Kapitel 28

Als Lex und Liam den befremdlichen Stadtteil betraten, fühlten sie die Unsicherheit, die sich langsam in ihren Körpern ausbreitete. Die Stimmung lag mit vollem Gewicht auf ihren Schultern und drückte sie buchstäblich zu Boden. Auch Fussel wirkte hellhöriger und angespannter als sonst. Sie bemerkten die Blicke, das Tuscheln und die Hetzerei in den Gesprächen jener herumstehenden Passanten deutlicher als sie es je zuvor getan hatten. Die Angst, in den unsinnigen Gesprächen gäbe es ein Wort über ihr Vergehen, verfolgte sie auf Schritt und Tritt. Und sollte in den giftigen Worten etwas über sie mitschwingen, so waren sie bedacht, sofort die Flucht zu ergreifen.

Denn eines war sicher, man hatte sie beobachtet. Fussels Knurren und die Spuren im matschigen Untergrund verrieten die abscheuliche Wahrheit. Der Alptraum, in dem sie niemals hatten sein wollen.

Unauffindbar mischte sich jener stiller Beobachter unter die Gerüchen der Stadt, sodass wer auch immer sie beobachtet hatte, nun ihr Leben wie ein Marionettenspieler seine Puppe an seidenen Fäden in den Händen hielt.

Doch nicht nur die mit Vermutungen, Verheißungen und Hass gefüllten Worte brannten ihre Sorgen zu einem riesigen Feuer an, sondern auch die freudigen Kundgebungen besagter Menschen, die sich ausmalten, was sie mit jenem immensen Geldbetrag wohl anstellten, den sie auf den unlesbaren Kopfgeldzetteln in ihren Fäusten zerknüllten.

Bisher waren sie wie Aussätzige behandelt worden, wie nutzloser Dreck, der sich auf den Fensterbänken niederließ und vom Wind durch die Gegend geschubst wurde. Doch mit einem Schlag bekam der störender Dreck eine nie dagewesene Wertigkeit zugeschrieben. Ein Geldbetrag, der ihnen perfekt auf die Stirn gedruckt wurde. Das bereitete den beiden Angst. Lex bemerkte, wie er anfing unter dem Druck der Gesellschaft zu zittern. Es löste Panik in ihm aus.

Plötzlich fühlten sich die abwerteten Blicke schwerer an als jemals zuvor. Plötzlich fühlte er sich fremder, als er es jemals zuvor getan hatten und plötzlich fühlte er sich schwächer und angreifbarer als jemals zuvor.

„Lex, bleib nicht stehen", ermahnte ihn Liam und legte ihm zärtlich seine Hand auf den Rücken. Eine wohltuende Wärme breitete sich in Lex' Brust aus. Etwas, das ihn daran erinnerte, nicht allein in dieser schrecklichen, verdammten, kalten Welt zu sein.

Beide wussten sie, dass die Blicke der Menschen in Gier getränkt waren. Juni hatte die Kopfgeldzettel erwartet. Zwar hatte er auch mitgeteilt, dass sie nicht genügen würden, um die Jungen zu ergreifen. Allerdings war dies auch nicht das Ziel dieser Schriftstücke. Man wollte sie nicht finden. Man wollte sie vielmehr isolieren. Sie alleine stellen und jeden Einzelnen zu ihren Feinden diktieren. Die Stadt begann zu einer Fremden zu werden. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde nach dem schnellen Geld und es dauerte nicht all zu lange, schon wurden die ersten Kinder und jungen Erwachsenen der Gosse des Verbrechens ohne triftige Beweise denunziert.

Zusammen bogen sie ab in eine Gasse, in die selbst die Sterne am Himmel keinen Zugang hatten. Dementsprechend dunkel und kühl wehte der Wind ihnen faulige Luft entgegen.

„Es ist unangenehm hier", beschwerte sich Lex und rückte näher an Liam heran. Ein Gefühl, das der Finsternis kämpfend entgegenstand, erfüllte ihn mit Wärme, gab ihm Sicherheit, nicht alleine in dieser Finsternis zu verweilen

„Ja, das ist es. Aber der schnellste Weg zur Hauptstraße. Die Gasse sieht gruselig aus, deshalb wird sie von so ziemlich allen gemieden. Glaube mir! Ich laufe hier häufiger durch. Ich habe die Blicke, die sie uns zuwerfen, satt", beschwerte sich Liam und griff Lex' Hand. Zog ihn hinter sich hinein in die Schwärze. Das bedrängende Gefühl, das die schiefen zerfressenen Häuser auf sie warf, wollte nicht aus Lex' Kopf weichen und die herausgerissen Steine der vergangen Stürme brachten ihn häufig zum Stolpern. Nach einer Weile schafften es sich seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, sodass er die schwammigen Schemen der Trittfallen wahrnehmen konnte, bevor er darüber stolperte.

