Kapitel 7

„Hi, Lex. Ich mag diesen Ort nicht", sagte Liam, als er sich durch die schiefen Häuser einen Weg bahnte. Die Straßen waren gepflastert mit billigen Steinen, die seit Jahrhunderten abgetreten und zersprungen waren. Unwohl zog er sich zusammen und griff den Stoff an seinen Oberarmen.

„Ich mag diesen Ort auch nicht", entgegnete Lex mit eingezogenem Kopf. Am liebsten wollte er untertauchen. Das Gefühl der ständigen Beobachtung ließ ihn nicht los. Er trat in eines der Löcher in der Straße und stolperte.

An den Wänden der Häuser saßen Menschen. Niemand schien sich zu rühren. Niemand schien ihm zu helfen. Doch alle starrten die beiden Jungs an. Selbst wenn sie gewollt hätten. Sie konnten nicht. Dieser Teil der Stadt war anders. Menschen kamen freiwillig hierher. Der letzte Ort, um zu sterben. Die vergangenen Tage, die sie hatten, bevor die Kolz sie alle holen würde. Die Verwesung an den Körpern war deutlich sichtbar. Einigen fehlten Gliedmaßen, anderen ein Auge und wieder andere besaßen die typischen riesigen Löcher in Bauch, Rücken oder Kopf, die mit jedem Tag wuchsen und in ihrer Anzahl zunahmen. Bei jedem fand die Krankheit ihren eigenen perfiden Weg, ein möglichst qualvolles Ende herbeizuführen.

„Geh nicht so nah dran", sagte Liam. „Ich habe gehört, sie ist ansteckend."

„Ist sie nicht", entgegnete Lex.

„Doch, ich bin mir sicher! Schau, alle hier haben die Kolz, weil sie sich gegenseitig angesteckt haben. Sie macht vor niemandem halt, egal wie alt du bist."

„Und warum haben die Gläubigen dann niemals die Kolz?"

„Weil sie vom Schöpferwesen gesegnet sind. Sie sind immun dagegen."

Lex runzelte die Stirn und ließ seine Augen über die an den Häusern sitzenden Leute schweifen. Ein Gefühl aus Mitleid gemischt mit Ekel und Angst überfiel ihn. Wissend, dass bald seiner Mutter ein ähnliches Schicksal bevorstehen würde. Liam tat es ihm gleich, zitternd erhob er seinen Finger und griff mit der anderen Hand seinen Ärmel. Sein Arm schmerzte schon die ganze Zeit, als würde ein Feuer darauf brennen.

„Ist das nicht deine Mutter?!", schrie Liam panisch. „Du bringst mich hierher, um mich zu töten."
Liams Gesicht veränderte sich. In diesem Moment begannen seine Zähne zu faulen und seine Haare sich blitzartig zu verfärben. Büschelweise fielen sie dem Boden entgegen, während seine Augen einen Strom aus Blut bildeten. Liams Griff an seinem Arm wurde stärker.

„Lass los!", schrie Lex verängstigt. Er atmete schwer. Sein Herz pumpte.

Lex riss seine Augen auf. Der Traum ließ ihn nach oben schnellen, wortlos schreien. Er sah die Gesichter von Juni und Liam. Das Gesicht, das er kannte, das er mochte. Sein Arm brannte wie verrückt. Doch er war bandagiert und mit einem einfachen Seil an seinen Körper gebunden.

„Er ist wach. Hat ja auch lange genug gedauert", beschwerte sich Juni und stand auf. Er klopfte sich den Staub von seinen Kleidern und schaute in den Himmel.

„Geht es dir gut?", fragte Liam besorgt.

„Mein Arm brennt", stöhnte Lex.

„Wundert mich nicht. Du bist so schlagartig wach geworden."

„Ich habe von dem Stadtteil der Verwesenden geträumt", entgegnete Lex. Dass es kein schöner Traum war, musst er nicht genauer erläutern. Das Detail, dass Liam an seiner Seite gewesen war, ließ er aus. Lex hielt seinen Kopf, allerdings konnte sein Griff nicht das tierische Klopfen und Dröhnen verhindern.

