Kapitel 44

Die weiße Truhe lag fest umschlossen in Lex' Hand. Seine Finger fuhren entlang der glatten Oberfläche. Der Duft seiner Mutter klebte noch an ihr und wurde von der staubigen Schicht nicht verdrängt. Nachdem er diese genauer beobachtete, glänzte sie wundervoll im Licht der Fackeln. Schwarze Linien überzogen die makellose Schachtel in geraden Strichen. Ein kleines metallenes Schlüsselloch verschloss ihren Inhalt.

In voller Behutsamkeit, als hätte er einen winzigen Vogel - frisch geschlüpft aus der engen Schicht an Eierschalen - zwischen seinen Fingern, hütete er seinen unermesslich teuren Schatz.

Das Schloss war wundervoll verziert. Dietrich und flinke Finger öffneten den Schließmechanismus problemlos. Mit einem Klicken gab die Schachtel ihren wertvollen Inhalt preis.

Ein Ring steckte in einem weichen roten Samtbett. Die Holzarbeit war erstklassig. Keine Risse, keine Makel, keine Schäden. Perfekt. Einzigartig. Vom staubigen Außen sah Lex keine Spur mehr. Das Innere erstrahlte von solch wundervollem Purpur, dass er nicht wusste, ob es jemals die Sonne und ihre ausbleichende Strahlung sah.

Je länger er die verzaubernde Farbe betrachte, desto größer wurden seine Augen. Als zöge ihre eindringliche Farbe immer tiefere Spuren in seinem Kopf. Er bemerkte, wie sehr ihn dieser Glanz hypnotisierte.

Umso mehr fühlte er, wie sich ein Seil um seinen Hals schnürte und seine Luft in den Lungen immer rarer wurde. Schnell schlug er das Schächtelchen zu, nur um sich zu versichern, dass wirklich nirgends ein Schelm oder Gierhals herumlungerte und sich seinen Schatz unter den Nagel reisen würde. Aber die Gasse war leer. Menschenleer.

Verletzlich, verzweifelt und schwach rutschte er an der Wand herab, ließ sich neben Fussel nieder und wagte erneut einen Blick in das Innere.

Dieses Mal war es der Ring, der seine Augen einfing. Noch nie in seinem Leben hatte er einen solchen Ring gesehen. Wie die Marmorierung eines Holzstückes zogen sich faltenartige Schichten übereinander, verschmolzen zu wahrlich wundervollen Figuren, die in filigraner Arbeit endlose Details beherbergten. Es erzählte eine Geschichte, die sich wiederholte, denn der Ring war rund. Aber Lex wusste nicht, wo der Anfang war.

Neben den Verzierungen gab es Symbole. Die verschiedensten Variationen, die er kaum in seinen Träumen erahnen konnte. Sie wirkten Weltfremd, dennoch vollkommen und abstrakt. Keine Zeichen, die er kannte. Es waren viel mehr flächenförmige Figuren, die ihre Konvexität verloren und wie Sterne oder eingedellte Vierecke, Dreiecke und Fünfecke sich farblich vom titanweißen Muster heraushoben.

Lex entschied für sich, dass sie wohl die Geschichte auf dem Ring erklären würden, denn sie waren in regelmäßigen Abständen zwischen den Figuren angeordnet. Doch leider konnte er sich aus ihren verirrten Symbolik keinen Reim bilden.

Eines war sicher: Ein solcher Ring konnte nur von einem absoluten Meister auf dem Gebiet geschaffen worden sein.

Wie viel Wert er wohl haben mochte?, überlegte er sich.

Als ihm plötzlich ein Zettel auffiel. Unscheinbar im Deckel der Truhe. Es waren Worte angeschrieben. Worte, die der Feder seiner Mutter entsprangen. Die verschnörkelten Zeichen hatte er nur selten zu Gesicht bekommen, als er ihr als kleiner Junge und über ihre Schulter blickte. Er konnten nie lesen, hatte nie Interesse daran, diesen nutzlosen Kram zu erlernen. Er wollte lieber herumturnen und die Welt in der Obhut und im Schutz seiner Mutter erleben. Doch als sie schwach wurde, die Kolz sie befleckt hatte, ihr die Kräfte geklaut hatte, konnte er sich nicht aufraffen, verpasstes Wissen zu erlernen.

Das weiße Blatt, das keine Vergilbung oder Risse aufwies, wurde nass, als Lex' Tränen an seiner Nasenspitze sich sammelten und herabtropften. Das alte Papier sog die Flüssigkeit auf und die schwarze Tinte begann zu verschmieren. Als er dies bemerkte, versuchte Lex hastig die Flüssigkeit mit seinem Ärmel aufzuwischen. Allerdings verschmierte dabei das einzige Wort, das er entziffern konnte – sein eigener Name Lexton – geschrieben mit der geliebten Handschrift seiner Mutter.

Schniefend wischte er mit seinem Ärmel die störenden Tränen aus dem Auge. Er hatte sich geschworen, nicht mehr zu weinen. Stark zu sein, wie die Gläubigen es ihm gelernt hatten. Er war ja schließlich kein kleines Mädchen!

Er konnte den Blick keine Sekunde länger auf den Inhalt der Schachtel werfen. So schloss er das Kästchen, was ihm schwer fiel, denn hier und da verschwamm seine Sicht vollkommen.

Er legte seinen Kopf zurück. Bemerkte, wie die kalten Tränen unaufhörlich seine Wangen herabliefen. Wie er am liebsten voller Schmerzen dem Schluchzen freien Lauf lassen wollte.

