Kapitel 38
Sie verweilten ungesehen auf dem Dach, bis das Monster sich in die schwarzen Schatten zurückzog und die Glocken ihren Singsang über die Stadt verströmen ließen. Das massive Metall hämmerte gegen die Schlagwände und markierte den zeitlich getakteten Leseverlauf der Predigt.
Für alle Beteiligten eine Erleichterung. Und mit der Erkenntnis, dass sie endlich der Situation entkommen waren, die ihr Leben in letzter Zeit diktiert hatte, begann sich eine nachträgliche Welle der Panik in ihren Körpern zu formen. Ein ungewohntes Gefühl, denn bisher waren sie die Mitte der Zielscheibe der verhassten Frau am Boden gewesen. Doch nun war sie nicht mehr. Sie war verschwunden; tot und über den Riss in die dunkle unbekannte Welt gewandert. Ihr Terror fand ein Ende. Ihr Wort verstummte auf ewig. In einem kurzen Wimpernschlag, als das Monster ihren Körper durchbohrte und ihren Geist aus dem Körper riss und ihre Seele fraß.
Nun waren sie frei. Vermeintlich. Denn weder änderte sich das System, noch durften sie ungestraft ihrem Verlagen nachgehen. Nein, die Gesellschaft war genauso abartig und unterentwickelt, wie sie es schon immer war und wie sie es immer gewesen war. Der Posten dieser Frau würde bald erneut durch den Nächsten mit einer ähnlichen Tyrannei ersetzt werden, die möglicherweise vergangene Ängste neu aufsetzen würde. Sie hatten keineswegs der Schlange den Kopf abgetrennt. Sie hatten keineswegs ihre Ketten gelöst. Sie waren noch immer genauso gefesselt und verfolgt, wie sie es schon immer waren gewesen waren.
Gewalt schuf Freiheit, aber nur für einen kurzen Moment.
Die schillernden Sonnenstrahlen ließen das Dächermeer funkeln. Dabei glänzte der Tau der Nacht in bunten Farben. Friedlich begann die Stadt zu erwachen.
Fussel sonnte sich seelenruhig auf den Dächern zu Lex' Füßen und genoss, wie sein flauschiges Fell gekämmt wurde.
„Lass alles raus!", forderte Juni, der dem Großen Don auf dem Rücken klopfte, als dieser all seiner Übelkeit freien Lauf gab. Er erbrach schon längere Zeit und inzwischen waren es nur weiße Spuckefäden, die aus dem großen muskulösen Hünen herausgewürgt wurden.
Liam hatte damit begonnen seine geröteten Augen zu trocknen und Lex' Wunden zu versorgen. Großzügig verteilte er die Schmierkwurzeln auf die aufgeschürften Stellen am Rücken und versuchte das Würgemal am Hals zu kaschieren, indem er Lex' Jacke am Kragen etwas nach oben zog.
„Als ich dich...", Liam unterbrach seine Ausführung, denn er war den Tränen schon wieder näher, als er wollte. „Als ich dich dort unten gesehen habe... Ich konnte nicht anders... Ich fühlte mich so machtlos... Am liebsten wäre ich zu dir runtergesprungen... Voller Wut und hätte mich dem Vieh entgegengestellt.... Aber ich hatte solche Angst.... Ich... Es tut mir leid..."
Mehr schaffte er nicht, bevor seine Gefühle ihn erneut übermannten und er mit hängenden Kopf seine Tränen verschleiern wollte. Allerdings entging Lex das leise Schniefen nicht. Auch Fussel drehte seinen Kopf zu Liam, aufmerksam betrachtete er ihn. Lex wandte sich zu Liam und strich ihm die hellblonden Strähnen aus dem Gesicht. Blickte tief in seine Augen mit einen kleinen Lächeln. Ein warmes Gefühl floss durch ihn hindurch, als ihm bewusst wurde, dass sich jemand Sorgen um ihn machte. Jemand, der ihn nicht wie Dreck behandelte. Er hatte Liam so unendlich gerne. Er wollt es ihm zeigen. Ihm seine Lippen auf den Mund drücken. Doch selbst in der kleinen Runde mit Juni und dem Großen Don traute er sich nicht seine Gefühle offenkundig zu zeigen, obwohl diese damit beschäftigt waren, die Hauswand vom Dach aus mit Mageninhalt zu streichen. Stattdessen griff er die zitternden Hände von Liam. Sie waren feucht von den gerade frisch weggewischten Tränen. Fussel erhob sich, ließ die Ziegel unter seinen Füßen klappern. Er war größer geworden. Längst passte der kleine Hund nicht mehr unter Lex' Kleidung. Als würde er Liams Trauer bemerken, versuchte er Liam aufzuheitern, indem er ihn mit der Nase anstupste. Dann legte er sich neben Liam und spendete ihm Wärme.
