08. Under my skin
Jess
Seit ich wusste, dass NJ sich in Kalifornien aufhielt und wir dementsprechend mit acht Stunden Zeitunterschied zurechtkommen mussten, war ich nicht mehr gar so enttäuscht, wenn sich beim stündlichen Abfragen meines E-Mail Accounts noch keine neue Post zeigte. Schließlich verweilte er nicht dort, um seinen Urlaub zu verbringen, sondern, um zu arbeiten. Seine Tage würden, im Gegensatz zu meinen, immer recht schnell vergehen. Doch der heutige Tag bildete eine Ausnahme. Es war Samstag und Malcolms große Party stand an.
Überall im Garten hingen Lampions an den Bäumen, der Grill war auf Hochglanz geschrubbt worden und die Musikanlage in Form von mehreren Boxen und einem iPad, standen geschützt unter dem großen Vordach des Schuppens. Da das Wetter bisher mitspielte, sollte eigentlich nichts mehr schief gehen.
Zur Feier des Tages trug ich ausnahmsweise keine Jogginghose, kombiniert mit einem labbrigen T-Shirt, sondern eine Jeans und eines meiner Lieblingsshirts von Topshop. Malcolms Geburtstagsparty lieferte mir einen Grund, mich mal wieder richtig anzuziehen, denn ich verließ ja sonst kaum das Haus. Die Arztbesuche konnte ich mir sparen und eine Physiotherapie kam sowieso nicht in Frage. So blieb nur noch der Besuch im Supermarkt, den ich hin und wieder meiner Mum zuliebe, doch eher murrend und knurrend, von Zeit zu Zeit hinter mich brachte.
Ich mochte es nicht, wenn die Leute mich mitleidig anstarrten, ich brauchte kein Mitleid, sondern Verständnis. Im Moment gab es nur einen Menschen, der mir dieses geben konnte; mein neuer Freund aus dem Internet. Ich bezeichnete ihn nach dieser kurzen Zeit bereits als Solchen, weil es sich einfach so anfühlte. Wir kannten uns nicht wirklich, waren uns noch nie begegnet, und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich ihm vertrauen konnte.
Als ich um kurz nach zwei am Nachmittag nach meinen E-Mails schaute, und sich noch keine neue zeigte, lächelte ich nur. Er würde zurückschreiben, das wusste ich genau. Aber vermutlich schlief er noch, denn in Kalifornien war es gerade erst sechs Uhr morgens.
„Jess!", hörte ich meine Mutter plötzlich rufen.
„Was ist denn, Mum?"
„Möchtest du noch eine Kleinigkeit essen? Es gibt dann bis zum Abend nämlich nichts mehr."
„Ja, wäre nicht schlecht."
Liebend gerne hätte ich selbst gekocht, doch dafür befand sich der Herd nicht in der optimalen Höhe. Von meinem Rollstuhl aus konnte ich nicht einmal in die Töpfe hineinschauen, geschweige denn, bequem umrühren. Somit fiel diese Aufgabe meiner Mutter zu, welche das jedoch gerne tat. Ihre frischgebackenen Waffeln, die ich kurze Zeit später serviert bekam, waren der Himmel auf Erden.
Seit ich nicht mehr tanzte und mein Dasein in einem Rollstuhl verbrachte, hatte ich schon drei Kilo zugenommen, obwohl mein Appetit oft zu wünschen übrig ließ. Aber es waren diese kleinen, versteckten Zwischenmahlzeiten in Form von Schokolade, Eis oder Kuchen, die dies bewirkten.
Früher achtete ich immer peinlichst genau auf mein Gewicht, dies gehörte zu den Pflichtübungen einer Balletttänzerin, denn der männliche Partner musste das Gewicht in die Höhe stemmen können. Ich hatte nie mehr als 55 Kilo auf die Waage gebracht, das war mein Idealgewicht, mit welchem ich mich auch äußerst wohl fühlte. Nun lag ich drei Kilo drüber, was mich aber nicht wirklich interessierte.