Alsbald ein blaues Schimmern in nicht allzu weiter Entfernung seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Pulsierend leuchtete es abwechselnd schwächer und stärker, wobei es die Gesichter zweier umstehender Männer mit gebogenen hölzernen Pfeifen erhellte. Ihre Augen schielten auf das seltsame Blau herab, das sie in die glimmende Öffnung stopften. Eine nebeliger Rauch kreiste um die Stehenden, als sich das blaue Leuchten immer wieder orange färbte.

„Was ist das?", fragte Lex mit flüsternder Stimme.

Doch Liam, der neben ihm stehenblieb, schaute ebenso gebannt auf das Treiben vor den beiden wie er selbst. Fussel knurrte abwartend und stellte seine Nackenhaare provisorisch auf. Sein Knurren galt den Männern vor ihm, die mit jedem Zug, den sie von der Pfeife nahmen, immer mehr einem wahnsinnigen Gelächter verfielen. Doch ihr Stoff gab nach. Egal, wie fest sie versuchten, an der Pfeife zu ziehen, der erwünschte Rauch blieb aus. Das Blau war vollkommen verschwunden. Verbrannt zu einer schwarzen schleimigen Masse. Nur die schemenhaften Gestalten, die wieder und wieder am Ende der Pfeifen sogen, als hänge ihr Leben davon ab, waren erkennbar. Unabdingbare Laute, die man eher einem wilden Tier zuschreiben würde, drangen aus ihren Kehlen, die rau und blutig vom Inhalierten krächzten. Was auch immer in sie gefahren war, brachte ihre Körper in unnatürlichen Verrenkungen zum Bewegen. Zusteuernd auf Lex, Liam und Fussel, die starr vom Gesehenen versuchten, ihre Furcht zu bekämpfen, die sie lähmte. Wie die Farbe des Gerauchten glühten die Augen der Männer nun ebenso hellblau in der Dunkelheit.

„Mehr"

„Mehr, Mehr, MEHR!", zischten ihre Stimmbänder.

Voller Verlangen rannten die blauen Augenpaare auf die beiden Jungs zu. Immer schneller wurden sie. Fussel sprang vor und schon bald erlosch eines in abscheulichem Geschrei. Der andere scherte sich nicht um seinen Kollegen. Rannte vorbei. Stand vor Lex. Die Faust sah er spät. Doch es gelang ihm, sich unter dem heftigen Hieb hinwegzuducken. Liam riss sich aus seiner Schockstarre. Er ging zum Gegenangriff über, seine Faust schwang auf den Angreifer zu. Doch unmenschliche Kräfte fingen sie einfach ab, hielten sie fest und schleuderten ihn durch die Gasse. Scheppernd flog er in einen Haufen angelehnter Bretter, wurde eins mit der Masse aus Holz und Splittern. Doch Lex hatte keine Zeit, sich Gedanken über Liams Wohlbefinden zu machen. Denn die nächsten Schläge flogen auf ihn ein. Er schaffte es weiterhin, erfolgreich auszuweichen, bis ihn ein Schlagloch beim Rückwärtslaufen zu Fall brachte. Unsanft schlug er auf den harten Untergrund auf. Sein Kopf hämmerte zu Boden. Schmerz durchfuhr ihn. Ließ seinen Körper zusammenzucken. Er schrie. Die blauen Augen kamen näher. Drückten ihm weiter nach unten. Ein dumpfer Schlag. Seine Brust bekam neue Luft.

Mit seinem gesamten Gewicht stürzte sich Liam in den Mann. Riss ihn nach hinten. Wobei es recht deutlich war, dass er gegenüber dem Ausgewachsenen keine Chance hatte. Lex raffte sich auf. Er durfte Liam nicht alleine lassen. Ein Gefühl entfachte sich in seiner Brust – Wut, denn er sah wie dieser Mann Liam überwältigte. Er griff eines der Bretter an der Wand. Ließ seiner Wut freien Lauf. Er kreischte erneut - so laut es seine Stimmbänder hergaben und ließ das Brett ungebremst in das Gesicht des Mannes herabsausen. Wäre es nicht so düster gewesen, hätte Lex erkannt, wie der rostige Nagel, der aus dem Brett herausragte, sich in das blaue Auge bohrte und den Angreifer bewusstlos werden ließ. Hyperventilierend stand Lex über Liam und schaute auf den Jungen in voller Sorge herab. Half ihm auf. Griff Fussel unter den Arm, zerrten diesen von der nun leblosen Person herunter, die seine Zähne zu spüren bekam und rannte die dunkle Gasse entlang. Mit dem Gedanken, diesen Alptraum einfach hinter sich zu lassen.

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