Kapitel 9

Das Viertel der Gläubigen war alles andere als das, was sich Lex in seinen kühnsten Träumen vorgestellt hatte. Zusammen mit Kael und Liam ging er durch die Straße, in der die wichtigsten Männer der Stadt wohnten. Es waren keine einfachen Häuser, sondern Prachtbauten. Sie schimmerten in den verschiedensten Farben. Sie waren alle so schön, dass man meinen könnte, die Gebäude würden untereinander ein Turnier austragen, um das teuerste zu ermitteln. Normalerweise wurden in dieser Gegend Seinesgleichen gejagt und verjagt wie Kakerlaken in einer Luxusküche. Doch die alte Hagia, die Hohe Richterin, hatte Lex und Liam in ihrem Haus Asyl gewährt. Lex, ein Verbrecher, und Liam, der nicht mehr Herr seiner Sinne war.

Je länger sie an den Häusern vorbeigingen, desto fester umklammerte Liam seine Kleidung. Er konnte sogar einzelne Fäden reißen hören, so krampfhaft gruben sich Liams Finger in sie hinein.

„Alles ist gut! Ich bin ja da", versuchte er Liam zu beruhigen und griff vorsichtig nach der Hand, die so verkrampft den Stoff formte. Er berührte die kalten Hände des Jungen, ließ seine Finger zwischen die seinen gleiten. Sie waren weich und geschmeidig, und doch zitterten sie so leicht, dass das Auge es nicht wahrnahm.

Die Nacht war bereits hereingebrochen, und anders als in den Slums konnte Lex hier keine Sterne am Firmament erkennen, wohl aber den Weg vor seinen Füßen, denn die Öllaternen am Straßenrand spendeten auch an den kältesten Tagen ein warmes Licht. Als sie um eine Ecke bogen, standen sie einem Nachtwächter gegenüber. An der Hüfte trug er eine kleine Laterne, in der Hand hielt er eine Pistole, geladen und bereit, auf Diebe zu schießen.

Instinktiv duckte sich Lex und überlegte sich sofort einen Fluchtweg. Doch anstatt auf Lex oder Liam zu schießen, begrüßte der Nachtwächter Kael förmlich, verbeugte sich höfflich und ging wieder seiner Arbeit nach. Erst rief er laut die aktuelle Uhrzeit aus, dann fügte er die Erklärung hinzu, dass auf den Straßen Sicherheit herrsche.

Schließlich blieb Kael vor einem der Häuser stehen. Es war prunkvoll wie alle anderen und erstreckte sich über zwei Stockwerke. Die Fenster waren aus dickem, aber sauber gearbeitetem buntem Glas, und über der Tür hing eine riesige Büste einer Frau mit verbundenen Augen, die in ihrer Hand eine Waage balancierte, das Symbol der Hohen Richterin. Mit seinem Schlüssel öffnete er die Tür, die nicht, wie Lex es gewohnt war, aus den Angeln zu springen drohte, sondern sich leise öffnete. Wie anders diese Welt doch war, hier mitten in der Stadt.

Liam stand dicht hinter Lex. Er drückte seinen Körper ganz fest an ihn. Lex spürte, wie Liams Herz vor Panik raste. Er hatte schon einmal vor solchen Gebäuden gestanden und Lex wollte sich nicht daran erinnern, was passiert war.

„Ich bin bei dir! Dir wird nichts passieren!", wiederholte Lex mit überzeugender Stimme und drückte die Hand seines Freundes noch fester. Um ihm Mut zu machen, die Schwelle zu überschreiten, die ihn so viel Überwindung gekostet hatte. Den Schritt in die Behausung dieser Bestien. Aber sie töteten weder Lex noch Liam, die alte Hagia versprach anders zu sein. Und obwohl seine Abneigung gegen die Gläubigen so groß war, willigte er ein. Er war sich immer noch nicht sicher, wie sie die Worte verdreht hatte und wie sie ihn dazu gebracht hatte. Den Schleier des Hasses für eine winzige Sekunde fallen zu lassen, nur um in diesem Moment zuzuschlagen und ihn zu diesem Versprechen zu verführen.

Kael legte seine Hand auf Lex' Schulter und sagte die offensichtlichen Worte: „Wir sind da, das ist das Haus, und von nun an ist es auch eures." Sein Blick glitt durch die hell erleuchtete Eingangshalle, von der aus verschiedene Räume abzweigten und eine Treppe mit einem wunderschön gearbeiteten Holzgeländer nach oben führte. Weiter hinten gab es einen Raum mit einem großen Panoramafenster, das einen weiten Blick über die rauchenden Dächer der Stadt bot. Dort befand sich auch ein Kamin, in dem Holzscheite brannten und die mit Schaffellen bezogenen Sitze besonders gemütlich machten.

Liam schloss die Augen und holte tief Luft. Dann trat er ein und die Tür schloss sich hinter ihnen. Lex spürte den Hauch von Angst, den Liam ausstrahlte, in seinem Nacken und auch Kael konnte Liams Furcht nicht entkommen.

„Ihr seid hier sicher. Ihr steht unter dem Schutz der Hohen Richterin", sagte er und lief über den glänzenden Holzboden.
„Ihr seid wieder da. Kael!" rief eine junge Stimme über der Treppe. Ein Junge, etwas kleiner als Lex und Liam, rannte schnell und aufgeregt die Stufen hinunter und fiel Kael in die Arme. Dann löste er sich von der Begrüßung und sah die beiden Neuankömmlinge an, die sich in dem fremden Haus immer noch kaum von der Stelle rührten. „Wer ist das?", fragte er. Die Unsicherheit in seiner Stimme erfüllte den Raum und er ballte unbewusst die Hände zu Fäusten.

„Neue Familienmitglieder. Das ist Lex und sein Begleiter Liam", stellte Kael die beiden vor. „Und das ist Calib. Er gehört auch zur Familie. Er wird euch das Haus zeigen und wenn ihr Fragen habt, könnt ihr euch an ihn wenden."
Calibs Gesicht war jung. Es hatte keine Narben oder Falten. Die kindlichen Rundungen waren deutlich zu erkennen. Sein platinblondes Haar fiel ihm in die Augen, die von großen dunklen Ringen umgeben waren und von schlaflosen Nächten zeugten. Sein Blick wanderte zwischen Lex und Liam hin und her, und jedes Mal legte sich seine Stirn tiefer in Falten. Schließlich hielt er inne und blickte zu Kael auf.

„Das sind beides jungs", sagte er schließlich.

„Das ist richtig beobachtet", erwiderte Kael.

Lex hielt Liams Hand immer noch fest zwischen seinen Fingern. Instinktiv kam ihm der Gedanke, sie loszulassen, sich und seinen Wunsch selbst wieder zu verstecken. Doch er entschied sich dagegen, drückte fester zu und spürte, wie Liams Finger es ihm gleichtaten.

Kael ging an dem verdutzten Jungen vorbei und stampfe die Treppe hinauf.

„Warum?", rief Calib ihm nach.

„Damit sie mich zu einem Gläubigen machen", antwortete er. Dann verschwand er hinter einer der Türen und ließ Calib sprachlos am Fuß der Treppe zurück.

Lex erinnerte sich an das Angebot, das ihm die Alte Hagia gemacht hatte. Er ging auf Calib zu.
„Wie genau weiß ich auch nicht! Noch nicht. Aber wir sind auf Einladung der Alten Hagia hier."

Calib drehte sich zu Lex um. Seine Augen verengten sich, seine Nase rümpfte sich." Ihr solltet euch erst einmal parfümieren. Ihr stinkt!"

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top