im Moment noch eher unwahrscheinlich ist. Aber nur der Gedanke daran, dass es jemanden gibt, der an meinem verkorksten Leben teilhaben möchte, macht mich irgendwie glücklich. Das hört sich jetzt bestimmt total verrückt an, oder?

Um ehrlich zu sein, fand ich das gar nicht verrückt, sondern eher erleichternd. Jess freute sich darüber, dass ich ihr meine Hilfe angeboten hatte, selbst wenn ich diese nur im Internet ausüben konnte. Mein Herz wurde von einer warmen Welle durchflutet, als ich mir ein Mädchen mit braunen Augen und langen, hellbraunen Haaren vorstellte, welches auf Spitzenschuhen über dem Boden schwebte. In jenem Augenblick hätte ich alles dafür getan, ihr das wieder ermöglichen zu können. Ein Schatten fiel nun für einen kurzen Augenblick über mein Gesicht, doch ich las einfach weiter, um zu sehen, was sie noch alles zu sagen hatte.

Deine netten Worte haben mich so sehr aufgebaut, nachdem sie mich erst zum Weinen gebracht haben, was ich dir nicht vorenthalten will. Du sollst nämlich wissen, dass ich genauso ein emotionaler Mensch bin wie du, was uns die Kommunikation natürlich erleichtert. Aber ich glaube, das habe ich dir schon einmal gesagt.

Damit hatte sie absolut Recht und dass ich sie zum Weinen gebracht hatte, berührte mich wirklich sehr. Wie gerne hätte ich Jess in den Arm genommen und sie getröstet! In jenem Moment wünschte ich mir zum ersten Mal, sie irgendwann im realen Leben sehen zu können, nur für einen Tag, um ihr zu zeigen, dass ich wirklich für sie da sein wollte. Doch diesen Gedanken musste ich wohl oder übel verwerfen. Mit einem kleinen Seufzen las ich nun weiter.

Das, was du mir geschrieben hast, fühlt sich wie eine virtuelle Umarmung an, also versuche ich nun, dir eine zurückzugeben.

Wie unglaublich süß war dieses Mädchen? Und warum hatte Tim, dieser Idiot, sie betrogen, als sie ihn am meisten brauchte? Manche Menschen verdienten wirklich einen gewaltigen Tritt in den Hintern! Neugierig las ich nun weiter, um die virtuelle Umarmung von Jess zu genießen.

Du hast mein Herz und meine Seele gestreichelt und wenn ich könnte, würde ich das auch bei dir tun. Also, solltest du ein Problem haben, über das du gerne reden möchtest, scheue dich nicht davor, mit mir darüber zu sprechen. Wie gut es tut, jemanden zum Zuhören zu haben, spüre ich nun aus eigener Erfahrung, die du mich hast machen lassen. Dafür werde ich dir immer dankbar sein.

Sie schaffte es tatsächlich mich sprachlos und emotional werden zu lassen. Ich musste mehrmals schlucken, bevor ich mir die nächsten Zeilen zu Gemüte führen konnte.

Es ist mir völlig unverständlich, dass jemand wie du keine Freundin hat, aber wie du schon sagtest, das hängt mit deinem Beruf zusammen, da du ja sehr viel unterwegs bist. Trotzdem würde ich, wenn ich so einen Freund hätte, längere Trennungen in Kauf nehmen, um mich dann riesig zu freuen, wenn er nach einer langen Reise wieder nach Hause käme. Da ich Treue für eines der wichtigsten Dinge in einer Beziehung halte, würde mein Freund sich auch keine Gedanken darüber machen müssen, dass ich ihn vielleicht betrügen könnte. Wenn ich liebe, dann tue ich das ganz oder gar nicht, dazwischen gibt es nichts. Deswegen war ich auch so enttäuscht von Tims Verhalten, wie du schon bemerkt hast. Und um deine Frage zu beantworten, ich war vier Jahre mit diesem Idioten zusammen.

„Dieses gottverdammte Arschloch", murmelte ich leise vor mich hin und musste kurz darauf ein lautes Lachen unterdrücken.

Du liegst absolut richtig mit deiner Vermutung, dass ich nichts dagegen hätte, wenn du ihm eins überbraten würdest! Nur zu, ich kann dir seine Adresse mitteilen! Er hat übrigens noch nicht geantwortet, der Schlappschwanz!

„Genau, er ist ein Schlappschwanz", murmelte ich grinsend vor mich hin.

