Kapitel 35
Ein letztes Mal sah Lex in Liams Augen, bevor der große Moment gekommen war. Wie eine unendliche Tiefe voller Fürsorge strahlten die Pupillen Güte und Liebe für ihn aus. Als zögen sie ihn magisch an, konnte er sich nicht lösen. Ein kleines Lächeln entfuhr seinen Lippen – kaum bemerkbar, kaum erkennbar. Doch Liam entging nichts. Er nahm Lex Hand und lächelte liebenswert zurück.
„Es geht los!", sagte er bedrückt, wohlwissend, in welche Gefahr sich Lex gleich begeben würde.
„Ja, ein letztes Mal, dann sind wir frei", sagte Lex.
Welch lästiger Trugschluss, denn frei wären sie nie, solange neidische Blicke ihre Liebe verschandeln und die Abscheu in den Köpfen der Menschen gepflanzt werden würde. Das toxische Narrativ der Dämonenbessenheit geißelte ihre eigentliche Freiheit und hielt sie fest verschlugen in Ketten aus Furcht und Abnormalität.
„Frei von unserer Wut auf diese verfluchte Frau!", entgegnete Liam.
„Wenn sie tot ist, wird sie uns nicht mehr verfolgen."
Liam nickte „Du hast die Handschuhe an!?", stellte dieser fest.
„Sie sind bequem und sie sind von dir."
Liam ließ nicht lange auf sich warten, um in der Gasse - abseits allen Verkehrs und Tumults – seine Arme um Lex zu legen und ihn heftig an sich zu drücken. Sie pressten ihre Lippen aneinander, genossen den kurzen Moment. Dann trennten sie sich.
„Ich hoffe, was die komische Frau sagte, wird nicht wahr werden!",
„Du glaubst doch nicht an so einen Mist?", fragte Liam bestürzt. Natürlich dachte Lex, dass diese Frau einfach nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, aber die kleine Wahrscheinlichkeit, dass sie Recht haben könnte, dass einer von beiden in große Gefahr geriet, verunsichre ihn. So schüttelte er nur ablehnend den Kopf. Doch es war Junis perfekt geplantes Vorgehen, das zugrunde lag. Dem Jungen, dem er vertraute und der noch nie sein Vertrauen in irgendeiner Weise missbraucht hatte. Juni war unfehlbar und schrecklich penibel, was die Ausführung anbelangte. Und erst als Lex alle Pläne und Notfallpläne bis auf das letzte Detail verinnerlicht und auswendig gelernt hatte, hatte Juni ihn gehenlassen.
Die bunten Wolken kündigen den frühen Morgen an, gleich würden die schweren Glocken von gebückten Menschen geläutet werden und ihr ohrenbetäubendes Singklang durch die Straßen schallen. Die Stunde der Freiheitshäuser begann dann, die Straßen wären leergefegt. Die Gläubigen abgelenkt, nur die Richterin mit ihren Wachen ausgeschlossen, um ihre widerwärtige Menschenjagd auf die Schwänzenden durchzuführen. Der perfekte Zeitpunkt, um dieses Monster aufzuknüpfen.
Schweren Herzen trennte er sich von Liam und lief auf den Palazzo der Gläubigen zu. Das riesige Gebäude, das sonst dunkle Schatten auf die umliegenden Häuschen warf, strahlte nun in voller Helligkeit in die ausklingende Nacht. Flackernde Kerzen und Fackeln ließen Licht und Schatten, wie einen Kampf zwischen Dämon und dem mächtigen Wesen, in den großen Fenstern tanzen. Spitze kleine Türme geformt aus weißen Marmor erstreckten sich auf die ungleich hohen Dächern des Gebäudekomplexes, sowie große Terrassen in alle Richtungen gesichert mit bauchigem Geländepfosten, an denen verschiedenste Pflanzen wucherten. Die seidigen Vorhänge brachen in ihrem schrillem Rot den Farberverlauf, der durch die platinweißen Mauern mit ihren filigrane Strukturen erzeugt worden war. Sicherlich hatte diese mühevolle Kleinstarbeit vieler Erbauern und Künstlern lange Kopfschmerzen beschert. Alles an diesem Ort schrie Lex förmlich ins Gesicht, dass er nichts als wertloser Schmutz war. Ein kalter Schauer rann über seinen Rücken, als ihm die Grausamkeit bewusst wurde, dass die Reichen lieber ihre Wände vergoldeten, als den Armen die nötigen Lebensmittel zum Überleben zur Verfügung zu stellen. Auf der anderen Seite konnte er Gold nicht essen.
