06. Deeper

Jess

Es war einer dieser Tage, die nicht vergehen wollten. Nachdem ich die E-Mail an NJ abgeschickt hatte, hoffte ich eigentlich, spätestens am nächsten Morgen eine Antwort zu erhalten, doch nichts dergleichen geschah.

Ich war extra früh aufgestanden, was ich normalerweise nie tat, und überprüfte ungefähr alle zehn Minuten den Postkorb in meinem E-Mail Account. Leider ohne Erfolg, was mich ziemlich wurmte und auch ein bisschen traurig werden ließ. Aber vielleicht hatte er vor dem Beginn seiner Arbeit nicht genügend Zeit gefunden, auf meine Mail zu antworten. Ich konnte ja nicht immer erwarten, dass er sich um fünf Uhr morgens vor seinen Laptop setzte, um einer Person zu schreiben, die er nicht einmal persönlich kannte. Soviel Enthusiasmus würde bestimmt niemand freiwillig aufbringen.

Trotzdem hätte ich es schön gefunden, gleich nach dem Aufstehen etwas Interessantes lesen zu können, das an mich gerichtet war. Eine persönliche E-Mail von einem jungen Mann, der Anteil an meinem Schicksal nahm, obwohl wir uns noch nie begegnet waren. Zumindest nicht in der realen Welt, wohl aber in der virtuellen. Und genau das machte es für mich so besonders.

Langsam aber sicher bewegte ich mich viel lieber in dieser virtuellen Atmosphäre, denn die Realität hatte mir nicht mehr viel zu bieten. Übermorgen würde ich mal wieder ein wenig Gesellschaft haben, denn Malcolm feierte dann seinen Geburtstag mit Freunden. Da meine beste Freundin auch zu den Gästen zählte, lag es klar auf der Hand, dass wir beide zusammensitzen und reden würden. Seit Anne arbeitete, hatte sie leider nicht mehr so viel Zeit wie früher, was ich jedoch nachvollziehen konnte.

All diese Gedanken gingen mir während des Frühstücks durch den Kopf. Nachdem ich aufgegessen hatte, rollte ich zurück in mein Zimmer, direkt auf den Laptop zu, um das zu tun, was ich seit dem Aufstehen ununterbrochen praktizierte: Meine E-Mails abfragen. Doch auch jetzt wurde ein leerer Postkorb angezeigt.

Seufzend schaute ich aus dem Fenster, um eine Amsel zu beobachten, die auf unserer Vogeltränke im Garten saß, um ihren Durst zu stillen. Dieser kleine Vogel konnte so viel mehr als ich; laufen und fliegen. Doch wenn er nicht mehr in der Lage sein würde, sich in die Lüfte zu erheben, weil ihm Beispielsweise ein Flügel fehlte, dann war er auch kein richtiger Vogel mehr. Er konnte dann zwar laufen, doch was nützte es ihm? Diesen Vergleich bezog ich auf mich, mein kaputtes Knie und meine Unfähigkeit, weiterhin dem Tanzen mächtig zu sein.

Als ich genug davon hatte nach draußen zu blicken, rollte ich zu meinem Bett, hievte mich aus dem Rollstuhl und legte mich auf den Rücken, meine Augen zur Decke gerichtet. Meine Arme hinter dem Kopf verschränkt, schloss ich langsam meine Lider und wartete darauf, dass ich wieder einschlafen würde, um diesen verdammten Tag so schnell wie möglich herumzukriegen.

Die Zeit schien stillzustehen und alles um mich herum ergab keinen Sinn. Dieses ganze Leben war sinnlos, ich war zu nichts mehr zu gebrauchen und würde auch nie wieder jemanden finden, mit dem ich vielleicht glücklich sein konnte. Wer wollte schon ein Mädchen im Rollstuhl? Und selbst wenn ich wieder laufen konnte, würde mein Knie für immer kaputt sein. Verdammt, was hatte Tim mir nur angetan?

