Kapitel 36
Die Gebäude, die er eben noch so ausgiebig bestaunt hatte, flogen an ihm vorbei, als Lex durch die Gassen gejagt wurde. Die Richterin folgte ihm auf Schritt und Tritt. Ihre langen Beine ließen sie über die Straßen gleiten – hinweg über die Schlaglöcher im Boden, die, je weiter sie den Jungen weg vom Stadtkern verfolgte, zunahmen. Auf seiner Flucht sprang Lex über die Fässer, die lieblos die Ecken der Gassen blockierten und schlitterte unter den Hürden angelehnter Bretter hindurch. Die Richterin dermaßen wütend zu machen, war sicherlich nicht die beste Idee, die er jemals gehabt hatte.
Die großen messinggegossenen Glocken der Turmuhren läuteten. Ein lähmender Klang – das Zeichen, die Freiheitshäußer zu betreten. Doch Lex war zu weit weg, um pünktlich dieser verpflichtenden Veranstaltung beizuwohnen und mit der wutgeladenen Richterin im Nacken war dies auch nicht die höchste Priorität seines Handelns.
Die Glocken würden gleich ein zweites Mal schlagen, dann ein drittes Mal. Und wenn diese Laute verklungen waren, wäre seine pure Präsenz auf der Straße bereits eine solch hohe Straftat, dass sie ihm hunderte Peitschenhiebe einbringen würde. Innerlich betete er zu allen Wesen, die diese Welt von der anderen Seite des Risses beobachteten, dass der Plan in seiner Gesamtheit aufgehen würde. Dabei war der Kiesel, der einen roten Fleck an der Stirn der verhassten Frau hinterlassen hatte, noch gar nicht in der Rechnung der hundert Peitschenhiebe enthalten. Geschweige denn die Zerstörung der Fischerei, die Beleidigung des Systems und dieser Schabracke; und wenn er einmal bei Geständnissen war, könnte er direkt den Raubüberfall und die Vergiftung der Fünftel-Kutsche erwähnen, sowie den Besitz eines Riesenwolfshundes oder seine inneren Gefühle für Liam.
Jetzt, wo er in all seiner Panik die Liste seiner Vergehen durchging und ihm klar wurde, dass er nicht einfach nur mit Peitschenhieben aus dieser Situation herauskäme, erblühte sein Körper voller Adrenalin. Seine Lungen, die eben noch gebrannt hatten wie das Holz unter den Füßen einer Hexe, fassten neue Luft. So sprintete er buchstäblich um sein Leben durch die vermeintlich leeren Gassen der Stadt.
Denn so verlassen waren die Straßen zu Lex' Unglück nicht. Wachen patrouillierten streng entlang ihrer vorgeformten Routen. Immer die Waffe angelegt, Flüchtige oder Verweigerer der Predigt zu fassen. Nach einer Weile der Hast schien die Besinnung in die Richterin zurückzukehren. Die reine Wut, die sie bis eben noch blind gemacht hatte – sie willenlos wie ein wildes Tier Lex hinterherrennen ließ - verlor den Kampf und gab den vernünftigen Gedankengängen wieder freien Lauf.
„Du entkommst mir nicht, du elendes Gesindel!", wütete sie dennoch.
In ihrer Bewegung bremste sie abrupt, holte tief Luft und blies in eine Pfeife, die im Inventar eines jeden Wächters vorhanden war. Das Signal für alle Wachen, dass ein Flüchtiger gesichtet worden war. So konnte jeder aus seiner Richtung den Systemfeinden auflauern und mit einer sinnvollen Positionierung jeden noch so agilen Fliehenden einkreisen und fangen. Auf ihren Gesichtszügen breite sich die Sicherheit des Sieges aus. Da sie wusste, dass sie gleich nicht mehr allein sein würde, verlangsamte sie ihr Tempo.
Schlagartig wurde jede Seitengasse für Lex zur Gefahr. Die dunklen Gänge, die noch nicht vollständig von der aufgehenden Sonne beschienen wurden, begannen nun in gefährlichem Orange zu leuchten. Das Flackern der Lampen sowie die Schritte der aktiv gewordenen Wächter hallten wie ein Wirbelsturm auf ihn nieder. Lex nutzte den Moment, um seine Kräfte zu sammeln. Seine Gedanken zu ordnen. Eine kurze Verschnaufpause einzulegen.