Tanzen befand sich nun außerhalb meiner Reichweite und somit war das Gewicht gänzlich egal. Wahrscheinlich würde ich irgendwann zu einem Frustesser mutieren, wenn das nicht schon der Anfang sein sollte. Immerhin passte ich noch in meine Jeans, die aus Stretch-Material bestand und sich hervorragend dehnte. Doch meine Ballettkleider wären jetzt sicherlich zu eng gewesen.
Nachdem ich die Waffeln verspeist hatte, legte ich mich noch ein wenig aufs Bett und spielte mit meinem Handy. Es dauerte gar nicht lange, und mir fielen die Augen zu.
„Jess! Aufstehen!"
Eine sehr bekannte Stimme riss mich unbarmherzig aus dem Schlaf. Diese gehörte Anne, meiner besten Freundin, die vor meinem Bett stand und mich angrinste.
„Kannst du mich nicht leiser wecken?", beschwerte ich mich, was sie zu einem Lachen reizte.
„Komm, steh auf, die Party geht gleich los."
„Shit, ich muss meine Haare noch ein bisschen stylen!", fluchte ich, worauf Anne nur sagte: „Ich helfe dir dabei, ok? Dann bist du schneller fertig."
Gesagt, getan! Nachdem ich mich aus dem Bett heraus in den Rollstuhl gehievt hatte, rollte ich ins Badezimmer, gefolgt von Anne, die sich sogleich daran machte, meine langen Haare ein bisschen peppiger aussehen zu lassen. Eigentlich wusste ich gar nicht, für wen ich das tat, doch es war Malcolms Geburtstag und da wollte ich mich nicht hängen lassen.
Keine zehn Minuten später betraten wir den Garten, in welchem es schon von Malcoms Freunden wimmelte. Da wir in einem Bungalow lebten, konnte ich ohne Probleme die Terrasse erreichen, und auch der Abgang zum Garten war zum Glück behindertengerecht angelegt. Dies hatten meine Eltern jedoch bereits vor Jahren umbauen lassen, weil es ihnen einfach besser gefiel, über eine kleine Rampe zu laufen, als Treppen steigen zu müssen, was mir nun zugute kam.
Da ich nicht alle von Malcolms Gästen kannte, begrüßte ich auch nur jene, die bei uns ein und ausgingen. Diese Stephanie, von der er mir vorgeschwärmt hatte, zählte allerdings noch nicht dazu. Aber wie ich meinen Bruder kannte, würde sich das bald ändern. Jedenfalls machte er uns miteinander bekannt, kaum dass ich mit Anne den Garten betreten hatte.
„Das ist meine Schwester Jess, von der ich dir schon erzählt habe", stellte er mich vor.
„Jess, das ist Stephanie."
Meine Augen wanderten über ihr niedliches Gesicht, die blauen Augen und das blonde, leicht lockige Haar. Sie sah aus wie ein kleiner Engel und ich hoffte, dass dies auch ihrem Charakter entsprach, denn sollte sie meinem kleinen Bruder das Herz brechen, würde sie mich kennenlernen. Auch wenn ich im Rollstuhl saß, hieß das noch lange nicht, dass ich meine Familie nicht mehr verteidigen konnte. Doch vom ersten Eindruck her schien Stephanie sehr liebenswert zu sein, was mich ein wenig beruhigte. Nachdem Malcolm und seine kleine Freundin sich wieder von uns entfernt hatten, nahm Anne sich einen der Gartenstühle und setzte sich neben mich.
„Wie geht's dir so, Jess?", fragte sie. „Ich habe die ganze Woche nichts von dir gehört."
