PROJEKT: Prinzessinnenrettung
Dies ist eine kleine, fantastische und humorvolle Kurzgeschichte, die ich für die Spiegelwelt-Anthologie geschrieben habe. Aufgrund von Faulheit habe ich sie noch nicht auf Tippfehler untersucht und korrigiert.
Have fun!
________
Diese Rüstung war viel zu klobig, fand Wesley, deswegen zog er die Armschienen und die metallenen Brustplattenpanzer wieder aus und legte sie neben seinen Reiseproviant. Es war sein dritter Versuch diese verdammte Schutzvorrichtung anzuziehen, aber er kam einfach nicht mit diesen ganzen Ringen und Verschlüssen zurecht. Er war kein Ritter und er interessierte sich doch überhaupt nicht für den Schwertkampf und dennoch hatte sein blöder Vater ihn losgeschickt, damit er Prinzessin Irina aus „dem anderen, viel reicheren und wohlhabenderen Königreich" retten würde. Die blöde Pute hatte es ja geschafft, sich von einem Drachen entführen und in einen verdammten Turm sperren zu lassen.
Und ihr Vater hatte jedem die Hand seiner Tochter versprochen, der sie aus den Fängen der Bestie retten würde.
Natürlich fand Wesleys Vater, dass das die Gelegenheit war, um die Finanzen etwas aufzubessern. Ob das seinem Sohn irgendwie gefiel oder er die ganze Vorstellung, eine Wildfremde aus einer brennenden Hölle zu retten und dann auch noch heiraten zu müssen, nicht eher ziemlich dämlich fand, interessierte ihn nicht so sehr. Natürlich, vorausgesetzt Wesley würde dieses Abenteuer überhaupt überleben.
Mit einem frustrierten Seufzen trat er mit dem Fuß gegen die Metallplatte der Rüstung (verfluchte sich direkt danach dafür, weil nun sein Zeh wehtat) und beschloss, dass er sie einfach zurücklassen würde. Wenn er schon von einem Drachen verbrannt werden würde, dann würde er wenigstens nicht wie ein übergroßes Fass aussehen. Nicht, dass es dann noch etwas bringen würde, immerhin wäre er dann nur noch ein Haufen Asche.
Bei all den positiven Gedanken, mit denen Wesley versuchte sich von seinem kommenden Tod abzulenken, übersah er glatt die Möglichkeit, dass er auch einfach ein paar Tage im Wald kampieren könnte, nur um dann zu seinem Vater zurückzukehren, um ihm zu sagen, dass er fast zu Grillwurst verarbeitet wurde und lieber nicht versuchen wollte, die Prinzessin zu retten. Aber gute Ideen zählten noch nie zu seinen Stärken, deshalb machte sich der junge Prinz auch direkt weiter auf den Weg und ließ die schützende Rüstung einfach im Busch liegen. Vielleicht würde ein darüber stolpernder Wanderer sich darüber freuen, wenn er sie finden würde. Immerhin könnte man sie noch verkaufen oder so.
Der Wald, in dem sich der Turm des Drachen mit der verschleppten Prinzessin darin befand, wurde überall nur Namensloser Wald genannt. Die Kammerzofe hatte ihm mal erzählt, dass der Wald keineswegs so hieß, weil er gar mysteriös oder sonst was wirken sollte, sondern einfach nur, weil die Leute sich seit jeher nicht auf einen Namen einigen konnten und ansonsten noch in Streitereien und Kriege ausbrechen würden. Also hatte man sich entschieden, dem Wald einfach keinen Namen zu geben, damit waren nämlich alle gleichermaßen unzufrieden.