Ich spürte die heißen Tränen, die meine Wangen hinunter liefen und konnte mein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Heute war wieder so ein Tag, an dem meine Depressionen mich besiegten. Ich wusste es und deshalb kämpfte ich auch nicht dagegen an, weil es zu viel Kraft kostete; Energie, die ich nicht besaß und Hoffnung, die schon lange zerstört wurde.

Beinahe regungslos lag ich auf dem Bett, noch immer mit geschlossenen Augen und wünschte mir, die Zeit zurückdrehen zu können. Dann wäre ich niemals in Tims Auto gestiegen, geschweige denn, hätte ich jemals etwas mit ihm angefangen. Aber hinterher war man immer schlauer, nur änderte es nichts mehr an den schrecklichen Dingen, die geschehen waren, und die alles aus dem Gleichgewicht brachten. In solchen Momenten wünschte ich mir einfach nicht mehr hier zu sein.

Die Zeit verrann, als ich das nächste Mal auf die Uhr schaute, rief meine Mutter gerade zum Mittagessen. Da mein Magen mir vehement zu verstehen gab, dass er mit Nahrung versorgt werden wollte, raffte ich mich letztendlich dazu auf, das Bett zu verlassen. Mein Körper lebte noch, zumindest Teile davon, wenn man von meinen Beinen absah, und er forderte das, was er benötigte, um weiterhin intakt zu bleiben.

Bevor ich aus dem Zimmer rollte, schaute ich jedoch nach, ob vielleicht eine E-Mail eingetroffen war. Es zog mich mächtig runter, dass ich immer noch keine Nachricht bekommen hatte und so klappte ich den Laptop traurig zu.

Da nützte es auch nicht viel, dass meine Mutter uns heute mit meinem Leibgericht verwöhnte: Hühnchen in Currysauce und Reis. Nachdem ich meine Portion aufgegessen hatte, richtete Malcolm eine Frage an mich: „Jess, würdest du mir bitte einen Tipp geben, was ich am Samstag zu meiner Party anziehen soll?"

Wenn er so etwas fragte, steckte aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mädchen dahinter. Grinsend erwiderte ich nur: „Wie heißt sie denn?"

Prompt wurde Malcom rot wie eine Tomate, während mein Grinsen sich immens verbreiterte.
„Stephanie", murmelte er vor sich hin.

In jenem Moment wurde mir bewusst, dass Malcolm total verknallt war, so, wie er gerade reagierte, war das mehr als eindeutig. Es fühlte sich toll an, verliebt zu sein, ich wusste es aus eigener Erfahrung, und wenn derjenige die Gefühle, die man aufbrachte erwiderte, war es umso schöner. Bis man vielleicht irgendwann herausfand, dass die Gefühle des anderen sich einfach in Luft auflösten, sobald Probleme auftauchten.

„Na dann komm, wir schauen mal in deinem Kleiderschrank nach", sagte ich nun.

Unbewusst lenkte mich die Suche nach dem passenden Outfit für meinen Bruder ein wenig von meiner Traurigkeit ab, zumindest so lange, bis ich wieder in mein Zimmer zurückkehrte. Mittlerweile war es kurz nach zwei Uhr, denn Malcom und ich hatten doch länger gebraucht, als ich vermutete, um passende Kleidung für Samstag auszusuchen. Einem inneren Trieb folgend, fuhr ich direkt mit dem Rollstuhl zum Laptop und öffnete ohne darüber nachzudenken den E-Mail Posteingang. Mein Herz klopfte schneller, als ich auf den Absender schaute: [email protected]

Ich konnte nicht fassen, dass er mir doch zurückgeschrieben hatte. Ein leichtes Zittern durchlief meinen Körper, als ich zu lesen begann.

Liebe Jess,

Die veränderte Anrede fiel mir sofort ins Auge. Er hatte Liebe Jess geschrieben und nicht Hallo Jess, wie in den anderen E-Mails. Das klang viel persönlicher und so liebenswert. Gleich noch einmal las ich die Anrede, einschließlich der nächsten Sätze.