„Vielleicht bin ich doch ein Mädchen?", schluchzte er, als er seine Gefühlen nicht zurückhalten konnte. Am Boden zerstört suchten ihn seine Ängste heim. Sein Körper zitterte.

Fussel lag neben ihm. Spendete ihn Trost und wärme, doch nun begann der Hund seinen Kopf zu heben und aufmerksam die Straße zu beobachten.

Als sich gleichmäßige Schritte auf ihn zu bewegten. Juni und der kleine Don liefen die Straße entlang. Sie blieben stehen und betrachteten Lex' Elend.

„Kannst du sie zurückbringen?", flehte Lex Juni an.

Doch Junis schütteln des Kopfes, ließ die Wunde erneut aufklaffen. Seine Hände steckte Juni tief in die Taschen seines schwarzen Mantels und die staubige Mütze zog er tief in sein Gesicht.

„Steh auf, Lex! Du kannst hier nicht alleine verweilen", forderte er stattdessen.

Aber Aufstehen verbrauchte zu viel Kraft. Energie, die er nicht hatte. Er vergrub seinen Kopf zwischen seinen Knien und die Regentropfen am Himmel durchweichten gierig seinen Rücken.

„Ich bin nicht alleine. Fussel ist bei mir und Liam," schluchzte er.

„Liam? Ich sehe ihn nirgends. Wo ist er?"

„Er ist nicht hier."

„Ist es nicht schrecklich, dass er dich in einer solchen Situation alleine lässt?", fragte Juni. Der Kleine Don riss erschrocken die Augen auf. Die konfrontierende Frage ließ neue Gedanken in Lex' Kopf tanzen.

Sein Atem setzte für eine Schrecksekunde aus. Er fühlte einen tiefen Stich in seinem Herzen. Junis Worte erregten sein inneres, verbrannten seine reine Seele. Wie schmerzhaft war die Einsamkeit, der er gerade wie nackt in einem Blizzard ausgesetzt war.

„Es fühlt sich schrecklich an oder? Während du deine Mutter vor deinen Augen verbrennen siehst, lässt es sich Liam nirgends blicken."

„Er würde, das nie tun!", schrie Lex. Seine Stimme war erzürnt. Wie konnte es Juni nur wagen über Liam so schlecht zu reden?

„Ach, nein? Vielleicht braucht er dich gar nicht mehr?"

„So ein Schwachsinn! Liam würde das niemals tun!", unterbrach der Kleine Don Juni und funkelte ihn wütend an.

Aber Juni hob nur die Augenbrauen betrachtete den Winzling vor sich und lächelte.

Daraufhin begann der Kleine zu stottern und unsicher seine Hände zu kneten.

„Weil... Weil ich gesehen habe wie....", begann er. Doch dann musste der Kleine Don tief durchatmen. „Weil ich nicht glaube, dass Liam so etwas tun würde!"

„... oder ihm ist etwas zugestoßen!", versuchte Lex eine Antwort zu finden. Das war die einzige Erklärung, die ihm einfiel, das einzige was Sinn ergab.

„So ein Quatsch, wie Lange lebt Liam schon in dieser Stadt ihm wird wohl kaum etwas in den Straßen zugestoßen sein", sagte Juni.

„Er ist nicht in den Straßen!", sagte Lex voller Aufregung. „Er ist bei Orobous!"

Liam würde ihn niemals alleine lassen. Genauso wie er Liam niemals allein lassen würde. Doch just in diesem Moment erinnerte er sich an die grüne Wiese, die so unregelmäßig umgegraben worden war. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Diese Wiese war ein Friedhof, aber nicht für die Gläubigen.

Sein Herz raste. In ihm stieg Panik auf. Er hatte Liam alleine gelassen!

„Juni, was soll ich tun? Liam ist bei den Gläubigen und sie werden ihm schreckliches antun. Die Frau! Sie hat es gesagt, mich gewarnt! Nicht ich bin es dem schreckliches widerfährt – sondern Liam."

Seine Worte überschlugen sich. Seine Gedanken folgten keinem roten Faden. Ohne dass er wusste wie ihm geschah, stand er auf.

„Lex, Warum habt ihr das getan? Ich habe doch gesagt, nachdem wir die Richterin beseitigt haben, braucht Liam nicht mehr zu dem Gläubigen zu gehen!"

„Du musst mir jetzt ganz genau zuhören! Liam ist in Gefahr. Du musst dorthin. Aber lass Fussel hier. Er ist zu auffällig. Wenn du recht hast mit deiner Vermutung, Lex, musst du Oboruos finden, denn Liam wird, wenn er noch am Leben ist, bei ihm sein! Erkundige dich im großen Freiheitshaus. Dort steht ein Stuhl der Sünden. Frage dort nach dem Aufenthaltsort von Oborous. So kannst du sicherstellen, dass du nicht gesehen wirst. Vielleicht ist es noch nicht zu spät! Ich bringe währenddessen den kleinen Don nach Hause das ihm nichts geschieht und komme so schnell es geht nach" riet Juni ihm.

„Und ich passe auf Fussel auf!", ergänzte der Kleine Don stolz.

Das war das erste Mal, das Juni den Hund nicht als Monster oder Biest beschrieb, doch Lex dachte nicht darüber nach. Er vertraute Juni und rannte los. So entging ihm auch das durchtriebene Lächeln in dessen Gesicht oder das leicht schimmernde Blut an den Fingerkappen und Sachen.

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