Wesley wusste nicht, warum der Drache sich unbedingt dieses unspektakuläre Fleckchen Welt ausgesucht hatte, um seine Prinzessinnensammlung aufzustocken, aber auf jeden Fall war er froh, dass die Bestie kein Faible für brennendes Magma oder Tiefseehöhlen hatte. Einen Turm im Wald konnte er wenigstens zu Fuß erreichen und musste sich nicht viel zu sehr abmühen, um zu seinem Tod zu kommen. Warum überhaupt der Drache sich sowas wie einen Turm aussuchen musste, war ihm auch schleierhaft, bei all den spannenden Gebäuden, die es doch schon längst gab.
Wieso ein Turm? Warum nicht eine Achterbahn oder eine schwimmende Insel mit eigener Klimazone? Die waren gerade stark im Trend und bei den Makler-Nymphen hätte er bestimmt einen guten Preis verhandeln können, wenn er ihnen mit dem brennenden Feuertod gedroht hätte.
„Du solltest nicht mit dem Kopf so in den Wolken hängen, Menschlein", riss ihn eine knurrende Stimme aus den Gedanken und er schrak zusammen. Vor ihm war nichts zu sehen, außer Bäumen. Neben ihm war auch niemand. Vielleicht hinter ihm...?
„Über dir, du Idiot!", rief die Stimme erneut und Wesley blickte verwirrt auf. Eine handbreit über seinem Kopf begegnete er einem Paar von goldgelben Augen, die ihn finster anstarrten und er schreckte zurück.
„Wuah!"
„Jetzt schrei doch nicht gleich so", knurrte das Wolfsmädchen, welches kopfüber von einem Ast hing und auf ihn herabblickte. „Ist ja nicht so, als wäre ich die erste Werwölfin, der du je über den Weg gelaufen bist, oder?"
„E-Eigentlich bin ich bisher noch keinem in echt begegnet", gab er zu und sorgte sich, dass sie ihm die Fangzähne in den Nacken rammen würde.
Das Wolfsmädchen verdrehte die goldgelben Augen und schwang sich dann vom Ast herunter, um dann leichtfüßig vor ihm zu landen. Aufrechtstehend und nicht mehr kopfüber, war sie irgendwie weniger bedrohlich, dachte er, doch dann sah er ihre spitzen Klauen, die aus einem seltsamen Grund grün lackiert waren. Sie hatte etwas an, welches entfernt an eine Latzhose erinnerte und aus einer der Taschen guckte das Ende eines grünen Strohhalmes heraus. Ihr ganzer Körper war mit hellbraunem Fell bedeckt und ihr Gesicht erinnerte stark an das eines echten Wolfes, mit der spitzen Nase und den tödlichen Zähnen. Rotbraune Haare bedeckten in einer modernen Bob-Frisur ihren Kopf.
„Unglaublich", murmelte das Wolfsmädchen und schüttelte den Kopf. „Da geht man nichts ahnend spazieren und schon trifft man so einen dämlichen Menschen. Und dann hat der auch noch nie eine echte Wölfin gesehen!" Wieder schüttelte sie den Kopf.
„Tut mir leid... glaube ich", sagte Wesley und entfernte sich noch einen halben Schritt von ihr.
Sie griff in ihre Tasche und holte den grünen Strohhalm hervor, machte kehrt und verschwand dann hinter dem Baum, von dem sie gekommen war. Einen Moment lang stand er wieder alleine auf dem Waldweg, dann tauchte das Wolfsmädchen wieder auf und hatte dieses Mal einen Becher in der Hand, aus dem sie genüsslich schlürfte. Wesley erkannte das Logo auf der durchsichtigen Verpackung.
„Ah, ich liebe diese extra Prise Charisma, die sie immer rauf tun", sagte sie und seufzte. „Sie macht mich immer so glücklich."
„Es gibt hier einen Feenkaffeeladen?", fragte er überrascht und das Wolfsmädchen sah ihn zweifelnd an.
