01. Morning shock
Niall
Ein lautes Scheppern weckte mich am frühen Morgen des 7. Juli, der Tag bevor wir nach USA reisten, um dort unsere Tournee fortzusetzen. Ich blinzelte mehrere Male, bevor ich endgültig meine Augen aufschlug, mich kurz streckte, und dann langsam aus dem Bett erhob. Schließlich wollte ich den Ursprung des Geräusches, das sich anhörte, als würde es von draußen kommen, erkunden. Zwar befanden sich überall an den Eingängen zu meinem Haus Überwachungskameras, aber man konnte ja nicht ausschließen, dass ein psychopatischer Fan trotzdem versuchte, in das Gebäude einzudringen.
Nur mit einer weißen Boxershorts, der Marke Calvin Klein, bekleidet, schlich ich auf leisen Sohlen durch mein Haus, überprüfte zunächst den Eingang von der Terrasse, wo jedoch alles in Ordnung zu sein schien. Anschließend lief ich zur Haupteingangstür, die von Innen gut verschlossen war und die, wie ich sogleich erleichtert feststellte, auch nicht aufgebrochen wurde. Zum Schluss nahm ich mir die Überwachungskameras vor, doch auch hier konnte ich nichts Verdächtiges entdecken. Somit warf ich einen Blick aus einem der Fenster, die zur Straße hinausgingen, um die Bescherung zu sehen.
Zwei Transporter waren fast direkt vor meinem Haus zusammengestoßen, deswegen hatte es so gescheppert. Ein wenig genervt fuhr ich mit einer Hand durch das frisch blondierte Haar und murmelte vor mich hin: „Diese Idioten haben mich aufgeweckt."
Eigentlich hatte ich heute noch einmal richtig ausschlafen wollen, doch das konnte ich nun getrost vergessen. Mittlerweile war ich nämlich hellwach, obwohl die Uhr erst halb acht am Morgen, eine wirklich unchristliche Zeit, anzeigte.
Seufzend tapste ich ins Badezimmer, um unter die Dusche zu springen, wo ich mir viel Zeit ließ. Schließlich hatte ich noch den ganzen Tag vor mir, an dem ich außer packen, mein fettes Bankkonto online durchzuchecken, und meine E-Mails anzuschauen, nicht wirklich etwas zu tun hatte. Doch zuerst wollte ich frühstücken, denn mit einem leeren Magen ging bei mir absolut gar nichts.
Kaum aus der Dusche gesprungen, lief ich mit einem Badetuch um die Hüften geschlungen, in meine offene Küche, um Kaffee zu kochen und vier Scheiben Vollkorntoast in den großen Toaster zu schmeißen. Während der Kaffee durchlief, zog ich mich schnell an und schaltete meinen Laptop ein, um zunächst meine anstehenden Online Banking Geschäfte zu tätigen.
Grinsend schaute ich auf den fünfstelligen Betrag, der auf meinem laufenden Konto als Haben Saldo ausgewiesen wurde, und den ich eigentlich hätte verbraten können. Doch ich hielt nichts davon, mit meinem Geld um mich zu werfen. Man konnte nie wissen, wie lange One Direction noch so erfolgreich sein würde, und dann war es mir lieber, ein dickes Polster zu haben, als am Hungertuch nagen zu müssen, weil ich nicht vorgesorgt hatte. Den größten Teil meines Geldes hatte ich, mit Hilfe eines Anlageberaters, gewinnbringend investiert.
Meine Finanzen hatte ich total unter Kontrolle, was man von meinen E-Mails nicht gerade behaupten konnte. Ich besaß nämlich drei unterschiedliche E-Mail Adressen, die täglich abgefragt werden mussten, was manchmal mehr Zeit in Anspruch nahm, als mir lieb war.
Zuerst nahm ich mir die geschäftliche E-Mail Adresse vor, auf welcher ich mit Sony Music und Simon Cowell verkehrte. Außer einer Einladung zu einer Gala Veranstaltung im Spätherbst, befand sich jedoch nichts im Posteingang. Es hätte mich auch gewundert, denn mitten in der Tour gab es für gewöhnlich keine wichtigen Dinge zu besprechen.
