Kapitel 9
Dunkle Schatten flüsterten ihm verlockende Worte in die Ohren. Ihr Säuseln versprach ihm Freiheit. Einen einfachen Weg, das schwere Leben hinter sich zu lassen und ein neues zu beginnen. Sie formten sich zu Dingen, die er nicht kannte. Gestalten, deren verzogener Körper andauernd ihr Aussehen veränderten. Als wehe ein Wind durch das Laub einer Eiche und reiße ihr beim Vorbeiziehen die Äste aus der Krone. Manchmal berührten ihn Arme. Mit ihren unzähligen Fingern strichen sie über seine Beine, entlang bis zu seinem Hals und drückten ihm die Luft ab. Er versuchte sich zu wehren, er strampelte. Fürchterliche Angst überkam ihm. Doch er fühlte keinen Schmerz.
Sie flüsternden ihm bei. Die Stimmen, die nach dem einfachen Weg riefen, wurden lauter. Bis er bald sein eigenes Wort nicht mehr verstand und das Schreien seine Sinne vernebelte. Arme streckten sich zu ihm aus, umschlangen seinen Körper und wollten ihn über die Schwelle zum Neuen ziehen. Das Unbekannte, was ihn verlockend anzog, wie eine Motte in das Licht einer Flamme.
Lex spähte in die Helligkeit. Was er sah, überstieg seine kühnsten Vorstellungen. Der vor ihm liegende Raum war keineswegs euklidisch. Verworrene Treppen und Türen an Stellen, die eigentlich niemand erreichen konnte. Eine Runde Kurve, deren Inhalt der gesamte Raum war und sich unzählig oft in sich selbst wiederholte. Eine der Türen öffnete sich. Ein Ding, das Lex wohl einem Wal zuordnen würde, quetschte sich hindurch. Wobei sich die Größe immer wieder veränderte. Unzählige Tentakeln entsprangen wie Ruder eines Schiffes aus der Kiemen und rotierten kreisförmig nach vorne. Bewegten das viel zu große Etwas mit den tausenden von Zähnen. Zerfleischten den Raum, verbogen die Zeit.
Lex' Verstand wollte mehr, mehr von diesem Wahnsinn, mehr von alle dem. Er wollte verstehen, während er gleichzeitig verstand, nie verstehen zu können. Seine Neugier wuchs in Höhen, derer Lust er kaum seine eigenen Interessen zu wagen versuchte. Aber etwas fesselte ihn. Dicke Ketten, die ihn zurückzogen und das süße Licht voller Verlockungen in die Entfernung brachten. So weit weg, dass er bald in absoluter Finsternis gehüllt, alleine war. Er krümmte sich zusammen. Die erdrückende Luft der Schwärze wirkte wie Ballast auf seinen Schultern. Nicht einmal seine Finger konnte er direkt vor seinen eigenen Augen wahrnehmen. Wie lange er dieser Einsamkeit ausgesetzt war, konnte er nicht sagen.
„Lex!", flüsterte es mit einer wohlbekannten Stimme.
Er riss seinen Kopf in die Richtung, die er als oben bezeichnete. Doch der Ursprung konnte sich nicht ausfindig lassen. Wieder vergingen Momente. Bis schließlich die Stimme erneut durch die Finsternis hallte.
„Lex!"
„Wo bist du?", rief Lex. Seine eigene Stimme ein Echo, verzogen von der Unendlichkeit des Nichts.
„Ich bin hier", sagt die Stimme. „Schließe deine Augen und du wirst sehen!"
Lex schloss seine Lider. Erwartete noch mehr der alles verschluckenden Dunkelheit. Doch er sah vor sich, was ihn ankettete, an dieser Welt festhielt.
Er schoss nach oben. Seine Hände hielten den dröhnenden Kopf. Er war im Bekannten zurück. Das Prasseln des Regens, das Knallen des Donners hörte sich lauter an, als er es in Erinnerung hegte. Liams blaue Augen blickten ihn unschuldig an.
„Du hast nicht gezwinkert, deine Augen standen offen. Sie sind schon ganz rot geworden!", rief er fast vorwurfsvoll und warf sich auf Lex' Brust. Auch seine Mutter wandte sich ihm zu.
„Mutter! Es tut mir leid, ich wollte mich nicht in Gefahr bringen."
„Lex, du hast Freunde, die dir helfen! Vergiss das nicht." Sie schaute auf Liam herunter, der eingeschlafen war. „Er war die ganze Zeit über wach und saß neben dir, befeuchtete deine Lippen und verabreichte dir geriebene Schmierkwurzeln."
Eine Mischung aus Unwohlsein und Unbehagen steig in ihm auf. Liam lag dicht an ihm, dabei versuchte er doch mit aller Kraft den Jungen von seiner Mutter fernzuhalten. Nun hatte er gesehen, wie es um sie stand, das unausweichliche Schicksal, dass ihr bevorstand. Unruhe bereitete sich aus in ihm.
"Lex, beruhige dich! Liam hat es nicht so aufgenommen, wie du es dir schwarzmalst. Im Gegenteil mich wunderte es, dass er es nicht wusste. Ich denke ich konnte ihm seine Angst nehmen", sagte seine Mutter mit gewohnter ruhiger Stimme.
Lex schaute auf. Eine Welle der Erleichterung schwappte über ihn hinweg, ergriff ihn und begrub ihn in ein aufregendes freudiges Gefühl gepaart mit Euphorie, endlich diesen Stein, der ihn schon so lange schmerzlich auf das Herz drückte, abwerfen zu können.
„Die Schmierkwurzeln scheinen zu wirken", sagte Lex, der sich wesentlich besser fühlte, als es gestern der Fall war.
„Ich habe Dinge gesehen. Da war ein Spalt, ein Licht, das mich verführen wollte. Es war voller interessanter Sachen."
„Du hast den Riss gesehen. Damit bist du nicht der einzige. Viele berichten von ähnlichen Erfahrungen", sagte seine Mutter ohne weiter auf das Thema eingehen zu wollen.
„Haben sie auch dieses Ding gesehen?", fragte Lex verwundert.
„Sie haben vieles gesehen. Alles was dem menschlichen Geiste entspringt und noch viel mehr soll sich dort aufhalten. Wir alle werden ihn irgendwann betreten. Und man sagt, immer wenn jemand den Spalt nicht betritt, kommt stattdessen etwas herausgekrochen."
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