„Selbstverständlich, die wachsen doch überall aus dem Boden. Und das meine ich ja nicht mal im übertragenen Sinn. Diese magischen Bohnen die sie dafür verwenden, sind schon echt klasse. Natürlich nicht so klasse wie ihr Latte, aber schon ganz cool." Sie nahm einen weiteren Schluck und nun wirkte ihr Lächeln nicht mehr ganz so tödlich, wenn sie ihre Zähne zeigte. Das Charisma musste seine Wirkung zeigen. „Wie heißt du überhaupt?"
„Wesley", erwiderte er und fürchtete sich nicht mehr vor dem Wolfsmädchen mit den spitzen Klauen. „Du?"
„Jen."
„Ist das die Kurzform von Jennifer?", fragte er.
„Nein", sagte Jen, das Wolfsmädchen. „Das ist die Kurzform von Jenarindina, aber den Namen kann sich ja keiner merken. Jedenfalls: Was machst du hier im Wald?"
„Das könnte ich dich auch fragen", meinte er und zuckte dann mit den Schultern. „Mein Vater hat mich losgeschickt, damit ich Prinzessin Irina vor dem Drachen rette und sie dann heiraten soll."
„Das klingt nach dem dämlichsten Plan, den ich je gehört habe", sagte Jen und nahm einen weiteren Schluck aus ihrem Plastikbecher. „Und glaub mir, ich hatte schon viele dämliche Pläne."
Jen lehnte sich gegen den Baum, von dem sie zuvor heruntergesprungen war und Weasley seufzte, dann vergrub er die Hände in den Taschen seiner Jeans. „Du siehst mir nicht danach aus, als hättest du sonderlich viel Spaß daran, auf Prinzessinnenrettungsmission zu sein. Oder als ob du überhaupt die Chance dazu hättest. Warum tust du dir das an?"
„Mein Vater meint, unser Königreich könnte das Geld gut gebrauchen."
„Dein Vater ist der König?", fragte Jen und wirkte für einen Moment überrascht. „Huh. Nett dich kennenzulernen, Prinz Wesley."
„Lass das, ich find das schrecklich." Er verdrehte die Augen.
„Warum ziehst du es denn überhaupt durch? Weiger dich doch einfach, du bist immerhin ein Prinz."
„Und mein Vater ist der König", erinnerte er sie. „Ich kann mich nicht einfach weigern. Also entweder ich werde vom Drachen geröstet oder vom König verstoßen."
„Klingt beides nicht nach etwas, was ich auf meine To-Do-Liste schreiben würde, aber du musst es ja wissen." Sie zuckte mit den Schultern, dann trank sie den Rest ihres Kaffees aus und warf den Becher ins Gebüsch. Die kleinen Äste griffen sofort danach, verschluckten es, als wäre der Busch ein lebendiges Wesen, die Blätter zersetzten das Plastik binnen Sekunden und spuckten dann einen kleinen Stein aus. „Schon praktisch, diese Weltverbessererdryaden."
„Auf jeden Fall nützlicher als ich", meinte er und sie knurrte gereizt.
„Von deinem Pessimismus bekomme ich Ausschlag", sagte Jen. „Und wenn ich Ausschlag habe, werde ich immer ganz gewalttätig." Sie spreizte kurz ihre grün lackierten Klauen. „Also hör auf hier Trübsal zu blasen und geh mal mit etwas mehr Motivation an die Sache ran. Sieh dir die positiven Seiten an: Wenn du Prinzessin Was-weiß-ich gerettet hast, wirst du reich und kannst du Alte auch noch heiraten."
„Aber ich will die Alte gar nicht heiraten!", rief er aus. „Ich hab überhaupt keine Lust, eine Prinzessin zu heiraten!"
„Meine Güte, dir kann man auch gar nichts recht machen", sagte sie lachend und ging einen Schritt auf Wesley zu. „Du erinnerst mich sehr an meinen Cousin. Der hat auch immer nur gejammert und gemeint, er würde nichts auf die Reihe bekommen."
„Und was hast du dem gesagt?", fragte Wesley.
