Kapitel 23

Der Fungus alvum, wie Lex Mutter ihn nannte; oder der Abführpilz, wie Lex ihn nannte, war ein kleiner, unscheinbar, schönwachsender Pilz, an dem sonderbarerweise kaum Spuren von Wildbissen oder Würmern anzufinden war. Die Kappe strahlte ähnlich wie der Schwamm in einem hellem Braun – fast schon malerisch perfekt; aber dafür absolut giftig für alle Genießer des Pilzes. Der Stiel und die Wurzel hingegen waren fein gemörst durchaus genießbar, mit dem kleinen Nachteil, dass er dadurch an seinen Namen kam. Denn je nach Einnahmemenge setzte die Wirkung entweder sofort oder nach einer gewissen Zeit ein, aber immer mit dem Ergebnis, dass der Genießer ohne Kontrolle seinen Darm in fast schon explosiver Art und Weiße entleerte. Er war kinderleicht unter den dicksten alten Eichen aufzufinden und da er keine Fressfeinde hatte - die bei Verstand waren - wuchs er wie eine Plage in unzählbarer Menge.

Lex pflückte mehrere, trennte die giftigen Kappen sorgfälltig ab, warf sie weg und zerkleinerte den Stiel in einen ganz feinen matschigen Brei – genauso, wie seine Mutter es ihm beschrieben hatte. Er trug die wässrige Schicht auf ein Brotgebäck, das der Kleine und der Große Don beschafft hatten, fast unsichtbar auf. Zusammen verließen sie durch die geheimen Löcher in den Mauern, die nur sie kannten, die Stadt in Richtung des Fünftel-Platzes.

Der Kleine Don bewegte sich genauso, wie es ihm gesagt wurde. Seinen Handstumpf verstecke er unter dem, was Jacke und Hose hergaben. Sein Arm war sorgfältig mit dicken Bandagen umwickelt. Immer, wenn er alleine war, weinte der Kleine vor Schmerzen und dem Verlust. In seiner anderen Hand trug er voller Stolz das Brotgebäck.

Der Kutscher auf dem Fünftel-Platz wirkte genervt und ungehalten, starrte belanglos in den Himmel. Der Schreiber der Gläubigen überflog seine Liste. Völlig in Schwarz gekleidet blickte er auf die Bewohner des Dorfes herab, ließ seine Macht über sie arbeiten. Wie die Verkörperung des Bösen überprüfte er haargenau jeden noch so kleinen abgegeben Beutel, auf dass nicht ein einziger Krümmel fehlte. Und erst als seine starren, ausdruckslosen Gesichtszüge Zufriedenheit ausstrahlten, hakte er die armen Seelen ab und wandte sich der nächsten zu. Die Säcke mit den Abgaben wurden ihnen rabiat aus den Händen gerissen und in der Kutsche verstaut. Abgefertigte verscheuchte er anschließend regelrecht, als könne er ihren räudigen Gestank nicht länger ertragen.

„Wann sind wir endlich hier fertig?", rief der Kutscher dem Schreiber zu. Seine wachsende Langeweile und Ungeduld ließen ihn unruhig auf dem Silzpolster hin- und herrutschen.

„Sobald ich alle Haken gesetzt habe oder die Sonne auf der Höhe der Bäume steht", erwiderte der Schreiber.

Er musste nicht erläutern, was mit jenen passierte, die nicht abgehakt waren. Jeder wusste, was geschehen würde, daher war die Erleichterung und Freude in den Gesichtern der Bauern im Umland deutlich zu erkennen, wenn sie erkannten, dass der Haken in dem Kasten hinter den Symbolen, die ihre Namen darstellten, gesetzt wurden.

Lex und der Große Don standen abseits. Sie beobachteten voller Anspannung die Annährungensversuche vom Kleinen Don zur Kutsche. Vorsichtig und langsam schritt dieser in die Richtung des gelangweilten Fahrers. Die Aufregung und die Unsicherheit war deutlich aus der Entfernung erkennbar.

„Bitte, nimm es und iss es!", flüsterte Lex. Obwohl er nur zuschaute und nichts von dieser Aktion auch nur im Entferntesten von ihm gesteuert werden konnte, lief ihm der Schweiß in Perlen an der Stirn herab. Er ertappte sich, wie er jeden noch so kleinen Schritt kommentierte.

„Wenn das nicht klappt, reißt uns Juni die Köpfe ab!", sagte der Große Don. „Und ich dir, falls meinen Bruder was geschieht!"

„Das macht es nicht besser."

„Doch, ich bereite mich vor, diesen Typen umzuhauen", sagte der Große Don und krämpelte seine Ärmel nach oben.

