Kapitel 47

Mit gesenktem Kopf rannte Lex über den feuchten Boden. Der Matsch schmatzte unter seinen nackten Füßen und drückte sich zwischen seinen Zehen durch. Seine Schuhe trug Liam. Genauso wie seine Fetztenjacke.

Fast willenlos ließ dieser sich hinterherziehen. Er drückte weder Träne noch Worte hervor. Lediglich die Kälte des glasklaren Nachthimmels ließ ihn zittern. Seine Augen waren leer. Nur der Schrecken der Finsternis war in ihnen zu erahnen. Den freudigen Glanz hatten sie verloren.

„Wir müssen weiter!", fluchte Lex. Am liebsten würde er sprinten. Davonrennen von seinem Angriff auf das Herz der Gläubigen. So spürte er bereits das wütende Bellen der Riesenwolfshunde in seinem Rücken. Die Menschenjagd könnte jeden Moment beginnen, die Glocken läuten und den Übertäter verkünden.

Es war nur eine Frage der Zeit bis sie Orobous schreiend und blutend auffinden würden. Dabei wünschte sich Lex, dass wenn sie es taten, er bereits den Spalt in die andere Welt übergetreten hätte und mindestens genauso kalt wäre wie dieser widerliche Matsch unter seinen Füßen.

Er mied die Straßen. So kroch er durch die Lücken in der Mauern. Liam folgte ihm.

Weg, immer weiter weg von diesem Ort – weg aus dieser Stadt.

Doch zunächst brauchte er Sachen. Es war eine Unmöglichkeit mit einem halbnackten Jungen im Schlepptau weiter zu reisen. Und er selber bemerkte wie kalt seine Füße bereits nach diesen wenigen Schritten wurden. Seine Zahnen schmerzten und begannen sich bereits blau zu färben.

Wie lange er nun schon durch die dunklen Wege hastete konnte er gar nicht mehr sagen. Seine Gedanken waren Überall und doch nirgends. Zu viele Probleme häuften sich, wie monströse Berge vor ihm auf.

Es gab nur einen Ort, an dem er Kleidung erhalten konnte. Ein Ort den er vermied. Vor dem er sich fürchtete. Der Stadtteil der Kolzkranken.

Unsicheren Schrittes liefen sie hindurch. Der Geruch des Todes legte sich wie ein Schimmelbelag auf seinen Mund. Hier roch es nach Fakalien. Letzte Hinterlassenschaften von Verstorbenen. Die Ratten nagten an den Füßen von bewegungsunfähigen Menschen. Die Realität war schlimmer, als es sein Alptraum abbilden könnte. Die Klagen an Schmerz und knurrenden Mägen drangen wie ein Wirbelsturm der Verzweiflung auf ihn nieder.

„Es tut so weh!", weinte das viel zu junge Kind – man hatte es schon beraubt bevor es verstarb.

Lex wusste Liam wäre selbstlos zur Hilfe geeilt und hätte wenigstens die letzten Stunden der sozialen Ausgrenzung entgegengewirkt, doch nun war er kaum von den Klagenden zu unterscheiden.

Es dauerte nicht lange und er fand wonach er suchte. Den Tränen erneut so nahe wie in letzter Zeit zu oft, entledigte er dem Toten sein letztes Hab und Gut. Er fühlte sich schmutzig und dreckig und der begleitende Geruch der Fäulnis und Verwesung blieb fortan sein ständiger Wegbegleiter.

Sie verließen den Stadtteil, auf der abgewrackten Straßen. Die Häuser des Stadtteils wurden hastig verlassen und so stellten die trümmerhaften Überbleibsel ein wahres Hindernis dar, schnell von einer zur anderen Ecke zu gelangen.

Lex schaute an sich herab. Die neue Kleidung war schlechter als seine Alte. Noch mehr Löcher, noch mehr Blut, noch weniger Stoff. Doch immerhin mehr als nichts. Liam fror nicht mehr. Er würde alles für diesen Jungen tun und wenn es jeden einzelnen dieser verdammten Gläubigen zu lynchen wäre. Seine Wut stieg. Denn Lex wusste: Er war schuld an Liams Situation. Er schickte ihn dorthin. Er war es der ihn alleine ließ. Er war es der so lange zugesehen hatte. Was er nicht erfuhr, war das Juni Liam die Flausen in den Kopf gesetzt hatte.

„Es tut mir leid", sagte er mit leiser Stimme.

Doch Liam bleib still. Keine Antwort. Nichts.

Lex traute sich nicht ihn anzuschauen. Und so liefen sie weiter.