„Ich hab ihm gesagt, er soll gegen eine Waldhexe antreten und sich endlich mal beweisen."
„Ist er jetzt ein Klananführer oder sowas?"
Jen lachte. „Nein, er ist jetzt tot. Die Hexe hat Mus aus ihm gemacht. Wir quatschen noch immer darüber, wenn wir zusammen in die Mall gehen."
„Wow...", sagte Wesley, wenig aufgebaut. „Klingt ja toll." Dann seufzte er schwer und schulterte seinen Rucksack wieder, den er zuvor fallen gelassen hatte. „Naja, war nett dich kennengelernt zu haben. Ich sollte wohl gehen... ein Drache wartet auf mich."
Jen sah ihm ein, zwei Momente lang nach, dann stöhnte sie frustriert auf. „Unglaublich", murmelte sie und folgte ihm. „Ich kann dich ja schlecht in deinen Tod laufen lassen, nicht wahr, du Prinzenrolle? Ich kenne so ein paar Tricks, wie man mit Drachen umgehen kann."
„Was? Du willst mir helfen?", fragte Wesley, mehr als erstaunt. „Warum?"
„Wenn ich das nur wüsste", antwortete die Wölfin und fuhr sich mit der klauenbesetzten Hand durch ihre Haare. „Manchmal wird mir gesagt, ich hätte einen Beschützerinstinkt."
„Aber du kennst mich doch gar nicht", meinte er. „Und das ist echt gefährlich, was ich machen soll."
„Und wenn schon. Besser als zur Schule zu gehen ist es auf jeden Fall."
„Du gehst noch zur Schule?"
„Nein, ich schwänze, sieht man doch."
Wesley wusste noch nicht ganz, ob er Jen leiden konnte oder sie für verrückt hielt. Auf jeden Fall war er insgeheim ziemlich froh, dass sie nun mitkam.
Jen kannte ziemlich viele Abkürzungen und versteckte Pfade im Namenslosen Wald und ab und an unterhielt sie sich sogar mit einer der Dryaden, weiblichen Wesen, die in Pflanzen lebten und sich eine fast menschliche Gestalt geben konnten, wenn sie wollten. Die Dryaden sagten ihr alle, sie solle aufhören ihren Müll in den Wald zu werfen, weil sie ihr sonst die Steine entgegenschmeißen würden, die sie daraus herstellten, aber das schien Jen nicht allzu sehr zu stören. Sie lachte dann nur.
Als sie die letzten Ausläufer des Waldes erreichten, rief ihnen eine Dryade ein paar wüste Beleidigungen hinter, weil Jen ihren Baum zerkratzt hatte.
„Bist du immer so?", fragte Wesley verwirrt.
„Immer so scheiße zu allen? Meistens schon." Sie zuckte mit den Schultern. „Das sind die wölfischen Gene, sagt mein Vater immer."
Vor den beiden ungleichen Reisegesellen erstreckte sich eine weite Landschaft, bestehend aus sanften Hügeln und ein paar blinkenden Reklametafeln, die in allen Farben und Formen vor sich hin blinkten. Ungefähr ein halbes Dutzend Kilometer von ihnen entfernt, ragte ein Wolkenkratzer in die Höhe, der für Wesley irgendwie die Form einer Gurke hatte. Irgendwie sah es aus, als würde das Gebäude brennen. In kleinen Kringeln stieg Rauch in die Höhe und ließ den Anblick wesentlich bedrohlicher wirken.
„Da haben wir ja schon mal deinen Turm", sagte Jen unbeeindruckt.
„Fehlt noch der Drache" stimmte Wesley zu. Sein Griff hatte sich um den Gurt seines Rucksackes geschlungen, die Knöchel hoben sich weiß von seiner Haut ab und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Jetzt, wo er seinem Ziel so nah war, fühlte er, wie die Angst langsam in ihm aufstieg. Es fühlte sich an, als hätte der Drache bereits seine Klaue um seinen Magen und würde nun immer mal wieder zudrücken. Oder, als hätte er mit seinem Schweif ordentlich in seinen Bauch geschlagen.