Den imposanten Eindruck verschmähend schaute er stattdessen auf den Boden und selbst hier waren in den Zwischenräumen der säuberlich gepflasterten Steinen keine einzige ungewollte Pflanze erkennbar. Welch ein wunderliches Bild, dass seine eigenen angerissenen Schuhe dreckiger als der Boden waren. Juni hatte ihm die beste Route ausgewählt, in der er die Wächter umlief.
So stand er nun vor den mächtigen geöffneten Toren, die sich wie eine Barriere zwischen einer schönen Welt und der Welt, die nichts von Ästhetik verstand, vor ihm auftaten. Die aus Stein geformten Köpfe von wilden Tieren schauten auf ihn herab, als er an den wasserspuckenden Steinskulpturen der Marmortreppen nach oben ging. Unter den hohen Torbögen hindurch. Ohne Umwege in einen gigantischen immergrünen Garten. Eigentlich sollte vermutet sein, dass die Sauberkeit im Vergleich der sonst so steinernen Stadt eine Form der Freiheit und des Wohlbefindens auslöste, doch in Lex wuchs die Furcht und die Angst. Denn es war genau diese penible Perfektion, die sich für ihn nicht weltlich, sondern befremdlich anfühlte. Wäre die Beschreibung von Juni nicht auf den Schritt genau, so hätte er sich längst in dem Irrgarten verlaufen.
Als er in weiter Entfernung eine Wache rennen sah. In höchster Eile seine Sachen anziehend, beachtete er Lex kaum, der sich das Gebüsch an den Seiten des Wege zu Nutze machte und darin verschwand. Sein Herz hämmerte, allerdings würde niemand ihn hier mitten im Herz der Stadt erwarten. Er wartete einen Moment um sich zu vergewissern, dass niemand mehr kommen würde. Dann sah er sich um.
„Kein Detail übersehen!", flüsterte er Junis Worte vor sich her. Irgendwie gaben sie ihm Erleichterung – schließlich würde er gleich einen lebendigen Köder spielen.
Sein Blick schweifte über die grüne Lichtung hinter den Büschen am Wegesrand. Der Rasen war gepflegt, doch in regelmäßigen Abständen schien er wesentlich schlechter zu wachsen als an andern. Erst als er genauer hinschaute, erkannte er sich auftürmende Erdhäufchen, die wohl das Ergebnis eines tiefen Umgrabens waren. Dieser Ort gruselte ihn, doch er konnte nicht sagen weshalb. Aber etwas stimmte hier auf gar keinen Fall. Als läge eine schwere Decke Dunkelheit über dieser Wiese, lief er zu einen besonders hohem Erdhügel. Dort war ein Loch. Rechteckig von Menschenhand ausgehoben, sodass man einfach Dinge darin verscharren könnte, ohne dass Tiere danach buddeln würden. Ein eisiger Schauer rann über seinen Rücken. Alle Haare stellten sich zur Verteidigung auf. Er wollte weg von hier. Unheimlicher Ort.
Schließlich stand er vor dem ihm beschriebenen Gebäudeteil. Eine wahrliche Untertreibung angesichts der Vorstellung, dass in diesem gigantischen Bauwerk nur eine einzige Person wohnte, nämlich die Richterin selbst. Nicht einmal zum Palazzo gehörend, dem enormsten und prächtigstem Bauwerk in diesem fürchterlichen Bereich, aber größer und bedeutender als die Villen der Anwärter, trocknete der bloße Anblick alle Spucke in Lex Mund. In einiger Entfernung konnte er das Platin und Gold verzierte Gebetshaus der Gläubigen erspähen, wie es fast bis zum Himmel thronte und in all der Pracht das Freiheitshaus im Elendsviertel mit dem löchrigen Dach aus gammeligem Stroh wie eine abgewrackte Baracke aussehen ließ. Staunend könnte er jahrelang die opulenten Verzierungen bewundern, dennoch entschied er sich, diesen ganzen Protz, diese ganze Herrlichkeit und diesen ganzen Glanz der nutzlosen Angeberei zuzuschreiben.
Er schlug mit den Metallgriffen gegen die monströse Eichentür. Ein lautes Scheppern hallte in der Geräumigkeit hinter der Tür. Als sich eine Weile nichts tat, wagte er erneut das Hämmern an der Pforte. Wieder keine Antwort. Dabei musste die Richterin hier sein! Junis Worte waren unfehlbar.
Die hellen Lichter aus dem Inneren unterstrichen, dass sich jemand in dem Anwesen befinden musste. Gerade als er weggehen wollte und sich entschied sich gewaltvoll Zutritt zu verschaffen mit einem Stein, den er durch die Scheiben warf oder mit dem Knacken des Schlosses, öffnete sich die imposante Tür.