Das stimmte wirklich. Normalerweise texteten wir fast täglich miteinander, wobei Anne mich in Ruhe ließ, wenn ich nicht antwortete, weil sie dann genau wusste, dass ich wahrscheinlich gerade meine fünf Minuten hatte. Doch in den letzten Tagen waren nicht meine Laune oder gar Depressionen verantwortlich für die Tatsache, dass ich ihr nicht zurückgeschrieben hatte, sondern ein gewisser NJ.
Ich grinste in mich hinein, als ich versuchte mir vorzustellen, was Anne wohl dazu sagen würde. Sie war immer schon ein bisschen vorsichtig gewesen, was das Internet anging, es hatte mich einige Überredungskünste gekostet, bis sie sich einen Skype, Facebook, und später sogar einen Twitter Account zugelegt hatte. Immerhin war sie jetzt soweit, diesen Plattformen einigermaßen zu vertrauen und auch zu nutzen. Trotzdem verkehrten wir meistens über Whatsapp, das ich in den letzten Tagen wirklich vernachlässigt hatte.
„Weißt du, Anne, ich war beschäftigt", gab ich nun zur Antwort, was meine beste Freundin mehr als nur erstaunt aufsehen ließ.
Sie zog ihre Augenbrauen nach oben und stieß ein: „Beschäftigt mit was?", hervor, das mich zum Lachen reizte.
„Komm mit und ich erzähle es dir", meinte ich spontan.
Ich war gerade auf dem Trip, mir ein wenig in die Karten schauen zu lassen, zumindest von ihr. Meiner Familie durfte ich diese Dinge keineswegs mitteilen, sie würden vermutlich ausflippen vor Sorge, und mich vor dem bösen, unbekannten Sexualtäter warnen, der sich hinter dem Pseudonym NJ verbarg. Nun war ich auf Annes Reaktion gespannt, die hoffentlich nicht ganz so schlimm ausfallen würde.
Gemächlich rollte ich in Richtung meines Zimmers, Anne durfte neben mir herlaufen, ich hatte ihr nämlich von Anfang an verboten, meinen Rollstuhl zu schieben. Dort angekommen, öffnete ich die Tür und Anne schloss diese hinter sich. Jetzt waren wir vollkommen ungestört, niemand konnte uns zuhören.
„Also", begann meine beste Freundin, die sich auf meinem Bett niedergelassen hatte und mich neugierig musterte. „Mit was hast du deine Zeit verbracht?"
„Ich habe jemanden kennengelernt", platzte es aus mir heraus.
„Was?!"
Sie starrte mich an, als sei ich eine Außerirdische, worüber ich schon wieder lachen musste.
„Wie bitte willst du jemanden treffen, wenn du nie aus dem Haus gehst?", fragte sie erstaunt.
Lässig stützte ich meine Hände auf den Armlehnen des Rollstuhls ab, um dann zu sagen: „Ganz einfach, im Internet."
Genüsslich beobachtete ich, wie sich ihr hübsches Gesicht mit den grünen Augen leicht rötlich färbte, was einen ausgesprochen guten Kontrast zu ihrem schwarzen Haar bildete.
„Jessica Meyers, das ist ja wohl das Dümmste, was ich jemals gehört habe!", keuchte sie.
„Wieso ist es dumm? Sag mir einen Grund, warum ich nicht mit einem 21jährigen Typen schreiben soll, der blaue Augen hat, in London lebt und zurzeit in den USA arbeitet?!"
„Und du glaubst diesen Schrott, den er dir auftischt? Das ist bestimmt ein gestörter Perversling, der dich irgendwann bitten wird, Bilder von dir an ihn zu schicken, an denen er sich dann aufgeilen kann! Jess, wie naiv bist du eigentlich?"
Ihre Reaktion war viel schlimmer, als ich es mir je hätte ausmalen können.
„Hast du mit ihm geskypt?", wollte sie nun wissen.
„Nein, wir haben ein Vereinbarung getroffen", erwiderte ich ruhig.
„Und die wäre?"