Bis irgendwann, die Trümmer weniger wurden, die Straße freier und die Stadt lichter. Hier und da wuchsen Gräser im hohen Maßen und verschlangen, die menschliche Architektur. Sie würden diese Stadt nie wieder sehen, schwor sich Lex tief in seinem Inneren. Irgendwo neu anfangen, wo es keine Vergewaltiger, Mörder und Diebe gab. Keine Gläubigen! Wo er mit Liam sein durfte, wie er wollte. Wie niemand anderem ihm diktierte. So klein der Wunsch und doch so unmöglich die Hürde, die es zu überwinden galt, denn vor ihm stand ein Bekannter der Große Don.

„Halt!", rief er. Mit verschränkten Armen blockierte er den Weg nach draußen in die Freiheit.

Doch Lex war gar nicht in der Stimmung, große Reden zu schwingen oder groß zu diskutieren. Sein Entschluss war so sicher, wie das Schlagen im Freiheitshaus. Wie der Tod dieser Stadt. Wie der Hass auf diese Welt.

„Wir verschwinden!", sagte er daher nur und zog Liam.

Doch der große Don war viel Muskulöser und stärker. Er tat gar nicht der Gleichen Lex und Liam durchzulassen.

„Ich darf euch nicht gehen lassen!", sagte er und schubste Lex zurück.

Gerade als er diese Worte sprach, begannen die Glocken zu läuten. Die Menschen zu schreien. Die Stadt verfiel in Aufruhr. Sämtliche Wachen der Stadt wurden mobilgemacht.

„Sie haben ihn gefunden", sagte Lex und spürte wie die Panik in ihm aufstieg. „Wir müssen weg von hier! Bitte lass uns gehen!"

„Juni hat es mir verboten! Ich soll dich mit Gewalt festsetzen, wenn du nicht hörst!", rief er aufgebracht.

Und als Lex sich trotz seiner erneuten Warnung an ihm vorbeidrängen wollte, wurde er von den riesigen Pranken zu Boden gerissen.

„Ich scheiße auf Juni! Ich will nicht mehr. Liam will nicht mehr!", rief er seinen Frust heraus. Bewegungsunfähig.

„Juni wird euch helfen!"

Als ein wütendes Knurren ihn in Mark und Bein erschütterte. Sofort ließ er von Lex ab und strauchelte zurück.

„Du liegst falsch großer Bruder!", waren die Worte, die der Kleine Don tränenverschmiert herausschrie. Er streichelte Fussel behutsam übers Fell und erntete bei ein verdutztes Gesicht. „Juni wird ihnen nicht helfen. Er will sie ausliefern!"

„Aber warum! Sollte er das tun? Du erzählst Märchen kleiner Mann", sagte der Große Don. Er hoffte auf ein freudiges Gesicht „Juni würde doch niemals..."

„... Doch! Die beiden haben sich geküsst! Ich habe es gesehen!" Sein Brustkorb hob uns senkte sich. So schnell wie es einem verängstigtem Kind nur möglich war. Die Worte die ihm vorhin noch so schwer fielen zu formulieren, schafften nun leicht den Weg über seine Lippen. Doch anders als er das letzte Mal diese Angst spürte, fürchtete sich der Junge nun um Lex und Liam. „Unter der Eiche am Fluss! Ich hatte Angst, dass ihr mir böse seid. Ich verkaufe Lex nicht und Liam schon gar nicht! Ich verstehe euch Große nicht! Nur weil sie sich mögen, sind es doch keine bösen Menschen und ich werfe sie nicht den Gläubigen zum Fraß vor. Sie sind doch immer unsere Freunde gewesen."

Der Große war sprachlos. Sein sonst so vorschnelles Mundwerk blieb geschlossen. Stattdessen ging er Kommentarlos zu einem Holzbrett, das am Boden lag, nahm es auf und drückte es Lex in die Hand.

„Lex! Ich habe einen Fehler gemacht und dir und Liam wichtige Sekunden geraubt. Ich weiß nicht was das richtige ist. Aber ich vertraue meinem Bruder! Schlag zu! Feste! Das ich schlafe. So kann Juni mich nicht anklagen und ihr, die Stadt verlassen. Versprich mir dass ihr lauft, dass ihr rennt, dass ihr glücklich werdet!"

Die Worte des Großen Dons waren voller Ehrlichkeit gesprochen. Tränen füllten seine Augen und weckten sein weiches Herz. Dann zeigte er mit seinem Fingern auf seinen Hinterkopf. Als wolle er Lex signalisieren wohin er zu schlagen habe.

Der kleine Don nickte Lex zu und mit seiner Erlaubnis, schlug er zu. Wuchtig sank der Große Hühne zu Boden und schlief seelenruhig, während in der Stadt das Chaos brannte.

„Danke! Du hast uns das Leben gerettet", sagte Lex ein letztes Mal. Er umarmte den Kleinen Don feste, bevor er mit Liam und Fussel endgültig floh. Bald schon verschluckte sie der Horizont. Liam verlor kein Wort.

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