Kapitel 43
Ein sanfter Regen schlug ihm am Morgen ins Gesicht, was Lex aus seiner Lähmung der Trauer erwachen ließ. Als er mit Fussel an seiner Seite durch die Straßen torkelte, sah er die Verwüstung des gestrigen Tages. Ein Anblick, der ihm erneut die Tränen in die Augen trieb.
Der Geruch von Verbrennung und Rauch war verschwunden, nur noch die von Einsturz bedrohten, zerfallen Häuser blickten schief auf ihn herab. Er schleppte sich weiter durch die verlassenen Gassen. Hunger und Kälte stellten ein Hindernisse dar. Doch sie waren überwindbar. Und bald stand er dort, wo er das Erbe seiner Mutter vermutete. Schweren Herzens betrachtete er die alte Nachbarschaft.
Die altbekannte Tür hing schief in den Angeln. Gewaltstammes aufschlagen der Roten Hand demolierte sie nachhaltig.
Der Ort, den er so lange Zuhause nannte, an dem er sich wohl fühlte, an den er so viele schöne Erinnerungen besaß, war nun ein Ort geworden, der ihn mit Angst und Hass gleichermaßen erfüllte. Gar die Stimmen, die leise durch die staubigen Flure des Holzverkleideten Treppenaufganges flüsterten, weckten nostalgische Erinnerungen.
Je länger er den Geräuschen aus dem Innern Gehör schenkte, desto mehr wurde ihm bewusst, dass dieses Haus nur von Frauen bezogen wurde. Wahrscheinlich, um die Gelüste dieses stinkenden Mannes zu befriedigen, der kaum Alkohol von Wasser unterscheiden konnte, der kaum genug bekam, wenn er Dinge in sich hineinschlag, der kaum Grenzen kannte und dem, der kaum verstand was Menschlichkeit bedeutete. Denn alles was diesen Mann interessierte, waren die Dinge, die ihm eigenes Wohl erbrachten.
Lex Herz schlug in einem rasanten Tempo. Innerlich betete er, dass der Hausherr ihm nicht über den Weg laufen würde. Er würde kaum seine Wut im Zaum halten können. Doch mit der Wunde, die Fussel an seinem Bein hinterlassen hatte, wäre es ungewöhnlich, dass der Hausherr durch die Gegend spazieren könnte.
Er verfluchte sich. Zum einen hätte dieser Widerling es verdient von Fussels Zähnen erneut zu werden, zum Anderen wollte er Fussel nicht diesem verschmutzten Blut aussetzen.
Kaputt und alt, der modrig-gammelige Geruch stieg ihn in die Nase, als er die knarzenden Treppenstufen in Richtung des Zimmers hinauf ging.
Wie erwartet passte der rostige Schlüssel nicht mehr. Der Hausherr machte sich die Mühe und ließ das Schloss wechseln. Doch dies stellte für Lex' agilen Finger keine große Herausforderung dar. Es war genauso billig und alt wie die alten Schlösser, die der Widerling sonst verwendete. Ein kleiner Twist, ein kleiner Stoß, ein heftiger Tritt und die Tür war offen.
Lex erwartete viel in diesem Moment, dass der Duft seiner Mutter aus dem Raum ihn erneut die Tränen in die Augen trieb allerdings nicht. Zeit für weitere Trauer hatte er nicht. Stattdessen begann Fussel neben ihm zu knurren. Die Aggressivität galt der im Bett liegenden Person - eine Frau, wie sollte es anders sein?
Jene, die ihn nun mit geschockten Gesichtsausdruck betrachtete, die dünne Decke seiner Mutter über ihre entblößten Brüste zog.
„Schickt der Hausherr dich?", fragte sie verängstigt.
Perplex betrachtete Lex die Frau. Ihm blieb das Wort im Hals stecken, seine Mutter war keinen Tag tot und der Hausherr hatte sich bereits einen Ersatz für die Wohnung gesucht. Viel schlimmer! Eine junge Frau mit perfekten Rundungen, glatter haut und großen Brüsten. Geschmeidiges langes Haar und vollkommen unschuldig und unbefleckt.
„Der Hund macht mir Angst", sagte sie. Ihr Körper begann zu zittern.
Lex erwachte aus seiner Trance. Überforderung. Er wusste sollte sie schreien, wäre er in Gefahr. Doch seine Reaktion glich der, die Juni wohl getroffen hätte. Zu groß ist der Einfluss seiner Lehrstunden auf Lex in diesem Moment und so antworte er skrupellos: „Er reist nur diejenigen in Stücke, die laut Schreien!"