„Keine Skype Sessions, keine Fotos, nur schreiben."
Mit einem lauten Seufzen erhob sich Anne von meinem Bett. „Jess, ehrlich, die ganze Sache stinkt zum Himmel! Er will dich sicher einwickeln, bis du so viel Vertrauen zu ihm gefasst hast, dass du ihm auch Bilder schicken wirst."
Eigenartigerweise machte sie mich mit ihren Aussagen ziemlich wütend und so goss ich noch Öl ins Feuer, indem ich sagte: „Eigentlich würde ich schon gerne wissen, wie er aussieht. Bestimmt sind seine blauen Augen der Hammer!"
„Jess!" Sie fauchte meinen Namen regelrecht. „Hör auf damit, das ist kein Spaß!"
„Ach komm schon, Anne, es kann doch gar nichts passieren! Er kennt weder meinen vollen Namen, noch weiß er wo ich wohne."
Resigniert schüttelte sie nun ihren Kopf. „Dir ist echt nicht mehr zu helfen. Du weißt doch, das man das ganz leicht herausfinden kann, oder? Du bist viel zu sorglos, was diese Dinge angeht", wies sie mich zurecht.
„Schon möglich, aber während ihr alle zur Arbeit oder studieren geht, sitze ich hier den ganzen Tag herum und langweile mich. Und mit NJ zu schreiben ist eine nette Abwechslung. Er ist witzig und scheint nicht auf den Kopf gefallen zu sein", versuchte ich sie zu besänftigen.
Doch das zählte für Anne wohl nicht, jedenfalls stellte sie mir plötzlich eine Frage, die mich fast auf die Palme brachte.
„Darf ich mal lesen, was er so geschrieben hat?"
„Was?! Nein, das ist meine Privatsache!", erklärte ich in einem sehr bestimmenden Tonfall.
Ich wollte nicht, dass irgendjemand diese E-Mails las. Jedes seiner Worte war ein Geschenk an mich, das ich ganz bestimmt mit niemandem teilen wollte. Auch nicht mit meiner besten Freundin, die sowieso nicht zu verstehen schien, was diese Sache für mich bedeutete.
Ich konnte den Kontakt zu einem Menschen aufrecht erhalten, ohne irgendwohin laufen zu müssen, oder jemanden drum zu bitten, mich vielleicht mit dem Auto zu seinem Haus zu bringen. Die Möglichkeit mit ihm zu schreiben, räumte mir eine gewisse Freiheit und Unabhängigkeit ein, welche ich nicht verlieren wollte.
„Warum hast du es mir dann erzählt, wenn du mich nichts darüber preisgeben willst?", versuchte Anne mich umzustimmen.
„Weil ich dachte, dass du mich verstehen würdest", antwortete ich leicht bissig.
Sie kreuzte nun die Arme vor ihrer Brust und meinte: „Scheinbar tue ich das nicht."
Damit war unser Gespräch am Ende angelangt, zumindest machte Annes Verhalten das ziemlich deutlich. Sie verließ nämlich mein Zimmer und rief mir über die Schulter zu: „Ich will dir nur helfen, Jess."
„Du hast keine Ahnung, was Hilfe bedeutet", murmelte ich leise, nachdem sie gegangen war.
Da ich mich im Moment nicht in der Lage dazu fühlte, nach draußen zu gehen und weiterhin an der Geburtstagsfeier teilzunehmen, rollte ich nun in Richtung Laptop. Wie in Trance öffnete ich die Seite zu meinem E-Mail Posteingang und als ich den Namen [email protected] erblickte, begann mein Herz schneller zu schlagen.
Aufgeregt begann ich zu lesen und tauchte sofort ab, in eine andere Welt.
Liebe Jess,
ich bin unglaublich froh, dass du mir nicht böse bist und muss gestehen, dass ich die Befürchtung hatte, du würdest mir nicht mehr zurückschreiben. Umso erleichterter war ich, als ich deine Mail lesen konnte.