„Es ist alles gut. Es ist vorbei. Ich lebe. Wir haben es geschafft. Wir sind frei!", sagte er im Irrglauben, wirklich der Despotie der Gläubigen entronnen zu sein. Er drückte seine Stirn an die von Liam und verharrte einen Moment, betrachtete seine Schönheit, die eigentliche Perfektion in seinen Augen.
„Du bist wunderschön", flüsterte Lex so leise, dass es von den Würgegeräuschen vom Großen Don überschattet wurde. Das Liam ihn hörte, bemerkte er, als dieser ihm einen kleinen Kuss auf die Stirn drückte, heimlich, versteckt und unauffällig. Lex verlangte es nach mehr.
„Nicht hier, wenn wir alleine sind. Wenn uns niemand beobachtet!", sagte, Liam dessen Gemüt wieder strahlender erschien. Die Trübseligkeit verließ ihn. „Ich bin froh, dich zu haben!", ergänzte er und wandte sich Lex' Verletzungen erneut zu.
So sehr es ihn schmerzte, Liam lag richtig. Nicht nochmal wollte er ihn in eine Situation bringen, die von anderen als schreckliches Vergehen interpretiert werden könnte. Also schloss er seine Augen und konzentrierte sich auf die streichelnden Fingerspitzen an seinem Rücken, die ihn liebevoll behandelten.
„Es gibt mir Unbehagen, dass du zu diesem Gläubigen gehst!", sagte Lex nach einer Weile des Sitzens. Er atmete aus, er war sich nicht sicher, ob er diese Sache ansprechen sollte. Obwohl er sich klar war, dass Liam dies nicht aus eigenen Stücken tat. Aber diese Sorge, dieses Unbehagen, dass er dabei fühlte, war schlichtweg nicht in Worte zu fassen. Irgendetwas sagte ihm, dass er den wichtigsten Menschen in seinem Leben einer unermesslichen Gefahr aussetzen würde.
„Ich kann noch nicht weg von Oborous! Ich werde nochmal zu ihm gehen."
„Aber, Juni meinte, es ist vorbei, wenn wir diese Frau überwältigt haben!", protestierte Lex voller Bestürzung, lauter, als er es wollte.
„Was? Lex, wenn du mit mir reden möchtest, dann komm her! Ich habe die Hände voll!", schrie Juni ihm abgelenkt rüber.
„Schon gut!", würgte Liam ihn ab. „Es ist so... Wenn ich nicht völlig falsch liege, dann haben die Gläubigen ein Heilmittel gegen die Kolz. Deswegen muss ich dort nochmal hin. Vielleicht kann ich Oborous überzeugen es mir zu geben. Ich kann deiner Mutter helfen, Lex. Ich werde es beschaffen!"
Sie kamen zu spät zur Predigt. Jeder von ihnen erhielt als Strafe zehn Schläge mit der Peitsche. Eine schmerzhafte Erfahrung, die Lex keineswegs erneut durchleben wollte. Dabei waren die schrecklichsten Schläge nicht jene, die er auf seiner eigenen Haut spürte, sondern die, die auf Liams Rücken niederprasselten. Aber er biss die Zähne zusammen auf dem Tuch in seinem Mund, das schon tausende Zähne gesehen hatte. Die Hoffnung, die Krankheit seiner Mutter heilen zu können, ließ ihn erblühen.
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