Prolog

„Er ist erst neun! Ihr könnt ihm nicht die Hand abschlagen!", schrie die Frau mit voller Kraft aus ihren ausgemerzten Lungen, als der Hammer der Richterin auf den hölzernen Sockel aufschlug. Die Sonne brannte gnadenlos auf den offenen Platz herunter. Wachen hielten die unbeteiligten Schaulustigen, die den Prozess aufmerksam verfolgten, zurück.

„Das Urteil ist damit rechtskräftig", sagte die Richterin unbeeindruckt.

„Es war nur ein fauler gammliger Apfel, den er gestohlen hat!", rief die Frau erneut mit zitternder Stimme und verheulten Augen.

Die Richterin schaute auf sie herab, betrachtete die flehende Dame. Allerdings war es ihr gleich, was sie rief. Was sie sah, war eine Frau, die übersät mit Dreck am Körper vor ihr flehte. Sie trug zerlöcherter Kleidung und in den filzigen Haaren nisteten sicherlich tausende Ungeziefer. Ihr Äußeres strahlte genauso hässlich wie der Platz an dem sie sich schon viel zu lange aufgehalten hatte. Das sie für ihren Sohn bettelte, scherte sie nicht im Geringsten. Der Junge stand kreidebleich mit einer Fußfessel fixiert mitten auf dem Platz. Seine Haare waren kurzgeschoren und pechschwarz. Sein Gesicht übersät mit Matsch. Seine Hosen zu klein und zerrissen. Nur ein kleiner Tisch aus massiven Stein, dessen Oberfläche dunkelrot war, gab ihm den nötigen Halt, um nach dem Urteil nicht gleich umzufallen. Er zitterte am ganzen Körper, doch die Fassungslosigkeit hinderte ihn am Weinen.

Er zeigte Beharrlichkeit, hatte seine Freunde nicht verraten. Sonst wären auch sie dran gewesen, dann würde man auch ihnen die rechte Hand abgeschlagen. Das wollte er vermeiden, auch wenn dies bedeutete, dass er die Strafe ganz allein tragen musste. Doch er stand für sie ein, so wie sie es für ihn tun würden. Ausgesucht hatte er es sich nicht, schließlich hatte er keine Wahl. Demnach bereute er nicht eine Sekunde, den fauligen Apfel aus dem Müll der Gläubigen geklaut zu haben.

„Das lasse ich nicht zu. Bitte nehmt meine Hand stattdessen!", schrie die Mutter verzweifelt. Auch sie war gefesselt mit schweren Ketten an einem hölzernen Stuhl, der einfach wackelnd auf dem steinigen Pflaster gestellt worden war.

„Wer glaubt ihr, der ihr seid, die Rechte und Regeln unseres Landes in Frage zu stellen?", fragte die Richterin empört beim Einpacken. Sie schlug ihre Unterlagen zu. Die Seiten der Schriften waren immer die gleichen, aber da niemand lesen konnte - außer sie - würde es auch niemand merken, sie machte sich nicht einmal die Mühe die Namen der Angeklagten zu ändern. Tatsächlich hatte sie jetzt bereits verdrängt, wen sie verurteilte oder warum. Dann gab sie ihren zwölf in vollständigem Schwarz gekleideten Geschworenen das Signal, den Platz zu verlassen. Sie trugen allesamt eine identische Maske aus weißem Silber und ihre glatten Mäntel hatten Kapuzen die spitz in die Höhe reichten. Ihre Hände waren in schwarzen Handschuhen versteckt und durch das Klopfen auf dem steinernen Boden war zu vernehmen, dass ihre verdeckten Schuhe Absätze hatten.

„Bitte! Das dürft ihr nicht. Wo ist das Recht?", kreischte die Mutter.

„Halt deine Schnauze, sonst ist es nicht nur die Hand deines Sohnes, sondern ebenso deine Zunge, die heute die Mauern schmücken wird!", sagte die Richterin im gehen.

An der Seite standen noch zwei weitere Männer, die den ganzen Prozess verfolgten. Sie trugen rote Kleidung mit einem weißvergoldeten Hut, auf dem ein Kreuz abgebildet war. Ihre Arme in den Ärmeln versteckt, liefen sie mit ihren farbenfrohen Sachen auf den noch immer fassungslosen Jungen zu.

Erneut schrie die Mutter ein lautes Flehen. Es glich eher einer Mischung aus Schmerz, Wut und Angst, als dass es sich um ein Wort oder Satz handeln könnte.

Doch ihr Schreien wurde unterbrochen. Eine Wache schlug ihr die Stahlkappenhandschuhe erbarmungslos ins Gesicht. Zweimal unmittelbar hintereinander. Beide Augen schwollen sofort auf dunkelblaue Pflaumen an und ein kräftiges Knacken war zu hören, als die Nase der Frau in einer Fontäne aus Rot brach. Wie ein Fluss lief ihr das Blut über das Gesicht und tropfte auf ihre alte, löchrige Kleidung runter, als ihr Kopf ohnmächtig herabhing. Unbeeindruckt wischte die Wache das Blut an der filzigen Kleidung der Frau ab.

Die beiden Männer gingen ungebremst auf den Jungen zu. Einer zog eine Klinge aus seinem Mantel. Das Urteil sollte sogleich vollstreckt werden.

Der Junge versuchte sich zu befreien, wie aus einem Traum erwacht zu rennen, doch die Kette an seinem Fuß hinderte ihn. Egal wie fest er zog. Das Metall löste sich nicht von dem festen massiven Gestein des Tisches. Stattdessen schnitt das rostige Eisen in seinen Fuß. Er merkte, wie warmes Blut an seinem Knöchel herablief. Seine Atmung beschleunigte sich. Sein Fuß begann zu schmerzen. Panik befiel ihn, als einer der rot Gekleideten ihn festhielt und an seiner Kleidung zu dem Tisch zog. Ein Schmerz durchfuhr ihn, als sein Arm auf den Tisch geschlagen wurde. Mit aller Kraft versuchte er sich zu lösen, indem er sein ganzes Gewicht gegen den Tisch stemmte, doch der eiserne Griff der Person lies ihm keine Chance. Der Junge erkannte, dass die rote Färbung des Tisches altes krustiges Blut war.

„Libertas illis quibus libertas debetur,
Punire eos ad quos pervenit poena,
Hoc est quomodo quisque debet iudicare,
Quia omnes idem"

Sagte der Träger der Klinge. Eine Sprache, die der Junge nicht kannte, aber immer hörte - die Sprache der Gläubigen. Die Klinge schoss herab. Blut spitzte. Der Junge schrie.


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