Kapitel 31
Grübelnd saß Juni über der grob skizzierten Karte von Siegelum. Mit Stöcken hatte er das Straßennetz fast maßstabsgetreu in den Dreck vor sich gezeichnet. Kleine Vierecke, die in etwa so groß wie zwei seiner Finger waren, stellten die Häuser, Krämerläden, Lager und Märkte dar, sowie unzählige Linien die Straßen, Wege, Brücken und kleine Kreise, die wohl die mächtigsten ausgewachsenen Bäume repräsentierten. Selbst, dass der Fluss, der sich quer durch die Stadt schlängelte und als natürliche Grenze zwischen den verscheidenden Stadtteilen fungierte, in Richtung Süden immer breiter wurde, berücksichtige Juni sorgfältig. Diese Sicht musste ein Vogel besitzen, der über die Stadt hinwegflog.
Es dauerte einen Moment bis sich Lex in dem filigranen Straßennetzwerk zurechtfand, allerdings gelang es ihm, sein Haus zu kartographieren, sowie den Weg, den er bis hierher unternommen hatte. Doch was ihm am meisten wunderte, waren die Steine, die Juni auf den ersten Blick vermeintlich zufällig auf bestimmten Linien und Kreuzungen verteilt hatte. Auch wenn es nicht viele waren, wirkten sie so fehl am Platz.
„Hast du das aus dem Kopf gezeichnet?", fragte Lex staunend. Sein Blick weiter glitt weiter über die gewaltige Fläche zu seinen Füßen. In der Mitte der Zeichnung thronte eine enorme Fläche – so mächtig, dass es fast einem Stadtteil gleichen könnte. Er musste nicht darüber nachdenken, dass dieses mächtige Gebäude, was alles überschattete, wohl dem Palazzo der Gläubigen entsprach. Wie ein riesiges Auge blickten die aufwendig verzierten Türme in alle Richtungen über die Stadt und weit über die angrenzenden Wälder, Berge, Wiesen und Felder hinaus.
„Natürlich aus dem Kopf? Was glaubst du, woher ich das sonst herbekommen habe?", sagte Juni genervt und legte einen Stein mit einem sehr großen Ausfallschritt – sein Kunstwerk so wenig wie möglich beschädigend – auf eine weitere Linie.
„Was sollen die Steine?"
„Das sind die Orte, an dem das Vieh zugeschlagen hat. Falls du es nicht mitbekommen hast. Da draußen in der Stadt läuft ein Monster herum, das sich regelmäßig einen Menschen – vorzugsweise erwachsen – als Mittel gegen knurrenden Magen zu Nutzen macht und dann nicht mal vernünftig aufisst."
„Wie soll ich das vergessen?", fragte Lex empört. Dieses Ding in den Gassen bereitete ihm schon zahlreiche Kopfschmerzen. Vor allem, wenn er für Liams Wohlbefinden zu dem allmächtigen Wesen betete.
„Siehst du einen Zusammenhang? Ein Muster, irgendwas?", fragte Juni.
Lex studierte die Karte intensiven Blickes. Alles, was er problemlos erkannte, war, dass sich jeder einzelne Stein im Elendsviertel befand. Doch um darin ein Muster zu erkennen fehlte ihm die nötige Vorstellungskraft. So schüttelte er ahnungslos den Kopf.
„Ich zunächst auch nicht. Aber wenn wir annehmen, dass nicht alle Leichen gefunden wurden oder noch nicht alle gestorben sind, könnte man vermuten, dass sich die Form an die eines fünfzackigen Sternes angleicht", sagte Juni und schaute in Lex' Gesicht. Wahrscheinlich – so vermutete Lex – hoffte Juni, dass Lex auf diese Erkenntnis ohne Hilfe hätte kommen sollen.
„Wie lange hast du dafür gebraucht?"
„Für was? Den Zusammenhang? Dafür habe ich seitdem die Morde begonnen haben gebraucht. Ich wusste es musste ein Muster geben. Es gibt immer ein Muster und wenn es nur eine Wahrscheinlichkeit ist, dass sich das Biest in einer bestimmten Zeit irgendwo aufhalten wird. Für die Skizze der Stadt den gesamten Vormittag", entgegnete Juni.
„Und was ist mit dem Wind?"
„Machte die Sache nicht einfacher. Siehst du das Blatt dort? Hat der Wind eben hierher geweht. Ich würde es gerne wegnehmen, aber dazu müsste ich über wichtige Linien laufen", sagte Juni konzentriert, als er versuchte seinen Ausfallschritt zurückzunehmen, ohne groß die Karte zu beschädigen, doch die Fläche, an der eben noch sein Fuß stand, war deutlich zu erkennen. Mit einem tiefen Atemzug fiel er zurück in seine ursprüngliche Position und betrachtete die Fläche erneut.
