Kapitel 5

Die Nacht war angebrochen und das Sternenlicht strahlte auf die nicht ganz so dunkle Stadt. Überall liefen Wachen mit Fackeln, patrouillierten entlang der Straßen der Reichen und Wohlhabenden. Nachtwächter befeuerten die Laternen der Gassen mit harzreichen Kienspänen und riefen zum Beweis ihrer sorgfältig verrichteten Arbeit ab und an die vergangene Stunde. Sie erleuchteten alles, bis auf die langen Schatten hinter den hölzernen Fässern, die an vielen Stellen das Stadtbild prägten.

Lex schlich durch die Straßen. Er war gut darin - sowohl zu Boden, als auch auf den Dächern. Zu seiner Linken sah er, wie Liam von einem Fass zum anderen pirschte. Die Dunkelheit legte sich wie ein Mantel um sie herum, versteckte sie. Hier durften sie nicht sein. Das wussten sie. Doch leider war die Fischerei in diesem Teil der Stadt - der Teil der Gläubigen. Prunkvoll, glänzend, prächtig, nicht wie der verfallene Slum, aus dem sie hervorkrochen. Hier stank es nicht nach Fäkalien, hier roch es nach Rosen, Fenchel und Lavender. Das war ein Teil der Stadt, in dem sich Lex nicht wohl fühlte. Es wirkte so befremdlich, vom Reichtum der Gläubigen und ihren Dienern erschlagen zu werden.

„Du hättest sehen müssen, wie die sich heute um diesen leeren Sack geprügelt haben. Die waren wie Tiere, kaum auseinanderzukriegen", belauschten sie zwei Nachtwächter. Offenbar schien einer von beiden an den Vorfällen vom Mittag beteiligt gewesen zu sein.

„Ich wünschte, ich wäre dabeigewesen."

„Ich würde mich an deiner Stelle ärgern, denn du hast echt was verpasst!"

Die Wachen gingen lachend über den jüngsten Vorfall vorbei. Juni zeigte ihnen vom Dach aus, dass die Luft rein war und sie weitergehen konnten. Weiter nach vorne in Richtung der Fischerei. Kurz darauf verschwand Juni wieder auf den Dächern.

Immer in Deckung und geduckt kroch Lex durch die sauberen Straßen. Aber auch Liams Bewegungen ließen den Jungen fast eins mit den Schatten der Umgebung werden. Wie ein eingespieltes Trio schlichen sie hinter den Rücken der Wachen vorbei, durch die Lücken in den Mauern, die nur sie kannten, bis sie schließlich an der Fischerei ankamen. Es stellte sie vor keine sonderlichen Herausforderungen. Juni verbrachte viel Zeit die Laufwege der Nachtwächter zu lernen. Er konnte zu jeder Zeit die genaue Position der Soldaten ansagen, wusste, wer den Dienst hatte, wann sie die Schicht wechselten, wo die Wächter wohnten, was sie am liebsten aßen.

Von außen sahen sie schon die Stege und die massiven Netze, die nur so von Fischen am überlaufen waren. So viel Fisch, dass sich dieser in der Reuse selbst zu Brei drückte. Ein Fenster war erleuchtet, eine kleine Kerze ließ orange-gelbes Licht in diesem Zimmer tanzen.

„Sieht so aus, als wären wir nicht die Einzigen", sagte Juni, während er über eins der blickschützenden Fässer herüberschaute.

„Oder sie sind schon am Arbeiten. Manche Gewerbe fangen früher an als andere", sagte Lex.

„Hast du schon mal versucht im Dunkeln zu angeln?", fragte Liam.

„Sieht nicht wirklich danach aus, als würde da irgendwer eine Angel brauchen. Das ist fast schon ungerecht für die Fische", entgegnete Lex.

„Wir machen es so wie besprochen. Rein, zerschneiden, verstopfen, öffnen, raus. Ich will nicht, dass sich einer von uns erwischen lässt!", sagte Juni. Er wartete, bis beide mit einem Nicken zugestimmt hatten.

„Für den Kleinen Don", sagte Liam motivationsgeladen.

Juni legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Halte dich an den Plan."

Das Gebäude war abgeschlossen. Doch Juni war für alle Eventualitäten vorbereitet. Seine flinken Finger knackten das eiserne Schloss mithilfe von zwei kleinen dünnen Metallstangen. Dann traten sie auf die quietschenden Holzdielen. Der Raum wirkte durch die hohen Wände riesig. Die Decke wurde von der Schwärze verschluckt. Von draußen schienen Lichter der brennenden Kienspäne durch die Fenster und erleuchteten runde Wasserbecken, in denen sich tausende Fische tummelten. Sie standen ordentlich angeordnet in einer Reihe mit schmalen Durchgängen dazwischen, durch die kein dicker Mensch passen würde. Keine Sorgen, die sie sich machen brauchten, denn dick konnte sowieso keiner aus dem Elendsviertel werden. Fettleibigkeit war nur den Privilegierten und Gläubigen vorbehalten.

Sie stiegen steinige Stufen nach oben, bis sich die Wege in einem Flur teilten. Einer führte in die Kellergewölbe hinab, der andere nach oben und ein weiterer nach draußen in offene Becken.

„Ihr wisst, was ihr zu tun habt?", flüsterte Juni, das Signal, sich zu trennen.