„Wer traut sich, mich um diese unsägliche Uhrzeit zu wecken?", krächzte ihre raue Stimme, die vom unachtsamen Aufschlagen des Eicheholzes auf Marmor übertönt wurde. Ihr großgewachsener Körper beugte sich über Lex. Ihre Gestalt versprühte den Hass ihres Inneren. Die mürrische aggressive Laune, die sie bei all den Gerichtsverhandlungen an den Tag legte, trug sie scheinbar auch im Privaten. Ihre Augen verengten sich voller Abscheu, als ihre Synapsen verstanden, dass vor ihr ein Junge aus dem Elendsviertel stand. Einen abartigen Geruch erwartend rümpfte sie provisorisch ihre Nase. Doch trotz der ranzigen Erscheinung des Jungen blieb der Gestank aus. Ihren Zorn unterdrückend schaute sie auf den völlig Eingeschüchterten herab. So mochte sie dieses Gesindel am liebsten, still, verängstigt und unsicher. Sie wusste, dass der Terror, den sie verbreitete, Früchte trug.
„Hast du nicht verstanden, was ich dich gefragt habe? Was willst du hier? Gleich beginnt die Lesung und wenn du nicht pünktlich bist, werden wir dich in aller Öffentlichkeit dafür bestrafen!", rief sie.
Lex zog seinen Hals ein und die Schultern nach oben. Eine natürliche Verteidungungsstellung, denn er wusste, dass er ihr in aller Form unterlegen war.
„Ich weiß, wer für die Fischerrei verantwortlich ist."
„Ist dir bewusst, wie viel Zeit ich bereits damit verschwendet habe, diesen Behauptungen nachzugehen?", fragte sie, ihre Augen funkelten durchdringend.
Schau nicht weg!, flüsterte ihm Juni ein. Doch Lex konnte ihrem finsteren Blick nicht standhalten.
„Ihr Würmer lügt und betrügt doch alle, um an die Belohnung zu gelangen und am Ende stellt sich heraus, dass für den Erhalt des Kopfgeldes der Nachbar denunziert wird? Sei dir bewusst, dass ich dich an dieser Mauer erhängen werde, sollte deine Anschuldigung falsch sein", sagte die Richterin mit strenger Stimme, die keine Widerrede duldete.
Lex nickte zögerlich.
„Also, ich frage nochmal. Was willst du Ratte hier?"
Lex schwenkte, wie Juni es ihm gezeigt hatte, das Kopfgeldzettelchen vor den Augen der Richterin, zeigte auf die Stelle, an der er hoffte, dass es die Belohnung darstellte.
„Gut, wenn du wirklich dafür deinen Kragen riskieren willst. Dann schicke ich zwei meiner Männer mit dir mit! Aber wag es nicht, meine Zeit verschwendet zu haben."
Lex hörte Junis Stimme erneut im Kopf. Er erklärte ihm genau was er zu tun hatte, wenn die Richterin ihm nicht freiwillig folgen wollte.
„... Unter Umständen ignoriert sie dich oder sagt, dass sie Leute stattdessen schickt, dann musst du ihr weismachen, dass du nur ihr den Schuldigen vorwirfst und dass es unabdingbar ist, dass sie mitkommt."
Und so tat er es, hoffte, die Worte würden die Frau umstimmen mitzukommen. Doch seine Worte trafen auf gelangweilte Ohren. Stattdessen verfinsterte sich ihr Blick, ihre Ungeduld stieg und ihr Hass flackerte wie eine bedrohliche Aura um ihren Körper.
„Verschwinde endlich!", rief sie.
Doch Lex tat gar nicht dergleichen. Junis Plan war durchdacht und ausgereift, aber er musste es schaffen, dass diese Richterin ihm folgte und bisher brachte nicht eine einzige Sache den nötigen Erfolg. Seine Optionen verschwanden und mit jedem Versuch die Frau zu überzeugen, wirkte sie immer mehr abgetan ihm wirklich Glauben zu schenken. Angewidert wollte die Richterin die Tür schließen, als Lex seine einzige noch offene Möglichkeit ausschöpfte.
„Du alte Vogelscheuche! Ich bin es, den ihr sucht!", schrie er, nahm einen mittelgroßen Kieselstein vom Boden auf und warf ihn der perplexen Frau wuchtig an den Kopf. Wie ein Tropfen der ein Fass zum Überlaufen brachte, entlud sich plötzlich alle Wut in einen einzigen explosionsartig. Ihr Gedultsfaden war entgültig gerissen. Wie eine Bärenmutter, die gerade um das Überleben ihrer Kinder kämpfe, verlor sich die Richterin in ihrer Rache, ließ die Gefühle ihre Vernunft benebeln und sprintete Lex wie eine Furie hinterher.
„Verdammt, die ist schneller als gedacht!"
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