Jetzt standen ihm zwei Pfade offen: Der linke und der rechte. Die Glocken der Türme riefen ein zweites Mal zur Veranstaltung. Ähnlich wie der Schall des Donners brachten ebendiese dumpfen Schläge die Fenster zum Vibrieren. Ängstlich, die falsche Entscheidung zu treffen, entschied er sich für den Rechten, denn er hielt fälschlicherweise die Reflektionen der Sonne in den Scheiben für die Lampen der Wächter.
„Wenn du vor zwei Wegen stehst, solltest du den Linken nehmen!", erinnerte er sich an die Worte der komischen Alten. Wieso sie gerade jetzt so omnipräsent waren, konnte er nicht sagen. Liam stempelte ihr Geschwätz als das einer Verwirrten ab. Lex hingegen hätte in dieser Situation durchaus den Worten der Alten glauben schenken sollen, denn kaum bog er um die Ecke, standen vor ihm zwei alarmierte Wachen bereit, ihn freudig in ihren Armen begrüßen zu dürfen.
Hinter ihm holte die Richterin auf, jedes Zögern von seiner Seite aus ließ den Kreis, den die Jagenden um ihn herum schlossen, immer winziger werden. Er hatte keine Zeit. Keine Optionen. Keine Ideen.
Die Angst erfasste ihn. Die Panik drohte ihn zu übermannen. Von dort, wo die Wächter hergekommen waren, würden gleich mehr dazukommen. Er brauchte eine Idee. Schnell! Sofort! Er begann zu zittern und obwohl er wusste, dass sich der schieren Verzweiflung hinzugeben keine gute Idee war, bebten seine schwitzenden Hände und sein Herz gleichermaßen.
Doch plötzlich ertönte ein weiteres Geräusch - laut, nicht allzu weit weg. Ein Pfeifton, der auf einen Flüchtigen aufmerksam machen sollte. Und ein weiterer und ein weiterer.
Es war ein winziger Moment, in dem die Wächter zögerten, doch Lex erkannte ihn sofort. Seine einzige Chance. Jetzt oder nie. Er rannte auf den rechten Wächter zu, schlug einen Haken zum linken und schlitterte durch die offenen Beine des verdutzten Wächters hindurch. Ein reißendes Geräusch ertönte, als es seine Kleidung zerfetzte und sein Rücken aufgeschürft zu brennen begann. Ein höllischer Schmerz durchfuhr seine Knochen und seinen Lenden. Er hätte seine Hände nutzen können, um sich selbst nicht in diesem Ausmaße zu verletzen, doch er benötigte sie, um eine der herabbaumelnden Pfeifen zu klauen. Es fiel im leicht, den dünnen Strick, an dem sie gebunden war, in der ruppigen Bewegungen zu zerreißen.
Flinke Hände sind deine beste Waffe, etwas, das Juni jedem aus Gruppe eintrichterte, genauso wie das Schlösserknacken. So ging seine Hast in die zweite Runde. Die schrillen Pfeiftöne nahmen in ihrer Frequenz und Häufigkeit zu. Einmaliges Pfeifen, das Geräusch einen Flüchtigen zu sehen, zweimaliges Pfeifen, andere nach ihren Positionen zu fragen und dreimaliges Pfeifen zur Deeskalation einer Situation.
Zu seiner Rechten sah er Juni auf den Dächern stehen, grinsend mit einer Pfeife im Mund. Natürlich war er auf diese Situation vorbereitet.