„Unter keinen Umständen. Hörst du? Sie dürfen auf keinen Fall erfahren, dass wir die heiligen Transporte anrühren wollen. Du wärst nicht der erste, der versuchte mit Gewalt die Nahrungsmittel an sich zu reißen und ich würde nur ungern deinen Kopf die Zinnen der Stadtmauer schmücken sehen", schimpfte Lex. „Der Plan wird klappen... hoffe ich zumindest."

Während Lex und der Große Don sich unterhielten, erreichte der Kleine Don das Fuhrwerk der Kutsche. Der unmotivierte Fahrer blickte auf den kleinen Jungen herab, voller Ekel und rümpfte seine Nase beim Anblick seiner dreckigen, zerrissenen Kleider.

„Was willst du. Verzieh dich!", brüllte er ungehalten auf das Kind herab.

Der Kleine Don zog sofort seine Schultern nach oben, seinen Kopf ein und machte sicherheitshalber einen Schritt nach hinten.

„Na was ist? Hau ab!", drängte der Kutscher ihn.

„Ich... Ich... ich wollte meinen ... meinen Fünftel be-bezahlen", stotterte er unruhig und eingeschüchtert, so leise, dass der Kutscher es nicht verstand.

„Was brabbelst du vor dir her? Ich habe gesagt du sollst dich vom Acker machen. Geh mir nicht auf die Nerven."

Verunsichert, ängstlich und eingeschüchtert streckte der Kleine Don lediglich seinen Arm mit dem Gebäck nach vorne. Er zitterte am ganzen Körper, doch achtete darauf, dass sein Armstumpf nicht unter seinem Oberteil hervorlugte.

„Nimm es! Nimm es!", murmelte Lex vor sich her. Die Anspannung brachte die Luft buchstäblich zum Glühen.

„Was soll das?", der Kutscher wollte erneut einen Ausruf machen, der den Kleinen verscheuchen sollte, doch das Grummeln seines Magens unterbrach ihn. Er riss dem Kleinen Don voller Brutalität das Gebäck aus der Hand, ließ ihn stolpern, fast sogar fallen und ohne sich zu bedanken brummte er mit wütender Stimme: „Verpiss dich endlich!"

Der Große Don glühte vor Wut, hätte Lex ihn nicht gestoppt, wäre er mit Sicherheit wie ein bissiger Hund dem Fahrer an die Kehle gesprungen, als dieser seinen kleinen Bruder so rabiat behandelte und hätte sie damit ins Unglück gestürzt.

Dieser lief weg von dem Fünftel-Platz, erst zögerlich, dann immer schneller und schließlich hastig - fast schon sprintend. Lex drehte sich um, wollte seinem Kompagnon etwas sagen, doch der Große Don war schon längst verschwunden und lief auf seinen kleinen Bruder zu, fing ihn im Laufen auf und schleuderte ihn fröhlich durch die Luft. Beide lachten aus tiefster Seele, als die Erleichterung einsetzte und all die Angst, Trauer und Schmerzen für einen kurzen Moment wegfegte. Sie ließen sich zusammen rückwärts fallen und der großer Bruder streichelte sorgfältig und zufrieden dem Kleinen anerkennenden über den Kopf.

„Das hast du absolut brillant gemacht. Ich bin so stolz auf dich", hörte Lex, wie der Große Don ihn lobte, als er den beiden entgegenging. Ohne, dass er es bemerkte, überkam auch ihm ein Schwall an Freude und das nicht nur, weil der Kleine Don lachte, was wahrscheinlich das erste Mal gewesen war, seitdem er seine Hand verloren hatte.

„Er hat es noch nicht gegessen", stellte Lex klar.

„Er riecht immerhin dran", teilte der Kleine Don seine Beobachtung mit.

„Kann er gerne machen. Ich habe selbst dran gerochen, weil ich Lex' Zauberei nicht traue. Aber es würde mich wundern, wenn er denkt, dass das kein normales Brot sei", sagte der Große Don ernst.

„Er runzelt die Stirn", sagte Lex besorgt.

„Er wird das schöne Brot doch nicht wegwerfen?", fragte der Große Don.

Doch es war der Kleine Don, der dieses Mal seinen Kopf schüttelte und den beiden mitteilte, dass der Böse Mann auf der Kutsche einen sehr knurrenden Magen hatte. Und als er seine Ausführung beendete, schlang der Fahrer auch schon voller Gier und Völlerei das Gebäck in sich hinein.

„Der wird eine richtig beschissene Fahrt vor sich haben", feixte der Große Don.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top