Da der Kaffee inzwischen durchgelaufen war, beschloss ich, mich zunächst dem Frühstück zu widmen, denn ich hatte an diesem Tag alle Zeit der Welt. Auf einem Toast herumkauend tippte ich eine SMS an meinen Cousin Willie, der offiziell mit mir in diesem Haus lebte. Die Wahrheit sah jedoch anders aus. Willie durfte sich hier nur blicken lassen, wenn ich nicht gerade etwas am Laufen mit einer Tussi hatte, ansonsten wäre seine Anwesenheit nämlich ziemlich störend gewesen.
Ja, Niall Horan lebte nicht wie ein Mönch und er war auch keine Jungfrau mehr, wenn man von meinem Sternzeichen absah. Ich war erst einundzwanzig und wollte meinen Spaß haben, den ich auch regelmäßig bekam. Aber die kleinen zwölfjährigen Mädchen glaubten natürlich, dass ich gemeinsam mit Harry eine Art Zölibat abgelegt hatte, als ich den Vertrag für One Direction unterschrieb.
Niall Horan und Harry Styles bleiben für alle Zeiten Single und entsagen jeglichen sexuellen Handlungen, zumindest so lange es die Band gibt.
Dabei existierte auf jedem Kontinent mindestens eine heiße Braut, die mir hin und wieder die Nächte in einem einsamen Hotelzimmer versüßte, und auch in London ergab sich manchmal die Gelegenheit, ein weibliches Wesen mit nach Hause nehmen zu können. Das durfte nur nicht an die Öffentlichkeit gelangen, sonst war ich geliefert. Schnell las ich die Nachricht an Willie nochmals durch, um zu überprüfen, ob ich auch nichts vergessen hatte.
„Hey, Schnarchnase, denk bitte daran, ab und zu in meinem Haus aufzukreuzen, den Briefkasten zu leeren und die Pflanzen zu gießen. Ich hoffe, du hast deinen Schlüssel nicht schon wieder verlegt, wie beim letzten Mal. Und falls du erneut auf die Idee kommen solltest, ein Selfie mit deiner Freundin in meinem Haus zu schießen, und es auf Instagram hochzuladen, werde ich allen erzählen, dass du deine Unterhosen nur jeden zweiten Tag wechselst. Bin bis morgen früh hier erreichbar, ruf mich an du kleine Schlampe! Love you lots, Nialler."
Grinsend schickte ich die Nachricht ab und bestrich anschließend meinen dritten Toast mit Butter und Marmelade, den ich innerhalb kürzester Zeit verspeiste.
Nachdem ich das Frühstück beendet hatte, setzte ich mich, mit einer Tasse, gefüllt mit heißem Kaffee, wieder an den Laptop. Immerhin hatte ich noch zwei E-Mail Accounts durchzuschauen. Der Nächste, den ich mir vornahm, war zugepflastert mit Mails, vorwiegend von Mitgliedern der London Irish Crew, kurz LIC genannt. Es handelte sich hierbei um eine reine Privatgruppe, bestehend aus Iren, die ihren Wohnsitz, aus welchen Gründen auch immer, nach London verlegt hatten. Mit ihnen feierte ich die lustigsten Partys überhaupt, oft bis in die frühen Morgenstunden.
Schnell überflog ich die E-Mails, eine nach der anderen und beantwortete sie nur kurz, worüber meine Freunde aber nicht böse sein würden, denn sie wussten alle, dass ich ab morgen durch die USA tourte, mein Kopf sich also mit ganz anderen Dingen beschäftigte.
Bevor ich nun dazu kam, den dritten E-Mail Account anzuschauen, kündigte mein Handy eine SMS an, die von Nathalie stammte. Diese heiße Braut, Mitte zwanzig, lebte in New York, wo wir uns im letzten Jahr kennengelernt hatten.
Die gemeinsame Nacht, welche wir nach einem Clubbesuch miteinander verbrachten, war mir in guter Erinnerung geblieben. Und nun wollte Nathalie mich wieder treffen, sobald wir in New Jersey angekommen waren, das praktisch bei ihr um die Ecke lag. Dort gaben wir am fünften August ein Konzert, aber man konnte nicht frühzeitig genug planen, was diese Dinge anging. Mit einem fetten Grinsen im Gesicht schrieb ich ihr zurück, nachdem ich meinen Terminkalender genau durchgecheckt hatte.