Lex und Liam nickten ihm erneut bestätigend zu. Das Gebäude war exakt so, wie Juni es ihnen beschrieben hatte. Er hatte die Blaupausen bereits bei der Erbauung gestohlen und kopiert.

Lex nahm die Treppen nach unten. Er drehte sich um, schaute nochmals zurück, doch die anderen gingen ihrer Aufgabe genauso nach. Er wusste nicht, was Juni tat. Aber Liam hatte ihm erzählt, dass er die Räucherschornsteine verstopfen sollte. Die Treppen waren glitschig. Es stank nach gammeligen Fisch. Auch die Wände fühlten sich glatt an und trieften von Feuchtigkeit. Sie boten kaum ausreichend Halt. So lief Lex nur langsam die Treppen nach unten. Schritt für Schritt, bis er schließlich unten ankam. Er hörte das dumpfe Klopfen von Schuhen auf Holz.

„Unmöglich, keiner sollte hier unten sein!", merkte er an, wissend, dass niemand mit ihm heruntergegangen war. Er wagte einen Blick um die Ecke und sah den langen dunklen Gang. Ein Licht brannte in einem Raum. Ein Schatten bewegte sich.

Verdammt, ich muss besonders vorsichtig sein. Ich will nicht diesen Typen auf mich aufmerksam machen.

Zu seinem Glück war der Raum, den er aufsuchen wollte, in der genau entgegengesetzten Richtung - der Raum mit den Schleusen. Seine Aufgabe hörte sich einfach an: Öffne die Reusen mit einem Hebel im Kellergewölbe, aber Juni hatte nicht erwähnt, dass er nicht alleine sein würde. Die Anwesenheit der Person hier unten beunruhigte Lex.

Er schlich mit Bedenken über den Holzboden. An einigen Stellen gaben die Dielen ein Knacken von sich. Doch er hoffte nur inständig, dass niemand ihn hören würde. Schließlich kam er an dem Raum an. Genau wie ihm beschrieben, stand die Tür offen und vor ihm standen dutzenden Hebel - große, kleine, in verschiedenen Farben. Allerdings hatte Juni ihm genau erklärt, wie der zu den Schleusen aussah. Er besaß zwei Griffe, einen weiter oben und einen unten. Er sollte insgesamt sehr lang sein und sich von den anderen abgrenzen. Niemand sollte schließlich diesen Hebel aus Versehen betätigen. Allerdings glaubte Lex, dass Juni ihn nicht hätte beschreiben müssen. Denn der Zentralste und Größte war der Einzige, der für die Schleusen in Frage kam. Er ging auf ihn zu. Mit dem Einsatz seines ganzen Körpergewichtes legte er den Hebel um. Es quietschte laut. Maschinen begannen zu arbeiten. Ketten ratterten. Er hörte die Schritte nicht.

Erst als jemand laut rief: „Was tust du hier?", schwenkte er herum.

Er sah einen wütenden erwachsenen Mann. Mit einem Messer in der Hand. An dem Blut klebte. Inständig hoffte Lex, dass es sich dabei um das Blut eines Fisches handelte. Allerdings war dies sein geringstes Problem. Der Mann trug eine Schürze, die voller roter Flecken war. Wie ein Metzger schritt er auf Lex zu. Das Messer bedrohlich nach vorne gerichtet. Lex versuchte nach hinten auszuweichen. Doch der Raum war klein, der Mann zu groß. Es gelang ihm mit Leichtigkeit, den Arm von Lex zu greifen. Unsanft wurde Lex durch den Raum gezerrt. An die Wand gedrückt. Ein Hebel bohrte sich in seinen Rücken, während die Finger seine Kehle zusammendrückten und ihn an der Mauer nach oben rieben. Seine Füße verloren den Halt am Boden. Seine Ohren dröhnten. Er verstand kaum, was der Mann ihm wütend entgegenplärrte. Aber er sah, wie dieser das Messer hob. Das Messer fuhr auf ihn herab. Lex versuchte zu wehren. Sein Verstand setzte aus. Er bekam keine Luft. Das Messer zielte auf seine Schläfe.

Etwas erschrak den Mann in der Bewegung. Eine Stimme. Lex' Schulter begann zu brennen. Etwas warmes lief seinen Ärmel herab. Der Mann drehte sich um. Es klatschte laut. So laut, dass alle Maschinerien übertönt wurden. Ein Regen aus Schuppen und Wassertropfen rieselte auf den Boden, schwebten in der Momentaufnahme in der Luft. Der Griff um sein Hals löste sich abrupt und Lex rutsche an der Wand auf den Boden, schnappte gierig nach Luft. Erst jetzt sah er Liam. Noch immer gebeugt nach dem heftigen Schlag. In seiner Hand hielt er beidhändig einen kleinkindgroßen Karpfen. Er sah besorgt aus. Der Mann lag regungslos auf dem Boden. Sein Kopf verdreht.

„Hast du ihn gerade mit einem Fisch erschlagen?", fragte Lex fassungslos.

Doch Liam starrte ihn an. Sein Kinn zitterte.

Was ist los mit ihm? Wo schaut er hin? Weint er etwa?

Lex verfolgte Liams Blick. Seine Augen weiteten sich. Jetzt erst spürte er das Hämmern des Schmerzes. Das Messer steckte bis zum Anschlag in seiner Schulter.




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