Liebe Jess,

es tut mir leid, dass ich dir nicht sofort geantwortet habe, aber ich bin davon ausgegangen, dass du meine E-Mail erst am nächsten Morgen lesen würdest. Da wir beide uns gerade in unterschiedlichen Zeitzonen aufhalten, wartest du vermutlich schon etwas länger auf ein Lebenszeichen von mir. Vielleicht hast du gedacht, dass ich nicht mehr zurückschreiben würde, aber glaube mir, das wird nicht passieren. Dafür sind unsere Gespräche viel zu interessant. Ich muss zugeben, dass es mir manchmal nicht leicht fällt, zu lesen und auch zu begreifen, dass du deinen Traum aufgeben musst, und wie verzweifelt du deswegen bist. Letzteres kann ich überaus gut nachvollziehen, denn mir würde es sicher nicht anders ergehen.

Ich habe nun einige Dinge über dich erfahren, zum Beispiel, dass du Schokoladeneis dem Vanilleeis immer vorziehen würdest. In dieser Beziehung gleichen sich unsere Gaumen wie ein Ei dem anderen. Schokolade wäre auch meine erste Wahl. Oh, und ich hasse Stracciatella!

Und schon wieder brachte er mich zum Lachen, mit so einer profanen Bemerkung wie dieser. Der Junge hatte einfach eine Gabe, meinen Humor heraus zu kitzeln wie kein anderer. Da ich jedoch neugierig war, was er sonst noch zu sagen hatte, las ich schnell weiter.

Ich werde deine Fragen an mich nun in chronologischer Reihenfolge beantworten, damit ich nichts vergesse. Also los geht's. Ich muss dich leider enttäuschen, denn ich bin nicht schwul. Aber vielleicht bist du jetzt auch eher erleichtert, keine Ahnung, wie du zu Homosexuellen stehst. Im Gegensatz zu manch anderen betrachte ich jeden als Mensch, egal, welche sexuellen Neigungen derjenige hat. Ich habe einige schwule Freunde und manchmal gehe ich mit diesen in eine Gay Bar. Es ist eigentlich auch nicht anders, als in einer normalen Bar.

Ich fand es toll, dass er so aufgeschlossen war, ich dachte nämlich ähnlich. Man konnte doch einen Menschen nicht für seine sexuelle Gesinnung verurteilen! Schon immer wehrte ich mich gegen solche Diskriminierungen. NJ wurde mir wirklich mit jeder E-Mail sympathischer. Ich bereute es keine Minute, den Kontakt mit ihm fortgeführt zu haben, im Gegenteil. Er war im Moment der einzige Lichtblick in meinem tristen Leben. Gespannt las ich nun weiter.

Die Tatsache, dass man in den USA erst mit 21 Jahren Alkohol trinken darf, ist mir durchaus bekannt. Schließlich arbeite ich gerade dort. Du hast richtig gelesen, ich befinde mich im Moment in Nordamerika, genauer gesagt in Kalifornien. Somit müssen wir beide mit acht Stunden Zeitunterschied zurechtkommen.

Jetzt sind wir auch schon bei deiner nächsten Frage angelangt. Meine Arbeit ist durchaus interessant, ich komme mit vielen Menschen in Kontakt und reise unglaublich viel umher. Bisweilen ist das Ganze manchmal etwas stressig, doch das nehme ich gerne in Kauf, da ich Spaß daran habe. Und ich finde, Spaß ist einer der wichtigsten Faktoren, damit die Arbeit einen zufriedenstellt. Der Lohn stimmt auch, was will man also mehr?

Meine Arbeitszeiten sind jedoch etwas ungewöhnlich. Oft beginne ich erst nachmittags und arbeite bis elf Uhr nachts, aber es kann auch genauso gut vorkommen, dass ich morgens um acht anfangen muss. Ich werde diesen Job mit Sicherheit nicht bis an mein Lebensende machen, obwohl ich es gerne tun würde. Aber man bleibt nicht immer so jung und irgendwann fordert der Körper etwas mehr Ruhe. Das hört sich jetzt schräg an, oder?