„Ich möchte, dass ihr was für mich überprüft. Du und Liam zusammen. Wo ist er eigentlich?", fragte Juni.
Fussel ruhte in der Nähe eines Kastanienbaumes, nachdem er dem Vormittag bunten Schmetterlingen hinterhergejagt war und sonnte sich, dabei waren seine Augen wie fixiert auf Juni. Bei jeder abrupten Bewegung verfiel der Welpe in ein tiefes Knurren.
„Deswegen bin ich hier.", sagte Lex.
„Was meinst du genau?"
„Liam wurde gestern von einem Gläubigen erkannt", sagte Lex.
Sofort fielen alle Steine, die Juni in seinen Hände hielt, zu Boden. Dabei vollführte er eine ruckartige Bewegung, die Fussel aufschreckte.
„Was genau meinst du mit erkannt?", fragte Juni geschockt.
„Er behauptet, er hätte Liam in der Nähe der Bücherei des Palazzos gesehen. Daraufhin hat er befohlen, dass Liam in seine Kutsche steigt", sagte Lex.
„Er hat gelogen. Liam war niemals in der Nähe der Bücherei", sagte Juni und schritt plötzlich anders als eben mit großen Schritten über sein Kunstwerk, dann bleib er an einer Stelle stehen, die etwa zehn Schritte von Lex entfernt war. „Hier ist die Bibliothek und dort drüben war Liam unterwegs", zeigte er mit ausgestreckten Arm zu Boden.
Dazwischen lagen mindestens fünfzehn Häuserreihen. Sicherlich gab es Situationen in denen Liam Junis Plänei nicht hundertprozentig verfolgte, allerdings konnte sich Lex nicht vorstellen, dass Liam so weit vom Wege abgekommen war und vor allen nicht, wenn Juni bei ihm war.
„Hast du ihn mitgehen lassen?", schrie Juni aufgebracht.
„Er meinte, damit der Plan nicht auffliegt. Er hat sich verpflichtet gefühlt. Außerdem durfte er dem Gläubigen nicht widersprechen. Sie haben einen Faustling auf uns gerichtet."
Doch all die Rechtfertigungen zügelten den Zorn von Juni nicht.
„Verdammt Lex, am liebsten würde ich dir eine scheuern, wenn ich wüsste, dass mich dein Biest nicht danach anfallen würde und mir die Kehle ausbeißt. Warum seid ihr nicht gerannt? Warum setzt du ihn dieser Gefahr aus?", rief Juni.
„Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte Angst", rief Lex verzweifelt. Als Juni ihm die Konsequenzen seiner Mitentscheidung offenlegte.
„Wie war sein Name? Iranatus, Markath, Aleszios, Cardinaus, Razrakzz, ....?"
Juni sprach von vielen Namen. Worte, die in Lex' Kopf kaum menschlichen Namen glichen. Manchmal kotzte er Silben aus seinem Rachen hervor, die eher ein abnormales Kratzen im Gaumen waren, als Worte, die eine Mutter als Namen für ihr Neugeborenes ausgewählt haben musste. Und je Länger er die Liste der Gläubigen aus den tiefen seiner Erinnerungen aufzählte, desto größer und verwirrter schaute Lex ihn an.
„Wie sah er aus?", versuchte Juni ihn über diesem Weg, die Informationen zu entlocken. Doch mehr als oberflächliche Beschreibungen schaffte Lex nicht vor sich herzustammeln. Das es sich um einen wohlgenährten, alten Mann mit einer kurzen, streng geschoren Halbglatze handelte und die Kleidung aus teurer Seide war, in der die Person eingewickelt war, traf so ziemlich auf jeden zu, der den Titel des Gläubigen trug. Informationen, die Juni nicht weiter brachten, ihn aber sichtlich verzweifeln ließen. Dennoch dachte er daran, dass er Lex besser nicht anpacken oder anfassen sollte, denn Fussel stand sprungbereit mit hochgestelltem Fell da.
„Oburous! Entschuldigt, dass ich so spät bin", erklang eine vertraute Stimme aus den Büschen am Rande des brachliegenden Feldes.
Lex und Juni schenkten zeitgleich ihre Blicke zu Liam, der sich duckend durch das Geäst kämpfte. Doch kaum sah Juni Liam, schaute dieser panisch in alle Richtungen, als suche er einen Verfolgern. Lex wollte zu Liam stürmen, doch Juni hielt ihn zurück.