Seine Stimme war kalt und gefasst. Als hätte er schon tausende Male, mit dem Leben einer Person gedroht.
Habe ich das gerade wirklich gesagt?
Vollkommen von sich selbst überrascht, hoffte er inständig, dass diese Frau seinen Bluff nicht durchschaute. Bis ihm auffiel, dass dies kein Bluff war. Fussel war ein Riesenwolfshund. Die Art von Tieren, die zur Menschenjagd von den Gläubigen eingesetzt wurden. Die ohne mit der Wimper zu zucken, den Befehlen des Herrchens Folge leisteten.
Dies war das erste Mal, dass Lex Macht spürte. Die Macht der Gläubigen, die mit Gewalt und Angst, die Menschen zum Schweigen brachten. Er war in diesem Moment nicht besser als sie. Dennoch musste er sich eingestehen, dass diese Vorstellung verlockend war. Einen solchen Befehl, diese Frau zu zerfleischen, würde er wohl aber keineswegs über sein Herz bringen und das obwohl sie in den Sachen seiner Mutter geschmückt im ihrem Bett saß. Dabei wäre es so einfach.
Sie nahm diese Einrichtung, für die er so lange gearbeitet hatte, für die er Schweiß und Tränen geopfert hatte, für die er sich unter Junis Aufsicht abgeschulten und in Gefahr gebracht hatte, als Selbstverständlichkeit an.
Dabei war alles so, wie er es zurückgelassen hatte. Liams handgeschnitzten Schüsseln, der kleine Herd in dem Lex sein Brot backte und selbst die Reste der Suppe im kupfernen Kessel über der Feuerstelle. Die dreckigen Schüsseln schienen den Schluss nahezulegen, dass sie offensichtlich gemundet hatte.
„O-O-Okay, i-ich verspreche dir, d-dabei keine Ge-ge-räusche zu machen!", sagte sie schüchtern und ließ die Decke, die bis eben noch ihre Brüste bedeckten, fallen.
Lex Augen vergrößerten sich, als ihm bewusst wurde, dass die Frau offenbar ein paar Dinge falsch verstanden hatte.
„Nein, dafür bin ich nicht hier!", rief er ihr zu.
Was hat dieses abartige Schwein nur mit ihr angestellt, dass sie durch so schnell bereit ist, sich vor mir zu entkleiden?, dachte Lex sich.
Würde sie bellen, könnte er kaum sie kaum von Fussel unterscheiden. Ein gehorsamer Hund, der ohne etwas zu hinterfragen, das Befohlene ausführen würde.
Doch er erntete nur einen verwirrten Blick, der voller Naivität und bevorstehender Angst gefüllt war. Er glaubte gar, das Schimmern von Tränenflüssigkeit zu erkennen.
Umso größer war ihre Erleichterung, als Lex kundtat, dass er sich nur die knarrenden Holzbretter, auf dem Boden anschauen wollte.
Lex hatte viele Arten der Macht kennengelernt. Die Macht der Gläubigen, die mit harter Hand regierten. Junis Macht durch Wissen. Die Macht der Liebe, der er selbst unterliegt und die ihn verleitet, unverantwortliche Entscheidungen zu treffen. Die Macht der Stärke, die das Monster aus der anderen Seite des Risses ihn gelehrt hatte. Und die Macht der Manipulation, die er nun in diesem Moment zu Gesicht bekam. Alle hatten eine Gemeinsamkeit. Sie machten ihm Angst. Denn alle Mächte endeten immer darin, dass der Niedrigste Qualen litt.
Ohne der Frau weiter Aufmerksamkeit zu schenken, ging er schnurstracks auf die Holzdiele zu. Das Haus war mit so vielen Erinnerungen verbunden, dass es ihn schmerzte, über die knarrenden Bretter zulaufen. Allerdings wusste er genau, auf welche seine Mutter referenziert hatte. Unscheinbar, dennoch lose, lagen sie wie alle anderen auch ebenerdig nebeneinander. Die Nieten, waren vor langer Zeit abgenutzt und konnten so den Brettern nur noch bedingt Halt gebieten. Seine Finger gruben sich in den Holzspalt und er hob sie an. Eine kleine Wolke mit Staub wirbelte herum, kitzelte seine Nase und brachte ihn fast zum Niesen.
Unter einer ähnlich dicken Schicht aus Haaren, Flusen und Schmutz befand sich eine ausgeblichene alte Schatulle. Sie war recht klein, doch das matte Birkenholz schien in weißem Licht. Er erhielt das Objekt seiner Begierde, das Erbe seiner Mutter. Seine Augen wurden feucht, die Erinnerungen zu frisch.
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