Dies klang keineswegs schräg, jedenfalls nicht für mich. Denn auch ich hätte den Beruf der Prima Ballerina nicht bis ins hohe Alter ausüben können. Irgendwann musste man Platz machen für die jüngere Generation, auch wenn es schmerzlich war. Ganz kurz verfiel ich in einen Hauch von Melancholie, der sich jedoch sehr schnell verflüchtigte, als ich die nächsten Sätze las.

In London zu leben ist wirklich toll, ich möchte es nicht mehr missen und ich kann nachvollziehen, dass es dir auf dem Lande zu langweilig ist. Ich bin nämlich in einer Kleinstadt geboren und aufgewachsen, musste dann aber aus beruflichen Gründen umziehen. Leider halte ich mich nicht so oft und so lange in London auf, wie ich es gerne möchte, da mein Beruf das nicht zulässt, aber eines Tages wird sich das ändern. Und dann werde ich alle Vorzüge dieser Stadt jeden Tag genießen. Vielleicht sitze ich einfach mit einem Schokoladeneis in meiner Hand, auf einer Bank an der Themse, und lasse meine blauen Augen (du fragtest nach meiner Augenfarbe), über das Wasser wandern.

Er hatte also blaue Augen, was mich neugierig auf mehr machte. Wie mochten wohl seine Haare aussehen? Und wie groß war er? Wie sah seine Körperstatur im Allgemeinen aus? Ob er wohl Sport trieb? Diese Fragen bedurften dringend einer Klärung, aber da ich nun mit Schreiben dran war, konnte ich sie alle stellen. Doch zuerst wollte ich seine E-Mail bis zum Ende lesen. Als ich den Balken an der rechten Seite ein wenig mit der Maus nach unten scrollte, stellte ich fest, dass diese noch lange nicht zu Ende war.

Ich glaube, jetzt habe ich alle deine Fragen beantwortet, bis auf eine. Du wolltest wissen, ob ich es mir vorstellen kann, dass du Menschen, die dich lieben und die du liebst, nicht zum Weinen bringen möchtest. Das kann ich sehr gut nachvollziehen, doch vielleicht kannst du dir ebenso vorstellen, dass ich Tränen in den Augen hatte, als ich bestimmte Passagen deiner E-Mail gelesen habe. Alles, was du erlebt hast und durchmachen musst, geht mir sehr nahe, obwohl wir uns noch nie gesehen haben und eigentlich gar nicht kennen.

Das, was ich gerade las, ging mir jetzt verdammt nahe! Er konnte doch nicht meinetwegen weinen, oder? Wir kannten uns nicht, und doch schien eine gewisse Verbindung zwischen uns zu sein. Etwas, was man nicht greifen, aber fühlen konnte. Ich glaubte zu spüren, dass er sich um mich sorgte. Und die nächsten Sätze bestätigten mir das.

Allerdings glaube ich, dass das nicht unbedingt etwas damit zu tun hat, sondern eher mit der Tatsache, dass ich ein emotionaler Mensch bin, der versucht, sich in andere hineinzuversetzen. Ich kann dir nicht wirklich helfen, doch ich kann dir anbieten, dass du zu jeder Zeit mit mir in Kontakt treten kannst und auch sollst. Sicher ist es wichtig für dich, irgendwo alles herauslassen zu können, was dich bedrückt. Also scheue dich nicht davor, deine Wut, deine Angst oder was auch immer auszudrücken, wenn du mir schreibst. Ich werde diese Gefühle aufnehmen, verarbeiten und versuchen, sie dir in einer Form zurückzugeben, die es dir ermöglicht, besser damit umzugehen.

Das hört sich jetzt so schrecklich nach Psychologie an, dass ich fast lachen muss. Ich bin kein Psychologe, sondern ein einfacher Mensch, der nicht mal seine Schule abgeschlossen hat. Trotzdem weiß ich, wo es im Leben lang geht.