Auch kann ich gut verstehen, dass du auf gewisse Fragen, die ich dir gestellt hatte, noch keine Antwort parat hast. Immerhin konnte ich dich wohl zum Nachdenken anregen, was vielleicht gar nicht so schlecht ist.
Es war keineswegs schlecht, denn seitdem dachte ich ständig über diese Dinge nach. Vielleicht würde ich auch eines Tages eine Antwort finden, doch das stand zum jetzigen Zeitpunkt wohl eher in den Sternen. Neugierig las ich nun weiter.
Ich würde nun gerne deine Fragen an mich beantworten, und beginne mit den leichtesten, so, wie du das auch getan hast. Passend zu meinen blauen Augen habe ich natürlich blonde Haare, aber Vorsicht, lass dich nicht reinlegen, sie sind von Natur aus nämlich brünett. Ja, ich gebe es zu, ich blondiere sie seit meinem zwölften Lebensjahr und dass, obwohl ich nicht schwul bin. Merkst du was? Haare färben hat nichts mit der sexuellen Neigung eines Menschen zu tun, denn oftmals wird den Männer, die sich die Haare färben, nachgesagt, sie seien homosexuell.
Oh Gott, ich liebte seinen Sarkasmus und seinen Humor so sehr! Er brachte mich schon wieder zum Lachen, obwohl ich mich vor einigen Minuten noch relativ traurig fühlte. Und Anne bildet sich allen Ernstes ein, dass ich den Kontakt zu ihm abbrechen würde, nur weil sie einen Triebtäter dahinter vermutete. Das kam mir so lächerlich vor, dass ich schon wieder den Kopf schütteln musste. Mit einem Grinsen im Gesicht las ich gespannt weiter.
Kommen wir nun zu meinem Körper. Ich bin eins achtzig groß und schlank. Ach ja, ich besitze weder Tattoos, noch Piercings, nicht weil ich etwas dagegen habe, sondern, weil ich zu feige bin. Es könnte ja wehtun! Im Moment treibe ich jeden Tag Sport, und zwar bevor ich zur Arbeit gehe. Es ist so eine Art Fitnesstraining, für jeden einzelnen Muskel, den dein Körper besitzt. Manchmal könnte ich dem Trainer in den Hintern treten, weil ich mich morgens kaum bewegen kann, was auf den tierischen Muskelkater zurückzuführen ist. Aber in ein paar Tagen wird sich das wohl geben und ich werde nichts mehr spüren, so sehr er mich auch malträtiert.
Großer Gott, was für ein Training war das? Auf jeden Fall nichts für Weicheier, das konnte ich mit Gewissheit sagen. Ich hatte noch immer nicht vergessen, wie es sich anfühlte, für das Ballett zu trainieren. Es war ein Knochenjob, was die meisten Menschen gar nicht vermuteten und auch niemals sehen würden. Blutige Zehen, gequetschte Fußballen, gezerrte Sehnen, Muskelkater und jeden Tag die Herausforderung, besser zu sein als die Konkurrenz. So hart würde es zwar für ihn nicht sein, aber jeden Tag eine Art Fitnessprogramm durchzuziehen, zeugte auf jeden Fall von einer gewissen Kontinuität, sowie Disziplin. Dieser Charakterzug gefiel mir überaus gut an ihm.
Aufmerksam befasste ich mich nun mit seinen nächsten Aussagen.
Was meinen Beruf angeht, der ist gar nicht so interessant, wie du vermutest. Eigentlich mache ich jeden Tag das Gleiche, das Schöne ist nur, dass ich mit den unterschiedlichsten Menschen zusammenarbeite, und recht viel von der Welt sehe, da ich in der Musikbranche tätig bin. Manche Stars, die einem über den Weg laufen, gehen einem auf die Nerven, andere hingegen sind sehr nett. Eine richtig gute Anekdote fällt mir auf Anhieb nicht ein, aber sollte ich mich an eine erinnern, werde ich sie dir auf jeden Fall erzählen. Mein Boss, den ich erst wieder im September sehen werde, wenn ich nach London zurückkehre, hält sich gerade nicht in den USA auf, dafür habe ich sehr nette Kollegen. Wir sind ein gutes Team!