„Der kann ja nicht weit sein", meinte sie. „Immerhin ist er ja nicht so schwierig zu übersehen."
„Vielleicht ist es ja noch ein kleiner Drache", schlug er hoffnungsvoll vor.
„Kleine Drachen entführen keine Prinzessinnen", tötete sie diesen Gedanken sogleich. „Lass uns einfach weitergehen. Und lass dieses lange Gesicht. Du siehst aus wie ein Zentaur, nur ohne den Pferdekörper."
Wesley überhörte den letzten Kommentar, seufzte erneut und machte sich dann auf den Weg, seiner neuen Reisegefährtin hinterher.
„Du kannst immer noch umkehren", sagte er nach einiger Zeit. „Keiner zwingt dich mitzukommen und für mich in die Hölle zu gehen."
„Sieht das für dich nach der Hölle aus?", fragte sie mit einem zweifelnden Blick auf den rauchenden Wolkenkratzer. „Für mich nämlich nicht. Und jetzt entspann dich, Prinzenrolle. Ich bin aus freien Stücken hier. Außerdem bin ich eine starke, emanzipierte Wölfin und habe drei Jahre Kampfsporttraining hinter mir. Ich kann schon auf mich aufpassen."
„Es ist trotzdem gefährlich... immerhin ist das ein Drache, den ich bekämpfen muss."
„Dann freu dich doch, dass du jemanden dabeihast, der wirklich kämpfen kann. Mir wäre es zwar noch lieber, wenn es Vollmond wäre, aber so geht es doch auch. Zur Not hab ich auch noch ein paar kleine Asse im Ärmel." Sie zwinkerte ihm zu, was mit einem Wolfsgesicht äußerst gewöhnungsbedürftig aussah, dennoch lockerte es irgendwie den Knoten in seinem Magen, der sich gebildet hatte, kaum dass sie weitergelaufen waren.
„Wenn wir das überleben, dann werde ich meinen Vater überreden, dir alles zu kaufen, was du willst. So viel Mut muss belohnt werden."
„Mut, zu viel Freizeit, nenn es wie du willst." Sie zuckte mit den Schultern. „Jedenfalls brauche ich keine Belohnungen. Ich bin nicht sehr materialistisch."
Wesley wurde aus Jen nicht schlau, aber je näher sie dem Turm des Drachen kamen, desto gleichgültiger wurde es ihm. Sollte sie doch so kompliziert und merkwürdig sein, wie sie wollte, solange sie es schaffte, ihn lebend wieder nach Hause zu bringen, konnte sie seinetwegen auch mit Scheren jonglieren.
Als sie nur noch einen halben Kilometer vom Wolkenkratzer entfernt waren, der vom nahen sehr stark einem mehrstöckigen Bürokomplex ähnelte, konnte Wesley den Drachen das erste Mal hören. Sein Brüllen ließ die ganze Welt erzittern, den Boden bröckeln und er konnte Vogelschwärme in der Ferne davonfliegen sehen. Sein Herz hatte mehrere Sekunden ausgesetzt und auch Jen war etwas nervös geworden.
„Noch ist umkehren und in Schande leben eine Option", sagte er in der schwachen Hoffnung, mit einem kleinen Witz die Stimmung aufzulockern.
„Eine Wölfin gibt niemals auf", erwiderte sie und fletschte die Zähne. „Und wenn ich mir etwas vorgenommen habe, dann ziehe ich das auch durch."
„Na schön... dann mal auf ins Verderben."
