Kapitel 32
Eine Meute versammelte sich um den Steinkreis des Brunnens. Die demolierten Wände ermöglichten sogar den kleinsten Kindern einen Blick in den tiefen Abgrund. Vorsichtig lugten die Menschen in die dunkle Schwärze, in der Hoffnung den Grund für das Versiegen zu erkennen. Erneut zogen sie - wie bei den vorherigen Versuchen – einen Eimer, der von der Feuchte des Wassers unberührt schien, aus dem Loch im Boden heraus. Unruhe brach aus, als jeglicher Versuch den Brunnen wieder freizulegen und die Wasserversorgung im Zentrum des Marktplatzes wiederherzustellen, erfolglos blieb. Irgendwer hatte die erodierten moosbewachsenen Steine des Brunnens gewaltvoll in der Heimlichkeit der Nacht zerstört. Den Brunnen verschüttet. Vielen somit den kurzen Weg zur lebenswichtigen Versorgung verlängert. Demnach wurden die Stimmen nach dem Schuldigen lauter.
„Das waren dieselben, die auch die Fischerei zerstört haben!"
„Quatsch, das war ein Trunkenbold, der in voller Zerstörungswut gehandelt hat"
„Das war das Monster, das schon seit Ewigkeiten durch unsere Gassen des Elendsviertels streift."
Lex zuckte zusammen. Auch er hatte einen Blick in den Brunnen geworfen. Er wusste, dass all diese Dinge ohne sinnhafte Begründung in den Umlauf gebracht worden waren. Jeder, der seine Behauptung ausspie, hatte seine eigene Vorstellung, welches Monster es war oder welchen Grund der Zerstörer hatte. Und so versuchten sie sich gegenseitig zu übertönen und niederzureden, bis in dem Lautpegel bald das eigene Wort nicht mehr verstanden wurde. Als sich plötzlich eine laute Männerstimme über alle hinwegsetzte.
„Es waren die Hexen!", brüllte dieser.
Sofort verstummte der Platz. Der Mann, der diesen Satz geblökt hatte, war niemand geringeres als der Hausherr. Sofort zog Lex seinen Kopf ein. Er hatte die vergangene Auseinandersetzung mit diesem Widerling nicht vergessen. Umso weniger wollte er jetzt die Aufmerksamkeit auf sich lenken.
„Es sind immer die Hexen, die uns schaden wollen. Sie verkaufen ihre giftigen Tränke, die die Augen blau färben. Sie sind es, die versuchen unsere Gläubigen zu verletzten. Es sind die Hexen, die uns jetzt angreifen. Und ich wette, die Hexen haben die Fischerei verwüstet", setzte er an.
Lex war fassungslos. Er konnte nicht erklären, wie eine einzelne Person von so viel Dummheit erfasst sein konnte. Es kam ihm so vor, als hätte sich jegliche Intelligenz aus dem Kopf des Hausherren gleichzeitig verabschiedet und ihn leer zurückgelassen. Möglicherweise tauschte er diese gegen den Alkohol in den Gasthäusern ein.
„Er hat recht! Es sind immer die Hexen. Vor einem Jahr, als der Regen ausgesetzt hat und unsere Ernte verdorrte, mussten wir auch nur die Hexe finden und sie aufknüpfen!", rief plötzlich ein anderer.
„Genau!"
„Jetzt wollen sie unsere Brunnen versiegen. Das lassen wir nicht zu!"
Lex Fassungslosigkeit stieg in neue Dimensionen. Er stellte sich die Frage: Wie alle nur so dämlich sein konnten und dem Lautesten von allen blind folgten. Für ihn war es offensichtlich, dass der Brunnen von jemanden mit Gewalt beschädigt wurde, ohne Zauberei, ohne Hexerei. Doch seine vernünftige Stimme ging im Grölen, Pöbeln und Hassen der Menschen unter.