Wow! Er arbeitete im Musikbusiness! Das hörte sich toll an, doch Anne hätte davon sicher kein Wort geglaubt. Ich verließ mich jedoch auf mein Gefühl, welches mir unverblümt mitteilte, dass es keinen Grund gab, weshalb er mich anlügen sollte. Denn seine nächsten Worte gruben sich schon wieder tief in mein Herz.
Kommen wir nun zu einem anderen Punkt, nämlich deiner Frage, ob ich das Empfinden habe, dass wir uns bereits länger kennen, als wir dies tatsächlich tun. Für mich fühlt es sich ebenso an, das kann ich dir versichern. Deswegen ist es auch so schön, mit dir kommunizieren zu können und die Tatsache, dass du keinerlei Scheu hast, über gewisse Dinge zu reden, macht es noch einfacher.
Wie geht es deinen Beinen? Ist das Kribbeln immer noch da, oder ist es vielleicht sogar stärker geworden? Ich möchte nicht neugierig wirken, es interessiert mich einfach nur, wie es dir geht, ok?
Er kam überhaupt nicht neugierig rüber, sondern eher fürsorglich, eine Eigenschaft, welche ich ebenfalls sehr schätzte. Was hatte dieser Kerl eigentlich noch alles zu bieten? Als ich den nächsten Satz las, konnte ich es erst nicht glauben, doch irgendwie leuchtete seine Erklärung ein.
Auf deine Frage, ob ich in einer Beziehung lebe, kann ich guten Gewissens mit einem Nein antworten. Mein Job lässt das im Moment gar nicht zu, denn ich reise ziemlich oft in der Welt umher. Das würde eine feste Freundin gar nicht mitmachen (können), da sie ja selbst einem Job nachgehen, oder studieren würde. Im Moment genieße ich also mein Single Dasein, aber wenn mir die Richtige über den Weg laufen sollte, wüsste ich natürlich nicht, ob ich sie dann einfach so gehen lassen würde. Du siehst, jeder von uns beiden hat einen Punkt in seinem Leben, den er noch nicht genau ausbalancieren kann. Bei dir ist es die Sache mit dem Laufen, bei mir ist es die Sache mit einer Freundin.
Ein wenig nachdenklich saß ich nun vor meinem Laptop, als ich diese Worte in mir aufnahm. Irgendwo hatte er verdammt recht. Seine Vergleiche trafen es immer auf den Punkt, was darauf schließen ließ, dass er zwar rationell denken konnte, aber trotzdem die Gefühle nicht auf der Strecke blieben. Auch seine nächste Frage empfand ich durchaus als angemessen.
Wie lange warst eigentlich mit diesem Tim zusammen? Und hat er inzwischen mal geantwortet? Entschuldige, dass ich schon wieder so neugierig bin, aber es nagt ganz schön in mir, was er getan hat. Am liebsten würde ich ihm eins überbraten, sollte er mir mal über den Weg laufen. Ich vermute, du hättest nichts dagegen einzuwenden.
Mein lautes Lachen drang bestimmt bis in den Flur hinaus, doch da sich alle im Garten aufhielten, brauchte ich keine Angst zu haben, dass mich jemand hören würde, und nachsehen wollte, was ich hier so trieb. NJs Vermutung traf 100 Prozent ins Schwarze. Ich fand ihn einfach nur genial!
Leider ging die Email nun zu Ende, und so ließ ich meine Augen über den letzten Absatz schweifen.
