Kapitel 1

Warme Sonnenstrahlen kitzelten Lex' Nase. Er musste niesen und erwachte aus seinem unruhigen Schlaf. Die Sonne war hoch gewandert und schien nun hell über die grüne Wiese hinweg, auf der der Wind in wellenförmigen Mustern über die Weite tanzte.

Liam lag neben ihm, fest gekuschelt in Fussels weiches, warmhaltendes Fell.

Der kleine Hügel, auf dem sie lagen, gab einen weiten Blick über das Flachland preis. Als sich der Nebel, der sich seicht über den Boden legte, lichtete, konnten sie in der Entfernung einen kleinen Wald erkennen. Der Herbst begann die Blätter rot und Gelb anzumalen. Ein Fluss schlängelte sich nicht weit von ihnen entfernt durch das Tal, das von hohen Bergen umgeben war. Kleine Schleierwolken versteckten die hohen Gipfel in ihrem fast durchsichtigen Kleid.

Wie schön diese Welt war, wenn nur der Abscheu durch die Zivilisation sie nicht zerstören würde und ihre Schönheit in eine Hässlichkeit verwandeln würde, sondern ihre Farben genießen könnte. Das Grün des Grases, das Blau des Himmels und das Rot der Blätter, wie beruhigend die Farben im Einklang standen.

Eine gefährliche friedliche Stimmung, denn der Wahnsinn und Schrecken könnte hinter jedem Felsbrocken lauern. Außerhalb der schützenden Mauern der großen Städte und nicht unter dem Schutz der Roten Hand lief man Gefahr das Beutetier eines Monsters zu werden. Ein Streunen oder eine Verbannung glich mehr dem Todesurteil als der Freiheit. Sie kamen an vielen verlassenen Dörfern vorbei – abgebrannt verwüstet. Noch wusste Lex nicht was die Ursache der Zerstörung war und so hoffte er den Grund niemals herauszufinden.

Obwohl die glasklare Nacht Kälte über das Land spuckte, gab Lex seine Jacke auf und deckte Liam zu. Immerhin fror dann nur einer. Er selbst. Doch für Liam war dieses Opfer allemal wert. Er würde tausende Nächte frieren und zittern.

Ob es Liams Alpträume waren, die sein Fieber brachten oder ob das Fieber seine Alpträume hervorrief, vermochte Lex nicht zu sagen. Doch eines war sicher. Seit jenem Ereignis, schrie Liam in seinem Schlaf, gequältes Wimmern voller Angst und Agonie. Die nötige Ruhe fand er nie und so wachte er am nächsten Morgen irgendwann mit geröteten und müden Augen auf. Wenn Lex ihn versuchte zu berühren zog er sich zurück und blickte beschämt zu Boden. Doch jetzt wo Liam noch schlief, würde Lex sich endlich um seine Verletzungen kümmern können.

Zu den Schürfungen der Flucht kam eine Prellung hinzu. Ein großer blauer Fleck, der sich riemenhaft über Liams sonst so makellose Haut legte, wirkte so fehl am Platz.

Doch am schlimmsten war das, was sich Liam selbst zugefügt hatte. Es waren die Stellen, an denen Liam versuchte, sich die Schuld vom Körper zu waschen. Die Bereiche die Orobous angefasst hatte. Liam verbrachte teilweise Stunden in den Flüssen der Natur und schrubbte sich seinen Körper. Es entwickelten sich tiefe Furchen, die er sich mit seinen Fingernägeln in Schultern und Rücken gleichermaßen kratze. Blutende Bereiche geröteter entzündeter Haut, die Lex alleine von Hinsehen weh taten. Bis zum Fleisch herab, wusch er sich. Es war ihm nur mit Mühe gelungen Liam davon zu überzeugen aus diesem Fluss zu treten und seitdem, vermied er es in die Nähe von Gewässern zu gehen.

„Ich mache vorsichtig!", flüsterte Lex. Als er Liams Oberteil und Jacke nach oben hob. Ein mächtiger bunt gefärbter Strich, in dem sich grüne und blaue und schwarze und rote und violette Farben wiederfinden ließen, kam zum Vorschein. Noch zweifelte Lex ob dieser nicht größer geworden sei.

In seiner Hand rieb er Schmirzkwurzeln, um sie anschließend voller Vorsicht aufzutragen, wie sehr wünschte er sich einen Mörser. Denn je feiner gemahlen die Pflanze war, desto schmerzlindernder würde sie sich auswirken.

Behutsam strich er Lex die graugrüne Paste auf den vollkommen geschundenen Rücken. Ein Zucken, das wohl eher von der unerwarteten Kälte rührte, durchfuhr seinen Freund. Die Atmung ruckartig, fast panisch. Lex hielt inne, die Berührung aber löste in Liam Schmerzen aus. Sein Leid wurde mehr. Immer mehr. Bis er irgendwann schrie.

„Lex! Lex!", rief Liam. Er träumte. Wie allzu oft.

„Es ist gut ich bin da", versuchte Lex seinen Freund zu erreichen. Aber er drang nicht zu ihm durch. Noch nie fühlte er sich so unbeholfen wie jetzt. Liam schrie vor Angst und Schmerzen, dabei war er sicher neben ihm. Und selbst das Rütteln an Liams Schulter erweckte ihn nicht aus dem tiefen Alptraum.

„Bitte, Liam! Ich bin da für dich. Ich bin hier! Beruhige dich! Wach auf!"

Wie gerne würde er Liam erzählen, es wäre alles gut. Sie wären endlich frei und könnten Leben in dieser Idylle - weg von dem Wahnsinn, den die Gläubigen verbreiten, doch er konnte es nicht. Er wusste, er würde lügen. Vielleicht war er frei und konnte das für sich glauben. Liam war es nicht. Er hatte an jenem Tag etwas verloren. Sein Lächeln.

Bald endeten die Schreie und Liam ging in ein weinerliches Schluchzen über. Seine Tränen zwangen sich sogar durch die geschlossenen Augenlider hindurch.

„Bist du wach?", fragte Lex. Aber der Junge schwieg.

Er griff Liams Hand. Doch als sich ihre Finger berührten zog Liam sie weg und schaute Lex mit aufgerissen gar verängstigten Augen an.

„Was ist los?", fragte Lex ihn.

Er erhielt keine Antwort. Nur das heftige hyperventilierende Heben der Brust und das verängstigte Schnauben durch die Nasen.

„Es wird alles gut", versuchte Lex beruhigend auf ihn ein zu wirken. Doch seine Worte prallten an Liam ab. Als gäbe es eine unsichtbare Mauer, die sich unüberwindbar und massiv zwischen den Beiden presste.

Lex verstand, dass der Liam, der freudig und fröhlich durch die Welt tanzte. Der sich hingebungsvoll mit allen Dingen beschäftigte und eine so unerschütterliche Säule in Lex' Leben war, nicht mehr war. Die Gläubigen hatten ihn geraubt.

Er hasste sie alle. Er hasste Juni, der ihn Verraten hatte, nicht nur seiner Mutter beim Sterben zugesehen hatte, sondern ihm eine Falle gestellt hatte.

Lex schwor sich Liams Lächeln zurückzubringen. Er schwor sich diese verdammten widerlichen Menschen, die sich in Reichtum baden und ihr Volk währenddessen verhungern ließen zu vernichten. Wenn sie ihn als einen Dämon denunzierten, dann würde er zu einem werden. Er hasste die Gläubigen.

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