Der Drache ließ sich nicht sehen, bis sie bis an die gläsernen Schiebetüren des Wolkenkratzers kamen. Doch gerade als die Türen sich lautlos aufschoben, erzitterte die Erde ein weiteres Mal und zwei klauenbesetzte, gigantische Pranken erschienen vor ihren Köpfen und nur einen Moment später drückte sich der komplette Drache aus den Schatten heraus. Er tauchte einfach aus dem Nichts aus und das erklärte auch, warum sie ihn vom Weiten noch nicht erkennen konnten.
Sein Körper war besetzt mit bronzefarbenen Schuppen, die Klauen glänzten, als kämen sie frisch aus der Maniküre, der Kopf war langgezogen und mit spitzen Stacheln übersäht und die Bestie starrte sie aus Augen an, die aussahen, als bestünden sie aus flüssigem Pech. Obwohl er noch kein Feuer gespuckt hatte, konnte Wesley die brodelnde Hitze auf seinem Gesicht spüren, die im Inneren des Drachen herrschen musste.
Der Gurt seines Rucksacks glitt ihm aus den Fingern und fiel zu Boden. Jen knurrte neben ihm wild und fletschte ihre Zähne erneut, doch es könnte den Drachen nicht weniger kümmern. Es war, als würde ein Kätzchen einen Bären anfauchen.
„Verlasst diesen Ort", dröhnte eine Stimme über die Landschaft und sie musste vom Drachen stammen, auch wenn dieser sein Maul nicht geöffnet hatte. „Kehrt um, ihr kriechenden Kreaturen!"
„Nur zu gerne!", quietschte Wesley und wollte schon in die Richtung laufen, aus der sie gekommen waren, doch Jen packte seinen Arm und hielt ihn auf.
„Wir sind hier, um dich zu erschlagen, Bestie. Dann retten wir die Prinzessin aus deinen Fängen!", rief sie aus und wirkte so mutig dabei, dass sich Wesley fragte, ob sie in ihrem Inneren nicht vielleicht doch zitterte und vor Angst fast in Ohnmacht fiel, denn so erging es ihm gerade.
Ein donnerndes Geräusch ließ den Boden unter ihren Füßen beben und ihm ging auf, dass der Drache sie tatsächlich auslachte. Dann sprach er wieder: „Wenn euch euer Leben auch nur einen Pfifferling wert ist, dann macht ihr sofort kehrt, Bodenkriecher."
„Die Prinzenrolle und ich werden ganz sicherlich nicht umkehren!", sagte Jen laut und knurrend und mutig, während Wesleys sich schon vorstellte, aus welchem Holz sein Sarg gezimmert werden würde. „Oder hast du etwa zu viel Angst, um zu kämpfen, du alte Schuppenflechte?"
„Angst, kleine Wölfin?" Der Drache lachte erneut und es vibrierte bis in Wesleys Ohren nach. „Ich habe keine Angst. Drachen haben keine Angst."
„Dann hör auf zu reden wie ein altes Waschweib", sagte sie, bevor Wesley sie aufhalten konnte, „und kämpf endlich!"
Sein letzter Gedanke, bevor der Drache sein Maul öffnete und einen brennenden Tornado aus Flammen präsentierte, war: Wenigstens sterbe ich in guter Gesellschaft.
Dann explodierte die Welt in Flammen und Hitze und er wurde von Jen in den Dreck gedrückt. Die Haare an seinen Armen verbrannten sofort und das Feuer kroch unter seine Haut und brachte sein Blut zum Kochen. Es fühlte sich an, als wäre in seinem Inneren ein Ofen entfacht worden und sein ganzer Körper brach in Schweiß aus.
Als der Drache aufhörte Flammen zu spucken, war Wesley eigentlich schon darauf vorbereitet, nun in einem Stück verspeist zu werden. Er starrte einfach nur den Schmutz an und wartete auf sein schnelles Ableben. Und wartete. Und wartete.