„Ich bin alleine hier. Ich habe sichergestellt, dass mir niemand folgt", versuchte Liam Juni zu beschwichtigen.
„Das glaubst du!"
„Ich habe mich in der Früh herausgeschlichen und die Löcher in den Mauern genutzt, um von den offenen Wegen fernzubleiben. Außerdem konnte ich niemanden erkennen, obwohl ich mich fast bei jedem Schritt umgedreht habe."
Juni Blickte weiterhin finster. Dann begann er langsam die Brache abzulaufen und jeden noch so kleinen Kiesel umzudrehen, um sicherzugehen, dass Liam auch wirklich nicht verfolgt wurde.
„Oburous! Von allen Gläubigen lässt du dich auf den Schlimmsten ein", hauchte Juni ungläubig, kopfschüttelnd.
„Hat er dir irgendwas getan?", fragte Lex besorgt.
Liam strich schüchtern über seine Arme und schaute weg.
„Hat er nicht. Er hat mir ein Bett angeboten. Es war weich, kuschelig und warm, nicht so staubig wie der Boden der Stadt. Ich konnte schlafen, ohne zu fürchten, dass mich jemand in der Nacht überfällt und mir meine Sachen klaut. Er hat mir sogar etwas zu Essen angeboten - kleine grüne Klügeln, die an einer Art Ast gewachsen waren. Er nannte es Weintrauben. Sie waren köstlich. Ich habe dir sogar welche mitgebracht, damit du sie auch probieren kannst", sagte Liam verlegen und holte eine Rebe mit knackigen hellgrünen Trauben aus seiner Tasche, der viel zu großen Jacke hervor.
Die ein oder andere wies Druckstellen auf, dass vom Durchzwängen zwischen Löchern in den Mauern zeugten. Und als er sie stolz präsentierte, fiel ihm auf das zwischen den Trauben ein kleiner Zettel mit Symbolen hing, die wohl die Schriftzeichen der gesprochenen Sprache darstellten. Lex zumindest konnte sich aus den wirren Kritzeleien keinen Reim machen. Er hatte nie verstanden, was an Lesen so brauchbar war. Und so stand er mit Liam zusammen und beide betrachteten den Zettel mit Neugier, bis Juni ihn an sich nahm und begann ihn vorzulesen.
Lieber Leser,
ich, Oburous, weiß, dass diese Nachricht bei dir ankommt. Ich weiß deinen Namen nicht, noch weiß ich, wie du aussiehst. Aber ich weiß, was du getan hast - oh, die schöne Fischerei. Es schmerzt immer noch, wenn ich daran denke, in welchem Zustand ihr sie zurückgelassen habt. Ich finde deinen kleinen Freund jederzeit wieder, wenn es mir beliebt. Allerdings erquicke ich mich an eurem Versuch, die Richterin zu richten. Ich bin voller Ehrlichkeit mit euch. Sie ist mir schon eine ganze Weile ein Dorn im Auge. Falls die Richterin euch also nicht ergreift, ist sie auch nicht würdig, dieses Amt weiter zu begleiten. Daher habe ich mich entschieden nicht einzugreifen und weiter zu beobachten. Diese Passivität meinerseits ist aber an einer Bedingung geknüpft...
Juni hielt inne. Die Blässe trat in sein Gesicht, er las den letzten Satz, begann zu zittern. Noch nie hatte Lex erlebt, dass Juni etwas aus der Ruhe brachte oder gar verängstige. Doch irgendetwas Schreckliches musste in den letzten Zeilen stehen. Etwas, das von solcher Grausamkeit und solchem Horror zeugte, dass es Juni nicht wagte auszusprechen, noch seine Lippen beim leisen Lesen zu rühren. Wie ein Strich, der ebenso weiß wie das Papier in seinen Händen gerade in kleine Fetzten zerrissen wurde, war er reglos. Doch seine Augen strahlten vor Furcht. Ohne innezuhalten hob er ein Loch aus - so tief, dass keine Tiere danach scharren würden und vergrub die Schnipsel im eiskalten Boden der Brache. Auf das niemand diese Nachricht jemals finden sollte.
„Du musst ihn regelmäßig besuchen. Zumindest, bis wir gewonnen haben. Dann nehmen wir uns seiner an", sagte Juni schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit intensiven Nachdenkens zu Liam. Dann vergrub er seinen Kopf in den Händen. Sie wussten, dass sie immer tiefer in ein Loch abstiegen und mit jeder Aktion wurde es finsterer um sie. Letzten Endes waren die Gläubigen wandelnde Wesen auf Erden. Sie waren es, die die Regeln und die Gesetze schrieben. Sie waren es, die über Tod und Leben entschieden.
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