Wow! Dass er jetzt so offen mit mir reden würde, hätte ich nicht gedacht, doch fand es total klasse. Dafür, dass er die Schule nicht abgeschlossen hatte, schrieb er verdammt gut und besaß echt den Durchblick. Das beeindruckte mich wirklich sehr.

Aber eigentlich hatte ich schon immer gewusst, dass doofe Schulnoten nichts über einen Menschen aussagten, jedenfalls nichts über seinen Charakter und auch nicht unbedingt etwas über die Intelligenz. NJ schien, soweit ich das nach dieser kurzen Zeit beurteilen konnte, einen tollen Charakter zu besitzen, und alles andere als dumm zu sein. Gespannt wanderten meine Augen nun zu den nächsten Zeilen.

So, liebe Jess, jetzt habe ich dir einiges von mir erzählt und denke, dass ich nun mit dem Fragen an der Reihe bin. Welche Farben haben deine Augen? Und wie groß bist du? Das waren zwei Fragen, die sehr einfach zu beantworten sind, kommen wir nun zum schwierigeren Teil.

Wie würdest du reagieren, wenn du morgen aufwachst und plötzlich deine Beine wieder spüren könntest? Würde dir das Angst einjagen? Ich hätte vermutlich tierisch damit zu kämpfen, jetzt wieder auf meinen eigenen Füßen stehen zu müssen. Vermutlich geht das auch gar nicht so ohne weiteres, da wir Menschen ja so etwas wie Muskeln besitzen, welche sich bekanntlich sehr schnell abbauen, wenn man sie nicht mehr fordert.

Gott, ich konfrontiere dich hier mit Dingen, die wahrscheinlich noch in weiter Zukunft liegen, doch mein Job hat mich gelehrt, dass ein bisschen vorausplanen nicht schadet. Das war jetzt nicht sarkastisch gemeint, ok?

Ich denke einfach, dass dieses Kribbeln, welches du in deinen Oberschenkeln spürst, vielleicht etwas damit zu tun haben könnte, dass deine Nerven langsam beginnen, sich zu erholen. Also solltest du darauf gefasst sein, dass irgendwann wieder Leben in deine Beine einkehrt. Immer wieder stelle ich mir vor, wie du versuchst, die ersten Schritte zu gehen und du kannst mir eines glauben: Ich wäre wahnsinnig gerne dabei und würde deine Hand halten, nur um dir zu zeigen, dass du keine Angst zu haben brauchst. Denn nichts ist unmöglich, wenn man es wirklich will.

Tränen strömten aus meinen Augen, als ich die Worte aufzunehmen begann. Er hatte mich eiskalt erwischt. NJ traf genau meinen wunden Punkt und er wusste es! Er hatte verdammt nochmal begriffen, dass ich mich weigern wollte zu laufen, weil ich keinen Sinn darin sah. Doch er versuchte nun, mich zum Nachdenken zu animieren, es war ein regelrechter Zwang, dem er mich aussetzte.

Zwar stellte er es nicht als Frage in den Raum, die ich ihm beantworten sollte, aber er forderte mich insgeheim auf, mich mit einem Thema zu beschäftigen, welches ich am liebsten weit von mir schieben wollte. Ich konnte nicht mehr tanzen, warum sollte ich dann laufen?

Warum solltest du nicht laufen?

Diese unliebsame Frage manifestierte sich in meinem Gehirn, das ich leider nicht ausschalten konnte. Vermutlich würde ich die ganze Nacht darüber nachdenken, aber zuerst wollte ich seine E-Mail zu Ende lesen.

Es tut mir leid, wenn ich dir jetzt vielleicht zu nahe getreten bin, aber wie gesagt, du kannst mir mitteilen, wenn ich etwas falsch mache. Schließlich bin ich nur ein Mensch und kein Roboter. Ich hoffe nicht, dass du jetzt sauer auf mich bist und wenn, würde ich mich freuen, wenn du trotzdem zurückschreibst und es mir sagst, damit ich die Möglichkeit habe, mich zu entschuldigen.