„Lasst die Spiele beginnen!", rief dieser und blies in voller Leibeskraft in seine Pfeife. So schnell er da war, verschwand er auch schon zu einer neuen Position und ließ dort den schrillen Klang erneut ertönen. Ein schieres Geräuschgewitter, in dem bald auch die anderen Wächter einfielen. Einige bliesen zweimal, andere deeskalierten die Situation. Und immer, wenn die Wächter, die an Lex' Fersen hafteten, in die Pfeifen bliesen, tat Lex es ihnen gleich, manchmal einmal, manchmal zweimal, je nachdem wie viel Luft seine brennenden Lungen hergaben. Die ganze Stadt glich einem Schwarm Vögel, der unter sich in voller Aufregung ein Stück Brot auf dem Boden erspähte, sodass alle Individuen auf diesen Gaumenschmaus mit freudigem Kreischen und Fiepsen herabstürzten. Das komplette Chaos, in dem die so sorgfältig durchdachte Kommunikation der Pfeifen ein reines peinliches Hindernis darstellte, Verwirrung stifteten und der Richterin erstmals das Gefühl der Hilfslosigkeit übermittelt wurde.
Es war der Ärger, den es erneut in der Richterin entfachte, die nun ihrer rasende Wut Lex hinterherhechtete. Sie wollte diesen verzogenen Jungen tot sehen. So viel war klar. Sie wollten ihm einen qualvollen Abgang geben. Sie malte sich aus, wie er kreischen würde. Wie er schreien würde und sie sich an seinem Leid ergötzen könnte.
Befeuert von diesem Gedanken schöpfte sie neue Kräfte, vergrößerte ihre Schritte und reduzierte den Abstand zu Lex. Mit jedem Schritt kam die Richterin näher und näher. Lex konnte schon ihren feuchten Hauch in seinem Nacken spüren. Ihre langen Finger griffen nur haarscharf an seiner Kapuze vorbei. Da ertönten die Messingglocken ein drittes Mal schallend über der Stadt. Ein perfekter Zeitpunkt, denn dort vor ihm war sein Ziel. Hinter dieser Abzweigung. Es war fast geschafft. Dort würde jenes Monster schlummern und die Wirkung der Schlafmittel gerade nachlassen.
Juni hatte anhand des Jagdmusters den Ort, wo es zuschlagen würde, perfekt lokalisiert und einen Fleischhaufen vorbereitet, der gespickt mit Schlaftabletten der Gläubigen war. Nicht nur das! Er hatte obendrein zusätzlich die Dauer des Schlafes des Monsters anhand vom Gewicht, die er mittels der Tiefe und der Fläche des Fußspuren im Dreck errechnet hatte, bestimmt.
Egal, wie Lex es drehte und wendete, Juni war ein Genie, an dieser Erkenntnis führte kein Weg vorbei. Er streckte die Hand aus, so nah war er. Keine zehn Schritte.
Plötzlich wurde er rabiat zu Boden gerissen. Die Richterin brachte ihn zum Sturz, mit einem Hechtsprung überbrückte sie die Distanz, verkeilte ihre Finger in Fetzenjacke von Lex. Rollend kamen sie im Dreck zum Liegen. Die Richtern auf Lex, drückte mit ihren Knien seine Handgelenke auf den Boden und schloss ihre eigenen Hände fest um Lex' Hals.
„Stirb, du Ratte!", schrie sie. Dabei sabberte sie bei dem Gedanken, das Gesicht des Jungen blau und grün werden zu lassen. Seine Versuche, dem tödlichen Griff zu entkommen, waren aussichtslos. Er konnte weder seine Arme noch seinen Kopf bewegen. Die Luft wollte weder aus seinen Lungen heraus, noch hinein. Wie ein Seil des Galgens schürten ihre Finger seine Kehle zu. Seine Ohren begannen einen fürchterlichen Fiepton zu erzeugen. Schweiß trat auf seinen Stirn, Nase und Gesicht. Er fühlte sich kalt und warm zu gleich, während er versuchte, strampelnd dem eisernen Griff zu entkommen. Doch die Wachen waren schon zur Stelle, halfen der Richterin den hilflosen Jungen zu fixieren, indem sie seine Beine zu Boden pressten. Nun war er so nah und dennoch würde es nicht genügen. Tränen schossen in seine Augen. In diesem Moment war alles woran er dachte, Liam. In einem letzten Kraftakt versuchte er sich zu lösen, indem er alle Energie in seinem Körper verwendete. Erfolgslos!
„Ich darf Liam nicht alleine lassen!"
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