Nachdem er all seinen Mut zusammengenommen hatte und aufblickte, konnte er seinen Augen kaum trauen. Der Drache lag auf dem Rücken vor dem Eingang des Wolkenkratzers und Jen kraulte ihm den Bauch. Dabei wedelte nicht nur der meterlange Schweif der riesigen Echse, sondern auch Jens eigene Wolfsrute, die sich unter ihrer Latzhose hervorgedrückt hatte. Es war ein Bild für die Götter, dachte Wesley sprachlos. Ein Werwolfsmädchen kraulte den Bauch eines Drachen, der ungefähr dreißig Mal so groß wie sie war und beide schienen das tödliche Feuer bereits wieder vergessen haben, welches eine Minute zuvor noch durch die Luft geschossen war.
„Ich hab dir doch gesagt, ich hab ein paar Asse im Ärmel, oder?", sagte sie atemlos und grinsend, als er sich zu ihr aufgekämpft hatte. „Und ich kenne Drachen. Sie alle lieben ein paar extra Streicheleinheiten, besonders am Bauch."
„Das Feuer kitzelt immer so", knurrte die Echse genüsslich und schloss die Augen, während Jens Pfote über seine Haut fuhr und dabei mit ihren Nägeln helle Streifen hinterließ.
„Na los. Geh deine Prinzessin retten", meinte Jen mit einem schwachen Lächeln zu ihm und zeigte ihm mit der anderen Hand einen Daum nach oben. „Jetzt kannst du mal Held spielen, Prinzenrolle."
„Danke, Jen", erwiderte Wesley, der kaum Worte fand. Viel zu sehr war er davon beeindruckt, wie einfach sie den Drachen beruhigen und ihrer beider Leben retten konnte. Er war auf jeden Fall froh, dass Jen in seinem Team spielte.
Das Foyer des Wolkenkratzers war ziemlich düster. Es erinnerte ein bisschen an das Setting eines Horrorfilms, mit all den umgeworfenen Stühlen und den schief hängenden Bildern an der Wand, als hätten erst vor einer kurzen Zeit eine große Menge an Menschen fluchtartig das Gebäude verlassen. Ein weicher Teppich führte zu einem breiten Fahrstuhl, dessen Knöpfe mit Graffiti beschmiert waren und immer noch mit zitternden (und nun haarlosen) Händen drückte er den Knopf, der den Fahrstuhl hoffentlich herunterrufen würde.
Einen Moment später gab es ein leises Geräusch und er konnte einsteigen. Die ruhige Musik, die im Inneren spielte, wirkte keineswegs und ließ ihn nur ein beklemmendes Gefühl in der Magengegend spüren, je höher er fuhr. Der Druck auf seinen Ohren verstärkte sich und als seine Mitfahrgelegenheit schließlich anhielt und die Türen auseinanderglitten, war er auf alles vorbereitet gewesen, aber nicht auf Green Day.
Prinzessin Irina saß in einem schwarzen Ledersessel, hatte die Beine über eine Lehne geworfen und das einzige Fenster im großen Zimmer war mit dunkelblauen Vorhängen verhangen. Aus einer großen Boom-Box dröhnte lautstarke Musik, der Boden war mit fleckigen Teppichen ausgelegt und in den schwarzen Holzregalen standen etliche Schallplatten und CDs. Der Raum an sich war kreisrund und wäre eigentlich schön gewesen, wenn das Fenster nicht abgedunkelt und der Boden nicht mit Schmutzwäsche und Schokoriegelverpackungen bedeckt wäre.
„Hi", sagte die Prinzessin gelangweilt und blickte kaum auf. „Ich hoffe, du hast Dante nicht weh getan, sonst muss ich dir weh tun."
„Dante?", fragte Wesley irritiert und Irina sah auf.
„Meinem Drachen, du Hirni. Wie bist du bitte an ihm vorbeigekommen, wenn du nicht mal weißt, wie er heißt?"