Eine allerletzte Frage, die du mir gestellt hast, bleibt noch übrig, und zwar, ob ich gerne lese. Ja, das tue ich, nur fehlt mir im Moment die Zeit dazu, ein Buch zu lesen. Mit Sicherheit liegt das aber daran, dass mir unsere E-Mail Korrespondenzen sehr wichtig geworden sind und ich die verbleibende Zeit lieber dafür nutze.

Ich würde mich freuen, bald wieder etwas von dir lesen zu können.

Liebe Grüße, NJ.

P.S.: Gibt es noch andere Träume, die du hast, außer Ballett? Denk darüber nach und schreib sie mir!

Völlig aufgewühlt saß ich nun vor meinem Laptop, mit klopfendem Herzen und zitternden Händen. So viele Antworten, so viele Fragen, so viel Wärme, Herzlichkeit, aber auch Neugierde von beiden Seiten aus. NJs E-Mail machte mich total verrückt!

Ich wusste nicht, wo und wie ich beginnen sollte, sie zu analysieren, oder ob ich einfach gewisse Dinge ausblenden sollte, was mir jedoch sehr unfair erschien. Ich wollte ihm so gerne antworten, einfach frei von der Leber weg, doch ich war in jenem Augenblick nicht fähig dazu. Mit seinen Worten drang er so tief in meine Seele, wie nie ein Mensch zuvor. Die Halluzination, plötzlich ein blaues Augenpaar vor mir zu sehen, das Antworten forderte, brachte mich total durcheinander. Ich wusste nicht, wo ich ansetzen sollte, geschweige denn, war ich mir im Klaren darüber, wie ich mich verhalten würde, wenn wieder Leben in meine Beine einkehren sollte.

Es dauerte mehr als vierundzwanzig Stunden, bevor ich mich in der Lage dazu fühlte, ihm zu antworten. Ich hatte über Vieles nachgedacht und obwohl das Ergebnis nicht als befriedigend einzustufen war, wollte ich ihm endlich schreiben. Doch zunächst las ich mir seinen Text nochmals aufmerksam durch.

Er wirkte so einfühlsam, witzig und gleichzeitig fordernd. NJ forderte etwas von mir, aber das Seltsame war, dass er mir etwas gab, was ich nie in einer Freundschaft oder Beziehung zu einem Mann gespürt hatte. Sicherheit, Vertrauen und den Mut über Dinge nachzudenken, die ich eigentlich aus meinem Kopf verbannen wollte.

Er würde gerne meine Hand halten, sollte ich jemals wieder den Versuch starten, laufen zu wollen. Aber wie sollte das denn funktionieren, wenn wir uns niemals treffen würden? Vielleicht war es nur hypothetisch gemeint, aber selbst wenn, fand ich es unglaublich liebenswert. Er verdiente es auf jeden Fall, dass ich weiter mit ihm in Kontakt blieb.

Bevor ich mich daran machte, die E-Mail zu tippen, holte ich mir etwas zu trinken aus der Küche, wobei ich mich bemühte, leise zu sein. Es war kurz nach eins in der Nacht, Malcoms Party sollte nachher steigen, und ich wollte unsere Eltern nicht aufwecken, für die es morgen sicher ein stressiger Tag werden würde.

Nachdem ich mein Glas abgestellt hatte, setzte ich mich vor den Laptop und begann zu tippen. Die Buchstaben flossen so schnell aus meinen Fingern, dass ich es selbst kaum begreifen konnte. Ich beantwortete jede seiner Frage, doch ich wollte auch Antworten von ihm. Nur so würden wir uns besser kennenlernen. Denn das war genau das, was ich mir wünschte.

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Uhhhh, Nialls E-Mail konnte also bewirken, dass Jess nachdenkt. Spürt ihr die leichte Veränderung in ihr?
Ich hoffe, dass Kapitel hat euch gefallen und ihr seid neugierig, wie es nun weiter geht.
LG, Ambi xxx


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