„Wir kommen am vierten August in New Jersey an und könnten am Abend etwas gemeinsam unternehmen. Ich freue mich schon auf dich."
Wir beide wussten genau, worauf das hinauslaufen würde, aber das war schließlich so gewollt. Nachdem Nathalie geantwortet hatte, dass die Sache von ihrer Seite aus in Ordnung ging, grinste ich zufrieden. Braut Nummer eins hatte ich gerade klargemacht. Vielleicht sollte ich Nummer zwei auch gleich erledigen, um später nicht in Zeitnot zu geraten.
Kurzentschlossen schickte ich nun eine SMS an Kelly aus L.A. Dort war es gerade kurz nach Mitternacht, was bedeutete, dass sie bestimmt noch nicht im Bett lag. Nachdem ich nachgefragt hatte, wie es ihr ging und wann und wo wir uns in den USA treffen wollten, schrieb sie zu meinem Entsetzen zurück, dass sie gedachte, am vierten August nach New Jersey zu fliegen.
„Verdammte Scheiße", fluchte ich vor mich hin, denn diesen Tag hatte ich gerade mit Nathalie verplant.
„Ihr Bitches macht mich noch wahnsinnig!", knurrte ich und textete zurück, dass der vierte August denkbar ungünstig sei, und wir wohl einen anderen Termin finden mussten.
Daraufhin schrieb sie, dass sie morgen ihren Kalender nochmals genau durchchecken, und mir dann Bescheid geben würde. Manchmal war es echt kompliziert! Da hatte ich nur zwei Bräute in Nordamerika, einem nicht gerade kleinen Kontinent, und trotzdem führte das zu logistischen Problemen, weil die Damen sich genau den gleichen Tag ausgeguckt hatten, um eine ausschweifende Nacht mit mir verbringen zu wollen.
Mit einem leichten Stöhnen legte ich mein Handy zur Seite und rieb kurz meine Augen, bevor ich mich nun dem dritten und letzten meiner E-Mail Accounts zuwandte. Diesen besaß ich schon seit Ewigkeiten, und niemand wäre auf die Idee gekommen, dass er Niall Horan, einem der fünf Bandmitglieder von One Direction, gehörte. Die E-Mail Adresse lautete nämlich [email protected].
Da ich seit meiner Kindheit ein Fan der Simpsons war und Homer sehr lustig fand, legte ich mir bereits in jungen Jahren, als noch kein Mensch ahnen konnte, dass ich einmal berühmt werden würde, diese Adresse zu. Nur meine allerbesten Freunde kannten diese und so erwartete ich nicht unbedingt eine Nachricht dort, da wir eigentlich ständig über Whatsapp verkehrten. Trotzdem kam es gelegentlich vor, dass mir jemand schrieb.
Meine Stirn legte sich kurz in Falten, als im Posteingang eine Mail mit unbekannter Adresse vor meinen Augen auftauchte. [email protected].
Ich kannte keine Jessie M. und konnte jetzt nur hoffen, dass es sich um eine Spam Mail handelte, die ich dann in den dafür vorgesehenen Ordner verschieben würde.
Ein wenig angespannt öffnete ich die Mail und begann zu lesen. Gleich nach dem ersten Satz klappte meine Kinnlade nach unten, denn ich wurde beschimpft. Wahrscheinlich von einem durchgeknallten Fan, der von irgendwoher diese E-Mail Adresse bekommen hatte. Die Frage war nur, woher? Ich vertraute jenen Leuten, die meine E-Mail Adresse kannten, zu tausend Prozent. Niemand von ihnen würde sie publik machen und auch nicht unter der Hand weitergeben, schon gar nicht an irgendwelche Fans, die sich nicht unter Kontrolle hatten.
Ein wenig ängstlich las ich die ersten beiden Sätze noch einmal, wobei meine linke Hand automatisch nach dem Handy griff, welches neben mir auf dem Tisch lag. Wenn es zu arg wurde, würde ich die Security anrufen müssen, denn wenn eine Psychopatin meine E-Mail Adresse kannte, wieso sollte sie nicht auch herausfinden wo ich wohnte?
