Kapitel 42

Zusammengekauert saß Lex erneut an der steinernen Hauswand, die ihm in letzter Zeit so viel Gesellschaft bescherte. Sein Körper zitterte vor Erschöpfung, vor Angst, vor Kälte und vor Trauer. Wie alleine er sich plötzlich fühlte - wie verletzt und wie machtlos - war keineswegs möglich in Worte zu fassen. Als säße er in einem Loch, das ausgefüllt mit Schwärze nicht einmal seinen eigenen Körper sichtbar machen würde.

Vorwürfe plagten ihn. Seine Mutter war immer für ihn da, doch er nie für sie und gerade als sie ihn am meisten brauchte, sah er die offensichtlichen Zeichen nicht. Die Gedanken in seinem Kopf fanden keine klare Struktur. Sie kreisten wie wild, sprangen von Thema zu Thema zu Thema. Er hatte weder eine Bleibe noch etwas auf dem Teller. Sein Magen knurrte, doch die Trauer fesselte ihn an Ort und Stelle mit seinem Kopf zwischen den Beinen und den Schultern gesenkt.

Er wollte sich so fest an alle Details erinnern - keinen einzigen Moment, den er mit seiner Mutter zusammen verbracht hatte, vergessen, doch im Endeffekt begann er zu vergessen. Bald schon verschwamm das Aussehen seiner Mutter und was übrig blieb in seinen Gedanken war ein bunter Haufen aus Farbe und Gefühlen, den er einst Mutter nannte.

Welche Farbe hatten ihre Augen? Waren sie blau? Waren sie braun? Waren sie grün? Oder waren sie Grau?

Lex wusste es nicht mehr. Dabei hatte er sie doch gestern erst gesehen, wie man sie verbrannt hatte. Es schmerzte ihn, dass er nicht genauer hingeschaut hatte. Aber die Zeit war nicht umkehrbar.

Aber ihre Haare waren doch weiß! Immerhin wusste er dies noch. Doch was waren sie, bevor die Kolz all die Farbe aus ihren Strähnen gesaugt hatte? Lex hatte es vergessen.

„Braun, schwarz oder waren sie vielleicht doch gar platinblond?"

Er hatte nie drauf geachtet. Und sich die Fragen wie ein Verrückter vor sich herzuflüsstern, schien keine Abhilfe zu schaffen. Stattdessen wurden die Texturen des Balles aus Farbe in seinem Kopf immer undeutlicher.

Seitdem die Realisation am gestrigen Tage eingesetzt hatte, dass seine Mutter nicht mehr war, vergoss er ununterbrochen Tränen. Die Nacht fanden seine Augen kaum den nötigen Schlaf, sodass sich seine Gliedmaßen lasch und träge anfühlten. Anfangs wollte Juni für ihn da sein, allerdings wies Lex ihn ab. Er wollte alleine sein und verließ daher das Zimmer ihm Trunkenen Winzer.

All diese Gedanken brachten seinen Kopf zum Schmerzen. Sein Mund war trocken, denn auch auf die Einnahme des Wassers verzichtete er. Hier und da floss eine salzige Träne seinen Mundwinkel entlang. Längst schon hatte er aufgegeben sie aus dem Gesicht zu wischen. Seine Wange waren wund, schmerzten vom Reiben und waren so voller Röte.

Ein sehr bekanntes Bild in den Straßen der Stadt. Verzweifelte Menschen, die keinen Ausweg mehr hatten. Sie weinten meist nie lange, den der Tod würde sie holen kommen und durch den Riss begleiten. Daher versammelten sich bereits einige Menschen in einem Umkreis um ihn herum, nur um als erste die Sachen, die er am Leibe trug, in die Hände zu bekommen.

Einige hätten möglicherweise kaum so lange geduldig ausgeharrt und den Sterbeprozess beschleunigt, wäre nicht Fussel Präsenz, der die gierigen Diebe letzter Habseligkeiten das Fürchten lehrte.

Doch die Meisten ignorierten den wimmernden Jungen. Sie lachten, spotteten und belächelten seine Situation. Schließlich stand auch jedem noch so Elenden die Tür zur Verleibung offen. Er könnte problemlos in den Dienst eines reichen Kaufmannes eintreten, seine Zunge opfern und müsste sich - die drei Jahre, die sein Körper unter der belastenden, anstrengenden Arbeit überleben würde - niemals Gedanken um Nahrung oder Bett machen.

„Pfui, lass uns schnell von hier verschwinden!"

„Schau ihn dir an! Und der verfilztet Köter! Ekelhaft"

„Ich habe noch nie einen Jungen weinen gesehen, der sollte sich was schämen. Er hat irgendwann eine Frau zu beschützen, wie will jemand, der so erbärmlich ist, das schaffen?"

Die Worte verletzten Lex. Es waren wieder die Stimmen, die über ihn urteilten, sich die Münder zerrissen und die sein Leid doch angeblich so viel besser einschätzen konnten, als er.

„Ich würde mir an deiner Stelle einen sinnvollen Beruf suchen, Junge. Geh ins Bergwerk oder in die Schmiede. Wenn du Geld brauchst! Dann musst du nicht mehr heulen, weil du kein Geld mehr hast", riet ihm einer.

„Ja genau! Die Holzfäller suchen auch nach starken Männern, los du bist jung!", rief ihm ein anderer zu.

Doch sie verstanden nicht. Was auch immer sie ihm für unsagbar tolle Hinweise gaben, es war nichts davon, worüber sich Lex momentan den Kopf zerbrach.

„Wieso urteilt ihr, ohne zu wissen warum es mir so ergeht!", murmelte er leise in seinen Ärmel. Alles was sie erreichten, war das Lex sich immer mehr zurückzog.

Fussel bemerkte dies. Ob er Lex schnelleren Herzschlag hörte oder das Zittern, sowie das verkrampfen seiner Hände, die immer fester in seine Oberarme kniffen, spürte, spielte für Lex keine Rolle. Jedoch tat er das Beste in seiner Situation, denn Fussel begann jeden noch so freundlich wirkenden mit aggressiven Knurren, gefährlich-gefletschten Zähne und aufgestellten Nackenhaare das Fürchten zu lehren. So beschleunigten die Passenten ihre Schritte und vergaßen schon bald den verzweifelten Jungen, nur um ihre Gespräche den neuen Gerüchten zu würdigen.

Lex war ihm so unsagbar dankbar. Nicht nur, dass dieses Tier ohne sich zu beklagen und mit voller Selbstverständlichkeit neben ihm lag, sondern auch, dass er Lex beschützte. Ihm Wärme spendete, die sein kalter Körper so dringend gebrauchen konnte. Wie in einem weiches, kuscheliges Kissen drückte Lex seinen Kopf in Fussels Fell und begann zu von Schmerz geplagt zu schreien.

Als er so tief in seinem Gedächtnis schwelgte, fiel ihm ein Satz seiner Mutter ein, den sie ihm vor Jahren anvertraute. „Die hölzernen Bretter hier im Haus sind nicht alle fest. Unter dem dritten der hintersten Reihe, habe ich etwas versteckt. Das du nehmen sollst, wenn ich nicht mehr bin!"

Damals hörte Lex ihr nur mit einem halben Ohr zu. Kaum war sie fertig mit erzählen, rannte er nach draußen, wie sehr wünschte er sich nun diese Zeit vollkommen ausgegossen zu haben. Im Moment gab nur noch einen Menschen der ihn jetzt wirklich aufmuntern konnte. Und das war Liam, doch er war nicht da. Ein letzte mal wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Was auch immer dort ist, es gehört mir!"

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