Dann wurde ich jedoch ein wenig ernster, als ich die nächsten Zeilen erblickte.

Das Kribbeln in meinen Beinen ist gleich geblieben, also weder mehr, noch weniger geworden. Es irritiert schon gewaltig, um es mal milde auszudrücken, denn ich kann damit nichts anfangen, verstehst du? Entweder möchte ich gar nichts spüren oder das volle Programm, aber nicht so ein unangenehmes Gefühl, das dich rasend macht, weil es wie kleine Nadelstiche sind, die sich unter deiner Muskulatur befinden, oder zumindest dort, wo sie sein sollte. Es ist ein dumpfes, komisches Kribbeln, ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll und hoffe, dass es so einigermaßen verständlich ist.

Ich versuchte zumindest, dieses eigenartige Gefühl nachzuempfinden und fragte mich gleichzeitig, ob es wohl wehtat. Vergleichbar mit den saumäßigen Schmerzen direkt nach meiner Knie OP war das sicher nicht, aber es hörte sich trotzdem unangenehm an.

Es muss furchtbar aufregend sein, mit irgendwelchen Stars in Kontakt zu kommen! Das stelle ich mir wahnsinnig interessant vor. Ist dir Katy Perry schon einmal über den Weg gelaufen? Wenn ja, ist sie nett?

Wenn Jess wüsste, dass Katy im weitesten Sinne für meine Karriere verantwortlich war, würde sie sicher ausflippen. Katy hatte mir damals bei X-Factor ein Ja gegeben und mich somit ins Rennen geschickt. Ich würde ihr das nie vergessen aber abgesehen davon, war sie wirklich ein sehr sympathischer Mensch, der gerne lachte. Schmunzelnd verinnerlichte ich nun die nächsten Sätze.

Ich weiß jetzt einiges über dich, zumindest, was das Aussehen angeht und kann mir nun einen 1,80 m großen Typen, mit schlanker, jedoch gut trainierter Figur, blondierten Haaren und blauen Augen vorstellen, doch der Rest liegt noch im Verborgenen. Lässt du es mich entdecken?

Oh mein Gott, diese Anspielung war so herrlich zweideutig, dass ich mich beherrschen musste, um nicht laut aufzulachen. Gleichzeitig formte sich in meinem Kopf ein Satz, den ich unbedingt in meiner nächsten E-Mail loswerden musste. Doch Jess schien ganz genau zu wissen, was sie damit auslöste, denn ihre nächste Aussage traf es auf den Punkt.

Nein, ich meinte damit nicht, dass du dich splitternackt vor mir ausziehen sollst (geht ja auch gar nicht, da wir die Vereinbarung keine Bilder und keine Webcam Sessions getroffen haben). Außerdem möchte ich keine Nacktbilder von dir sehen (nein, ich bin nicht lesbisch, dürftest du ja bereits daran gemerkt haben, dass ich vier Jahre lang mit einem Typen zusammen war). Aber es wäre interessant zu wissen, ob du Geschwister hast und solche Dinge.

Wie ich schon am Anfang meiner Mail erwähnt habe, gibt es da noch Malcolm, meinen jüngeren Bruder. Wir leben zusammen mit unseren Eltern in einem Bungalow, was die tägliche Routine für mich sehr erleichtert, da die einzige Treppe, die es in unserem Haus gibt, in den Keller führt, wo das Schokoladeneis in der Gefriertruhe vor sich hingammelt. Vermutlich nicht mehr lange, denn ich werde meinen Bruder nachher in den Keller schicken, um meine Gier zu befriedigen. Ich habe schon drei Kilo zugenommen, seit ich nicht mehr tanze, aber das juckt mich im Moment nicht, weil ich damit nicht hässlicher bin als vorher.

„Du bist nicht hässlich, Jess", flüsterte ich leise. „Du hast ein wunderbares Herz und eine liebevolle Seele, was dich zum schönsten Mädchen der Welt macht."

Ich ertappte mich dabei, wie ich mein Handy mit verträumtem Gesichtsausdruck streichelte, weil ich mir vorstellte, ihre Wangen zu berühren. Erschrocken fuhr ich hoch, um nach Kelly zu schauen, die noch immer im Tiefschlaf lag und glücklicherweise nichts von meinen wirren Gedanken mitbekam. Hoffentlich schlief sie so lange, bis ich die Mail zu Ende gelesen hatte, was nicht mehr lange dauern konnte.