„Eigentlich sollte ich einem Idioten, wie du es bist, gar nicht schreiben aber ich muss meinen Frust herauslassen und du bekommst jetzt dein Fett weg, du verdienst es! Weißt du eigentlich, was du herzloser, egoistischer Mensch mir angetan hast?"
Was bitte sollte ich getan haben? Ihr nicht auf Twitter geantwortet, vielleicht? Wie ich diese Social Media Plattform manchmal hasste! Tagtäglich wurde man dort zugespamt, es war nicht mehr auszuhalten. Kopfschüttelnd las ich nun weiter.
„Du hast keine Ahnung, durch welche Hölle ich seitdem gehe. Du weißt nicht, wie es schmerzt, seinen Lebenstraum aufgeben zu müssen."
Welcher Lebenstraum? Mit mir in die Kiste zu springen vielleicht? Das konnte sie sich so oder so abschminken, denn ich stand nicht auf kleine, minderjährige, Mädchen, da ich keine Lust verspürte, eines Tages im Knast zu landen. Doch als ich die nächsten beiden Sätze las, wurden mir allerdings die Augen geöffnet.
„Du kannst dir nicht vorstellen, welche seelischen Qualen Menschen erleiden, deren Welt plötzlich zusammenbricht und du von demjenigen, dem du vertraut hast, verlassen wirst, weil du nicht mehr in seine Welt, und in sein Leben passt. Du bist das größte Schwein, das mir je begegnet ist, Tim. Und ich hoffe, dass dir irgendwann deine gerechte Strafe widerfährt."
Mein Name war nicht Tim, eine echt glorreiche Erkenntnis, die zwar ein bisschen spät kam, aber mich nicht davon abhielt, nun eine Mail zu lesen, die gar nicht für mich bestimmt war. Meine Neugierde kannte keine Grenzen, zumal sich das Ganze nicht sehr gut anhörte. Und die nächsten Sätze bestätigten, dass ich mit meinem Gefühl durchaus richtig lag.
„Ich habe noch nie einem Menschen etwas Böses gewünscht, aber bei dir habe ich keine Skrupel, das zu tun. Die größte Schweinerei von dir war, mit mir Schluss zu machen, als ich in der Reha Klinik lag, und dich sofort einer anderen zuzuwenden. Du bist eine menschliche Null, ein Versager, schade, dass ich das nicht eher bemerkt habe, dann hätte ich dir niemals meine Jungfräulichkeit geopfert, denn das warst du wirklich nicht wert."
Autsch! Das war harte Kost und ich fühlte mich so, als ob mir jemand in die Magengrube geschlagen hätte. Dieser Kerl hatte doch nicht wirklich mit ihr Schluss gemacht und mit einer anderen gevögelt, während sie in einer Reha Klinik lag?!
Manchmal schämte ich mich dafür, ein Mann zu sein. Ich war zwar kein Engel, aber ich behandelte Frauen immer gut, und vor allem war ich ehrlich zu ihnen. Meine Bräute wussten, dass wir nur Fuckbuddies waren, es also keine Chance auf eine feste Beziehung mit mir gab. Das wollte ich mir für die Richtige aufheben, die mir leider noch nicht über den Weg gelaufen war.
„Tim, du hast es wohl verspackt", sagte ich laut zu mir selbst, bevor meine Augen erneut den Buchstaben auf dem Monitor folgten. Das, was ich nun erfuhr, wühlte mich total auf.
„Verrotten sollst du in der Hölle und niemals vergessen, was du mir angetan hast! Ich bin zwanzig Jahre alt und sitze in einem Rollstuhl! Bevor ich in deinen Wagen stieg, den du, wie immer, viel zu schnell durch die Kurven gedroschen hast, war ich ein gesunder, lebensfroher Mensch, der seinen Traum verwirklichen wollte. Doch dank meines kaputten Knies wird er sich niemals erfüllen. Ich werde nie wieder meine Ballettschuhe anziehen und tanzen können, selbst wenn ich eines Tages wieder laufen könnte, was bringt es mir?"