Zum Schluss möchte ich dir noch sagen, dass ich es als eine große Ehre empfinde, dass du mit mir über Dinge sprichst, die anderen Menschen verborgen bleiben. Auch ich denke, dass es vielleicht kein Zufall war, dass unsere Wege sich gekreuzt haben.
Es ist schön, mit dir schreiben zu können und ich beantworte nun deine Frage nach meinem Traum. Man könnte sagen, dass ich ihn gerade lebe, denn ich habe mir immer gewünscht, eine Arbeit verrichten zu können, bei welcher ich mit vielen Menschen zusammenkomme, und außerdem die Welt bereisen kann. Ich habe nun beides, was echt ein Glücksfall ist und doch gibt es etwas, was ich irgendwann gerne tun möchte. Mein größter Wunsch ist es, eines Tages eine Frau zu finden, die mich um meinetwillen liebt, so wie ich bin, mit all den Fehlern und Schwächen. Die zu mir steht und der es nicht wichtig ist, wie ich aussehe, oder was ich an materiellen Gütern besitze. Sie soll einfach nur mein Herz und meine Seele lieben. Diese Frau würde ich dann heiraten. Viele Leute würden jetzt denken, dass dieser Wunsch nichts Besonderes ist, aber für mich ist er das schon.
Ich glaube, du verstehst was ich meine, denn du bist von deiner großen Liebe maßlos enttäuscht worden. Gott sei Dank ist mir das noch nie passiert, und ich hoffe, das wird es auch nicht. Ich wüsste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Wie du mit solchen Dingen umgehst, durfte ich ansatzweise spüren, denn deine Mail an Tim hat so einiges über dich ausgesagt. Verstehe es nicht falsch, ich meine damit keine negativen Dinge, nur Positives. Du besitzt noch genügend Energie, etwas aus deinem Leben zu machen, glaube mir. Wahrscheinlich brauchst du nur ein Ziel, welches dich auf einen Weg führt, der vielleicht neu sein mag, aber dennoch so etwas wie Glück in dir auslösen kann. Wenn du es irgendwann versuchen möchtest, lass es mich wissen, ich werde für dich da sein, auch wenn sich meine Anwesenheit nur auf die virtuelle Welt beschränkt.
Ich genieße es mit dir schreiben zu können, und auch Dinge zu besprechen, die mir am Herzen liegen, und ich hoffe, dass wir noch viele E-Mails miteinander austauschen werden.
Alles Liebe, NJ
P.S.: Ich weiß nicht, was ich noch schreiben soll, außer, dass du ein sehr liebenswerter Mensch bist.
Ich konnte nicht verhindern, dass sich Tränen in meinen Augen bildeten, die wie Sturzbäche über meine Wangen liefen. Er war so gefühlvoll, so liebenswert. Er streichelte mein Herz, meine Seele und er gab mir eine virtuelle Umarmung, wie ich sie im realen Leben noch nie hatte spüren dürfen. Ich brauchte ihn im Moment mehr, als alles andere auf der Welt, denn er verstand mich. Es gab nichts, was ich ihm nicht anvertrauen würde, nicht nach diesem Brief.
„NJ", flüsterte ich leise, unter Tränen, „bitte bleib bei mir, bitte geh nie wieder weg. Ich brauche dich so sehr."
Das Schluchzen, welches sich aus meiner Kehle drängte wurde lauter, unkontrollierter, denn er hatte mein Herz, mit seinen liebevoll ausgewählten Worten, total berührt. Die Frage, ob ich ihm zurückschreiben würde, stellte sich überhaupt nicht, ich wollte es später auf jeden Fall tun. Doch nun schloss ich meine Zimmertür ab, um nicht gestört zu werden. Ich wollte alleine sein mit meinen Gedanken an NJ.
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Niall wühlt ganz schön viele Gefühle in Jess auf, oder?
Mochtet ihr das Kapitel und die Entwicklung in diese Richtung?
LG, Ambi xxx
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