„Los, ich will nicht nass werden! Oder zumindest noch einen Platz finden, der vom Regen geschützt ist", sagte Juni mit einer gewissen Ungeduld in seiner Stimme.

Dunkle Wolken zogen auf. In der Entfernung kündigte sich das Grummeln des Himmels an.

„Komm Lex, ich bringe dich nach Hause", schlug Liam vor und half ihm auf.

„Ich schaffe das schon!", sagte Lex. Doch als er stand, wurde ihm bewusst, wie schwach und wackelig seine Knie waren.

„Ich sehe, wie gut es dir geht", neckte Liam ihn und hielt ihn fest.

„Glaub mir, ich schaffe das schon", sagte Lex und riss sich los. Ein pulsierender Schmerz durchfloss seinen Oberarm. Er wollte nicht, dass Liam ihn nach Hause brachte und noch viel weniger, dass er seine Mutter sehen würde. Der Traum, den er eben hatte, war das was Lex fürchtete.

„Was ist los mit dir? Ich versuche dir zu helfen!"

„Ich brauche deine Hilfe nicht", sagte Lex.

„Okay, dann mach, was du willst!", entgegnete Liam und verschränkte die Arme. „Geh in dein warmes Haus, zu deinen sorgenvollen Eltern und lass dir von denen helfen."

„Es ist eben nicht so einfach, wie du dir das vorstellst!", rief Lex.

„Lex, du kannst so nicht nach Hause gehen. Liam, hilf ihm! Du hast Fieber", befahl Juni. „Außerdem finde ich es verwerflich, dass du von Liam träumst!", fügte er hinzu.

„Ich habe nicht von Liam geträumt", raunte Lex.

„Du hast die ganze Zeit meinen Namen gemurmelt", sagte Liam.

Lex wandte sich ab. Er wusste, was es für einen Eindruck erwecken könnte, wenn ein Junge von einem anderen träumte. Obwohl ihm die Geschehnisse im Traum Angst einflößten, ließ er sich von Liam begleiten.

Der Heimweg war lang und anstrengend. Seine nassen Sachen, die druch den Sprung in den Fluss noch vollkommen vollgesogen waren, wogen mehr als gewöhnlich. Sie zehrten an seinen Kräften. Hier und da überkamen ihn Schwindelanfälle. Liam stützte ihn, sonst wäre Lex schon des Öfteren auf den Boden gefallen. Doch auch Liam zitterte.

„Ist dir kalt?", fragte Lex. Mit Schweißperlen auf der Stirn, die die Folge seines entstehenden Fiebers waren.

„Ja", sagte Liam nur, noch immer leicht beleidigt. Er konnte sich nicht erklären, was plötzlich in Lex gefahren war.

„Es tut mir leid, was ich eben gesagt habe. Ich bin echt froh, das ich gerade nicht alleine bin", sagte Lex und stützte sich wankend an eine Wand.

„Warum hast du eben so reagiert?"

„Weil es bei mir zu Hause nicht so einfach ist, wie du denkst, Liam." Lex holte Luft. Sein Arm brannte und ihm wurde schwindlig. „Ja, ich habe ein Dach über dem Kopf und wenn es regnet, werde ich nicht nass. Aber das ist auch der einzige Vorteil, den ich habe."

„Du hast Eltern", sagte Liam.

„Nein, ich habe nur meine Mutter. Mein Vater hat sich totgesoffen", sagte Lex.

„Immerhin kennst du deine Eltern!"

Lex atmete tief ein. „Entschuldige, ich hatte einen schlechten Traum. Kannst du mir verzeihen?"

„Natürlich, schon vergessen. Aber wie kann ein Traum mit mir schlecht sein?", fragte Liam.

Lex hätte mit einem wütenden oder angewiderten Gesichtsausdruck gerechnet. Aber Liam war nicht sonderlich gut darin, ein kleines schelmisches Lächeln zu verstecken.


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