Prinzessin Irina sah nicht so aus, wie man sich eine Prinzessin vorstellen würde. Sie trug kein pinkes Rüschenkleid, hatte keine langen, blonden Haare und auch kein geschminktes Gesicht mit roten, vollen Lippen und dunklen Augen. Tatsächlich trug sie eine schwarze, enge Lederhose, ein dunkles Shirt mit abgerissenen Ärmeln und ein paar Nietenhals und -armbänder zierten ihren Körper. Ihre Haare waren dunkelblau gefärbt und sie hatte schwarzen Lippenstift aufgetragen, während sie sich desinteressiert die Fingernägel lackierte. Mit ihren hellen, grünen Augen wirkte ihr Blick beinahe stechend und sie sah Wesley gerade direkt an.
„Ähm - "
„Na toll, natürlich bist du der erste, der mich hier finden wird. Immer kommen die Loser zu mir." Irina schwang ihre Beine vom Sessel und stand auf. Das Nagellackfläschchen warf sie auf einen Schrank und ging dann zum Fenster herüber, schob den Vorhang ein bisschen zur Seite und sah hinunter. Das Lied in ihrer Boom-Box wechselte und die Sex Pistols fingen an zu spielen.
„Also, ähm, ich bin hier, um dich zu retten", fing sich Wesley. „Du wurdest doch entführt und so."
„Sieht es so aus, als wäre ich entführt worden?", fragte Irina und drehte sich zu ihm um. „Eilmeldung: Nein. Ich bin freiwillig hier. Ich bin abgehauen, du Hirni."
„Abgehauen?"
„Natürlich. Ich bin meinem lieben Papa nicht konventionell genug, also bin ich ausgerissen. Da halte ich es einfach nicht mehr aus."
„Und dann hast du dich einfach hier einem Drachen unterworfen?", fragte er.
Irina verdrehte die Augen und stöhnte genervt auf. „Du bist echt nicht die hellste Kerze auf der Torte, oder? Der Drache gehört mir, Dante ist mein Haustier. Und er beschützt mich hier, damit die dämlichen Ritter und Hexen meines Vaters mich nicht finden. Keine Ahnung, wo er die Idee herhat, dass Dante mich entführt und eingesperrt hat. Ich meine, ich hab ihm mitten ins Gesicht gesagt, dass ich jetzt abhaue und er war nur so 'ja, meinetwegen'."
„Ich versteh's nicht", sagte Wesley und schüttelte den Kopf verwirrt. „Aber auch egal. Also musst du nicht gerettet werden?"
„Natürlich nicht", fauchte die Prinzessin. „Es sei denn, du bist auch einer dieser Typen, die meinen, sie könnten mich normal machen, weil ich ja noch nicht den richtigen Mann hatte. Glaub mir, wenn du so einer bist, dann ruf ich Dante hier hoch und der brät dich dann ordentlich durch."
„Nein, bitte nicht!", rief er aus und tat einen Schritt zurück. „Ich will ja eigentlich gar nicht hier sein."
„Warum bist du es dann?", fragte sie und dieses Mal klang sie tatsächlich nicht genervt, sondern eher neugierig.
Wesley seufzte. „Mein Vater dachte, dass, wenn ich dich rette, ich dann endlich zum Mann heranwachse und unserem Reich auch noch ordentlich Geld einbringe."
„Und, lass mich raten: Du hattest so gar keinen Bock darauf, hast dich aber seinem Befehl gefügt?"
„Ja, so ungefähr."
Irina sah ihn einen Moment lang an, dann erschien auf ihren schmalen Lippen ein Lächeln. „Weißt du, ich glaube, wir sind uns gar nicht so unähnlich." Sie verzog kurz die Augenbrauen. „Du hast nicht zufällig 'ne hübsche Schwester, oder?"
Wesley stutzte kurz, dann verstand er, was sie meinte und grinste schief.
„Nein, aber ich habe 'ne Freundin, die ich dir mal vorstellen kann. Sie versteht sich gut mit Drachen."
Irina grinste breit und folgte ihm zum Fahrstuhl.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top