Früher hatten wir zwei Kaninchen als Haustiere, im Moment haben wir keine, was sich auch nicht ändern wird, da sich niemand um sie kümmern könnte. Mein Bruder beginnt im Herbst mit der Uni und ich bin ziemlich unnütz, was das angeht, da ich weder einen Hund ausführen, noch ein Katzenklo ausleeren kann. Aber ich habe ja meinen Laptop, der mir die Zeit vertreibt.

Vermutlich fragst du dich, warum ich meine E-Mails nicht mit dem Handy beantworte, wie das alle tun. Die Antwort darauf ist sehr einfach. Der Laptop ist mein einziger Grund, um mich jeden Tag aus dem Bett zu quälen, sonst würde ich nämlich gar nicht mehr aufstehen. Seit ich mit dir schreiben kann, hat sich das noch verbessert. Ich stehe jetzt viel früher auf, um nach meiner Post zu sehen und ich würde mich freuen, wenn du mir so schnell wie möglich auf diese Mail antwortest. Ich mag deinen Humor, sowie deinen Schreibstil und deine liebe, fürsorgliche Art, die mir im Moment sehr viel Kraft gibt, obwohl wir uns nicht persönlich kennen. Aber vielleicht muss man das auch gar nicht, um sich zu verstehen. Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass wir beide auf einer Wellenlänge schwimmen. Geht es dir auch so?

Es ging mir ganz genauso, deshalb konnte ich mich mit allem, was sie schrieb, identifizieren. Meine Augen wanderten nun über die letzten Sätze, welche von ihrer Herzlichkeit zeugten.

Ich wollte dir noch sagen, was du für ein toller Mensch bist, und dass du bestimmt irgendwann ein Mädchen findest, die dich um deinetwillen liebt und nicht für das, was du an materiellen Dingen besitzt. Eine, die dein gutes Herz liebt, sie existiert, ich weiß das, ihr müsst euch nur über den Weg laufen, so, wie wir beide uns im Internet begegnet sind.

Hoffentlich konnte ich dir nun eine virtuelle Umarmung zurückgeben, es würde mich freuen, wenn es geklappt hat.

Alles Liebe, Jess

P.S.: Denkst du, du könntest mir irgendwann ein Autogramm von Katy Perry besorgen? Ich würde echt alles dafür tun, naja, fast alles.

Und schon wieder erfüllten sich mein Herz und meine Seele mit einem Lachen, abgesehen davon, dass ihr die virtuelle Umarmung geglückt war. Doch ich konnte ihr nicht sofort zurückschreiben, das musste ich später tun, wenn Kelly verschwunden war, die gerade langsam zu blinzeln anfing.

„Morgen, Niall", murmelte sie lächelnd.

„Guten Morgen, Kelly", erwiderte grinsend. „Hast du gut geschlafen?"

„Ja, bisschen kurz, aber trotzdem hervorragend. Diese Betten in den Nobelhotels sind einfach saubequem", erwiderte sie und versank seufzend in einem der Kissen.

„Ach, das ist also der Grund, warum du mich immer heimsuchst?", zog ich die Blondine lachend auf, worauf sie mir einen Kussmund mit der Hand zuwarf, und sich aus dem Bett erhob, um das Badezimmer aufzusuchen. Nun war ich es, der sich seufzend in das Kissen sinken ließ. Ich wollte Jess so gerne antworten, doch für eine ausführliche Mail blieb mir im Moment keine Zeit, da unsere heutige Besprechung in genau vierzig Minuten stattfinden würde und ich vorher noch duschen und frühstücken musste. Also ich schrieb ihr wenigstens eine kurze Nachricht.

Liebe Jess,

ich habe gerade deine E-Mail gelesen und werde dir später ausführlich antworten, da ich im Augenblick noch anderweitig beschäftigt bin.

Alles Liebe, NJ

Als ich die E-Mail versendete, fühlte ich mich nicht mehr ganz so miserabel, denn ich hatte nun ein Lebenszeichen von mir gegeben. Es war mir wichtig, dass Jess den Eindruck behielt, dass ich mich um sie sorgte, denn das tat ich wirklich. Wir schrieben zwar erst seit einigen Tagen miteinander und doch machte sich das Gefühl in mir breit, dass der Kontakt zu ihr jeden Tag wichtiger für mich wurde. Ich konnte ganz ich selbst sein, und dafür war ich ihr dankbar.

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Danke für die süßen Kommentare, die ihr immer schreibt, sowie die zahlreichen votes!

LG, Ambi xxx


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