Ich sog jeden einzelnen Satz in mir auf. Sie war zwanzig, ein Jahr, oder vielleicht auch zwei Jahre jünger als ich. Sie saß in einem Rollstuhl, weil ihr Ex-Freund zu schnell gefahren war und vermutlich einen Unfall verursacht hatte. Sie hatte ein kaputtes Knie und sie würde nie wieder tanzen können.
Ballett.
Das war hart, sehr hart sogar. Ich musste mich erst ein wenig sammeln, bevor ich weiter lesen konnte. Mein Herz schlug schneller und in meinen Augen bildeten sich kleine Tränen, als ich die nächsten beiden Sätze verinnerlichte.
„Du weißt nicht, wie viele Nächte ich in meinem Bett verbracht habe, um zu weinen und darüber nachzudenken, wie es wäre, tot zu sein. Einfach weg von all dem Leiden, das ich jeden Tag durchstehen muss."
Diese Geschichte ging mir wirklich an die Nieren, sie machte mir bewusst, wie schnell sich ein Leben verändern konnte - von einer Minute zur anderen. Nun wollte ich auch die letzten Sätze lesen, musste vorher jedoch tief durchatmen, um mich ein wenig zu beruhigen.
„Ich wünsche das meinem ärgsten Feind nicht, aber dir wünsche ich, dass du nie wieder ein reines Gewissen haben sollst, dass dich die Erinnerungen an diesen Tag des Unfalls nicht mehr loslassen werden. Du sollst genauso wenig ruhig schlafen können wie ich."
„Ich wünsche dir süße Träume, Jess"
Ihr letzter Satz war reiner Sarkasmus, was mir ein leichtes Grinsen entlockte. Gleich darauf wurde ich jedoch wieder ernst und verfiel ins Grübeln. Was hatte dieser Typ dem Mädchen bloß angetan?
Ich konnte nicht verhindern, dass ich die E-Mail ein zweites und ein drittes Mal las. Es passierte einfach und mit jedem Mal begann ich, mehr zwischen den Zeilen zu lesen. Ich spürte ihre Angst und dass sie sich aufgegeben hatte. Ich fühlte ihren Schmerz, der allzeit gegenwärtig war. Ich versuchte, die Welt mit ihren Augen zu sehen.
Es war grausam. Es tat weh. Es stürzte mich gefühlsmäßig in ein komplettes Chaos.
Verglichen mit dem, was dieses Mädchen durchmachen musste, wirkten die logistischen Probleme mit meinen Bräuten nahezu lächerlich.
Insgesamt las ich diese E-Mail fünf Mal und mit jedem Mal versank ich tiefer in einem Strudel von Gefühlen, die mich total fertig, und auch sehr traurig machten. Ich hätte ihr gerne ein paar tröstende Worte gesagt, sie aufgemuntert und ihr zu verstehen gegeben, dass es bestimmt Menschen gab, die sie als ungeheuer wertvoll erachteten. Dass sie sich und ihr Leben nicht aufgeben sollte.
Aber ich wusste ja nicht einmal, warum sie eigentlich in diesem Rollstuhl saß, nur, dass ein Unfall, herbeigeführt durch ihren Ex, wohl der Auslöser für ihre Situation war.
Frustriert fuhr ich mir mit beiden Händen durch die Haare, als mein Handy sich plötzlich meldete. Willie. Scheiße, der hatte mir jetzt gerade noch gefehlt! Seufzend nahm ich das Gespräch entgegen.
„Du Sackgesicht hast mich geweckt!", blökte er so laut ins Telefon, dass ich dieses ein Stück von meinem Ohr weghalten musste, damit ich keinen Hörschaden riskierte.
„Na und? Frag mich mal, wie ich heute aus dem Schlaf gerissen wurde", erwiderte ich und begann dann von dem Unfall zu erzählen, der sich vor meinem Haus abgespielt hatte.
„Das ist Pech für dich, Nialler, war wohl nichts mit ausschlafen am letzten Urlaubstag", zog er mich auf.
„Du erinnerst mich gerade daran, dass ich noch packen muss", gestand ich freimütig, worauf Willie zu lachen begann.
„Ich halte dich nicht davon ab", versprach er.