Betrübt schaute er auf seine beiden leeren Eimer herab. Wissend, dass auch er nun den langen Weg zum Fluss nehmen musste, anstatt den Brunnen in der Nähe seiner Wohnung zu verwenden. Doch es half nichts. Kein Wort der Widerrede oder Anschuldigen, noch der Versuch zu beschwichtigen, würde ihm die Eimer füllen. Also versuchte er stattdessen sich, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen, von der aufgeheizten Meute entfernen. Dies gelang ihm erstaunlich einfach, denn die Menschen waren beschäftigt, sich das Aussehen der Hexen auszumalen. Lex dachte an die armen Menschen, deren Nasen schief zusammengewachsen waren, nachdem sie gebrochen worden waren. Leider waren häufig die oberflächlichen Erscheinungen, die ihnen zum Verhängnis und zu falschen Anschuldigen wurden.
„Die Welt ist schön. Die Menschen machen sie hässlich!", flüsterte er vor sich her. Die Worte, die seine Mutter ihm so lange predigt hatte. Doch nicht alle Menschen verwandelten die Welt in Unrat und Schmutz. Es gab einen, der es schaffte, seine Welt schöner zu machen, als sie jemals zuvor gewesen war. Jemand, der ihm eine Sicherheit gab, jemand, der ihm vertraute und dem er vertraute. Je länger Lex über Liam nachdachte, desto stärker schlugen seine Gefühle in alle Richtungen aus. Umso mehr schmerzte es Lex, dass Liam auch diese Nacht bei Oborous verbrachte.
Juni versicherte den beiden zwar, dass Oborous Liam nicht verletzen würde, dennoch offenbarte er den Inhalt des letzten Satzes im gefunden Brief nicht.
Fussel trottete neben Lex her. Mit gespitzten Ohren reichte er nun schon fast bis zu Lex Knien. Offenbar legte der kleine Welpe einen enormen Wachstumsschub ein. Wenn sich Lex erinnerte, dass er den Welpen vor nicht allzu langer Zeit unter seiner schäbigen Kleidung verstecken konnte, brachte es ihm zum Schmunzeln. Klar wusste er von Juni, dass die Riesenwolfshunde rasant wachsen würden und offenbar schien Fussel keine Ausnahme zu bilden. Sein Fell jedoch blieb kuschelig, weich und von solcher Dicke, dass sie Lex Hand wie in einem weichem Kissen aus Daunen verschwinden lassen würde.
Nach kurzer Zeit erreichte er den Fluss. Für einen Augenblick meinte er Liams Angelrute zu erkenne, allerdings wandelte sich die Hoffnung in Enttäuschung, als er feststellte, dass es nur ein Ast der Eiche war. Wie gerne hätte er ihn hier gewusst; und nicht in der Nähe von Oboruos. Noch mehr wollte er seine Lippen auf die von Liam drücken, ihn umarmen – bei ihm sein. Dieser Wunsch blieb ihm allerdings verwehrt.
„Was ist nur los mit mir!"
Er nahm die Eimer und warf sie lustlos in den laminar fließenden Fluss. Allmählich verdrängte das kalte Wasser die Luft.
„Warum fühle ich mich so beschissen?", murmelte Lex, als er versuchte die vollen Behälter wieder herauszuheben. Er blickte in das Bild, dass von der Wasseroberfläche zurückgespiegelt worden war. Er erkannte den Dreck in seinen Haaren, die Kratzer in seinem Gesicht, den Trübsal in seinen Augen. Alles zeugte von den harten vergangen Tagen. Umso mehr spürte er den Druck auf sich, wissend, dass die bevorstehenden Tage noch schlimmer werden würden.
„Auf geht's!", sagte er, ballte seine Fäuste. Ein Schub aus Ehrgeiz und der leisen Hoffnung, dass er bald aus diesem Alptraum entkommen würde, überschwemmte ihn. „Ich bringe die Eimer nach Hause, dann mache ich mich sauber und dann treffe ich Liam, koste es was es wolle. Komm Fussel."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top