Nachdem wir unser Telefonat beendet hatten, wandte ich mich erneut dieser E-Mail zu, die mich zum Nachdenken brachte. Wo lebte dieses Mädchen? Was hatte sie vor diesem Unfall gemacht? Studiert oder gearbeitet? Und war das Tanzen nur ein Hobby von ihr? Eigentlich klang es nicht so, es hörte sich vielmehr danach an, als ob sie große Pläne damit verfolgt hätte, was die ganze Sache natürlich noch schlimmer machte.
Aber um all das herausfinden zu können, musste ich ihr zurückschreiben, wobei nicht gesagt war, ob sie mir überhaupt antworten würde. Hinzu kam, dass ich keinesfalls meinen richtigen Namen angeben durfte, denn sie würde sowieso nicht glauben, dass ich Niall Horan von One Direction war. Das würde nur abschreckend und peinlich wirken.
Zudem musste ich genau überlegen, was ich schreiben wollte, schließlich konnte ich nicht einen Satz nach dem Motto: „Danke für die E-Mail aber ich bin nicht Tim, würde aber trotzdem gerne mit dir schreiben", heraushauen.
So etwas klang absolut unpassend und unsensibel noch dazu. Ich musste gründlich überlegen, wie ich das am besten angehen sollte. Vielleicht würde mir beim Kofferpacken eine Lösung einfallen.
Seufzend machte ich mich daran, die Klamotten und Schuhe in meinem riesigen Yves Saint Laurent Koffer, so ordentlich wie möglich, zu verstauen. Natürlich konnte ich mich, wie immer, nicht entscheiden, was ich alles mitnehmen sollte und packte mindestens fünfmal um. Zwischendurch kochte ich mein Mittagessen und versorgte die wenigen Pflanzen, damit Willie das nicht gleich am Anfang erledigen musste.
Dieser Tag hatte schlecht begonnen und er wurde auch nicht besser. Immer wieder dachte ich an dieses Mädchen und fragte mich, wie ich wohl, mit einer E-Mail, ihr Vertrauen gewinnen konnte, doch mir war bis zum Abend noch keine Lösung eingefallen, zumindest keine gute.
Es war weit nach Mitternacht, als ich mich ins Bett legte, um zu schlafen, doch mein Hirn machte mir einen Strich durch die Rechnung. Es wollte einfach nicht aufhören zu denken. Verzweifelt wälzte ich mich stundenlang von einer Seite auf die andere, bis ich letztendlich aufstand, weil ich es nicht mehr aushielt.
Ohne darüber nachzudenken, führten meine Schritte mich zum Laptop, der an seinem gewohnten Platz stand. Ich schaltete ihn ein und während er hochfuhr blickte ich auf die Uhr, welche mir sagte, dass es vier Uhr morgens sei.
Shit! Ich musste um sieben Uhr aus dem Haus gehen, um pünktlich am Flughafen zu sein. Das mit dem Schlafen konnte ich wohl vergessen, zumindest vor dem Abflug. Aber ich hatte noch Zeit genug, um eine E-Mail an dieses Mädchen zu schreiben, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging.
Ich überlegte jeden Satz dreimal, bevor ich zu tippen begann, änderte zwischendurch immer wieder etwas, wenn es mir doch nicht so ganz passend erschien, und war um kurz vor fünf endlich fertig mit meinem Werk.
Inzwischen hatten sich schon Schweißperlen auf meiner Stirn gebildet, so aufgeregt war ich. Doch bevor ich es mir anders überlegte, klickte ich auf den Sendebutton. Jetzt war es passiert, ich konnte nicht mehr zurück. Ich hatte den ersten Kontakt geknüpft, aber würde sie mir auch antworten?
Als ich drei Stunden später mit dicken, schwarzen Rändern unter den Augen auf dem Flughafen eintraf, dachten meine Bandkollegen, dass ich ernsthaft krank sei. Doch ich erklärte ihnen sogleich, dass mein Aussehen auf den Schlafmangel der letzten Nacht zurückzuführen war, worauf sie sich wieder beruhigten.
Somit ließen sie mich im Flugzeug auch in Ruhe, als ich mich in meine flauschige Decke kuschelte, um zu schlafen. Das Letzte, was ich wahrnahm, bevor ich in das Reich der Träume versank, war der Gedanke an dieses Mädchen. Jess.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top