Kapitel 22
Mit dem Grilling – seinem hart verdienten Grilling - gelang es Lex beim Gemischtwarenhändler drei Möhren, einen halben fast gammeligen Kohl und ein paar Kartoffeln, sowie ein getrocknetes Schweineohr zu erwerben. Letzteres erfreute vor allen Fussel, der sich wie ein Wilder über diesen Leckerbissen hermachte und diesen schmatzend bis auf den letzten Krümmel verschlang. Die tiefbraunen Kulleraugen verlangten nach mehr, doch das war in Lex' finanzieller Situation leider unmöglich. Er verabschiedete sich dem Großen Don, der ihm zusicherte, dass er Fussel unbeschadet zu Liam bringen würde. Zwar schmerzte es, ihm nicht selbst einen Besuch abzustatten und zu erfahren, wie er mit Junis Plan vorankäme, doch zeitlich konnte er seine Mutter zu Hause nicht länger hungern lassen.
Unterwegs vernahm er allerhand Gerüchte und Tratsch, die in den Gassen unter der Hand erzählt wurden. Juni ermahnte ihn, er solle solche Informationen mit größter Sorgfalt betrachten, denn nicht häufig wurde beim Weitersagen des Hörensagens neue Details hinzugefügt, die entweder dem Gedanken des Erzählenden entsprachen oder aus einer anderen Geschichte hinzugemischt wurden. Dabei ging die eigentliche Information meist einfach unauffindbar verloren. Unter anderem wurde die Sinnhaftigkeit der Verbände um ihre Arm- oder Beinregion diskutiert. Niemand, so machte es den Anschein, schien sich einen Reim draus machen zu können, was diese abstruse Verordnung nun sollte. Doch diese Klagen waren leise und hinter vorgehaltener Hand, sodass achtgegeben wurde, dass die Wörter nicht bis zu den Ohren der Gläubigen reichen würden. Andere prahlten über das Badeereignis und andere über die mysteriösen Leichenfunde in den Gassen des Elendsviertels. Nach einigen sollte es ein Monster sein, dass dem Riss entsprungen war - andere behaupteten, es sei ein Mensch, der seinem Verstand verloren hatte und verfallen im Wahnsinn Angst und Schrecken verbreite, wiederum andere hielten diese Morde für Ammenmärchen; ausgedachte Geschichten, die der Fantasie eines Handlesers entsprungen seien. Eine Sache unter all dem Tuscheln ließ Lex doch kurz innehalten.
Es ging um das Gerücht einer neuendeckten Pflanze, die von solch atemberaubender Schönheit wachse, dass die Gläubigen sofort ihrer kultiviert hatten. Sie nannten sie die Blaue Rose, angeblich, so hieß es, sollten ihre azurblauen Blätter zerrieben und gemahlen besonders gut brennen, sodass das Atmen des aufsteigenden Rauches den menschlichen Verstand benebele – ihn gar an einen anderen Ort sende, von denen Einige behaupteten, er läge hinter dem Riss selbst. Doch sollte man ein einziges Mal diese Weite, und wahrhaft unvorstellbare Welt gesehen haben, so wollte man sich der Berauschung wieder und wieder hingeben. Es sollte von dir Besitz ergreifen - dich nötigen, die Dämpfe immer tiefer, intensiver und länger zu inhalieren, bis irgendwann dein Geist nicht mehr zurückkehren würde; den aschfahlen Körper wie den Kokon eines Schmetterlings zurücklassen. Die Gläubigen erkannten darin Potential, vor allen im Sinne ihrer Geldbörsen. Sie wollen es, als einen Weg, dem Wesen so nah es ging zu kommen, vermarkten, um Sündiger zu heilen und sich somit von Missetat und Frevel freizukaufen.
Ein Schauder rann über Lex' Rücken. Ihm fröstelten Arme und Beine gleichermaßen. Er zuckte zusammen bei der Erkenntnis, dass man zwar die Menschen von ihren Ketten der Sünde befreite, sie allerdings in die Ketten der Sucht und Wiederkehr legen würde. Gar abhängig von der Blume machen würde. Er spürte, wie sich die Wut über diese Frechheit in ihm ausbreitete, denn die Armen konnten sich diese Befreiung erst recht nicht leisten und die Gläubigen würden damit ein Vermögen scheffeln, erneut auf Kosten unzähliger Leben. Da er allerdings noch nichts weiter von der wundersamen Pflanze gehört hatte, schob er diese Gerüchte wohl anderen sonderbaren Geschichten zu. Außerdem war er sich im Klaren, dass – sollten die Menschen den abhängigmachenden Faktor der Pflanze kennen - niemand so töricht sein würde, sie einzunehmen.
Leise schloss Lex die Tür hinter sich, aufatmend den Hausherren nicht über dem Weg gelaufen zu sein. Nachdem er die Notdurft seiner Mutter beseitigt hatte und die Löcher in den Beinen durch die Kolz mit neuen Schmierkwurzeln eingeschmiert hatte, legte er einen Holzscheit in den Ofen und brachte das Wasser, das er in weiser Voraussicht in einem Eimer mitgebracht hatte, zum Kochen. Nebenbei schnitt er den Kohl, die Möhren und die Kartoffeln in kleine quaderförmige Stücke und warf sie in den Topf. Wobei das Schneiden viel eher einem Rupfen glich, denn das stumpfe Messer hatte seine besten Tage längst hinter sich und ein Klingenschleifer war nicht bezahlbar. Vollkommen in Gedanken versunken und geistig abwesend fragte er sich häufig im Anschluss, wann er all dies gemacht hatte. Erst nach mehrmaligen Rufen seiner Mutter konnte er sich aus dem Trott befreien. Lex schwang herum und sah in ihre besorgten Augen, als könne sie all den Zweifel auf seiner Seele deutlich erkennen. All die Schmerzen in seiner Brust, dessen Ursprung er nicht kannte, aber von denen er vermutete, dass sie vom Dämon in ihm kommen würden. All die Unklarheiten und Furcht, die mit einhergingen.
„Was!?", fragte er mit zitternder Stimme.
„Du weinst", sagte seine Mutter mit gefasster Stimme.
„Tue ich überhaupt nicht", versuchte er zu protestieren, doch sie hatte Recht. Lex' Augen tränten und das nicht etwa, weil er Zwiebeln zerriss, sondern weil all die Dinge, die ihn belasteten, drohten, ihn in einer Flutwelle aus Angst, Verwirrung, Beklommenheit und Unbestimmtheit fortzuspülen.
„Seitdem du durch diese Tür gekommen bist", drängte seine Mutter nach.
Lex tupfte mit seinem Ärmel das Auge ab. Offenbar schien er dies unterbewusst mehrfach gemacht zu haben, denn sie waren von solcher Feuchte, als stände er just in dem Moment draußen im beginnenden Regenschauer.
„Es ist nichts, wirklich", betonte er.
„Lex, ich sehe, wenn dir etwas fehlt. Ich sehe, wenn dich Kummer plagt. Ich fühle, wenn in dir Schmerz aufkommt..." - nie hatte Lex die Augen seiner Mutter so aufgerissen und streng erlebt, fast schon wütend - „.. ich verabscheue eine Welt, in der mein einziger Sohn jeden Tag mit neuen schlimmen Dingen in Kontakt kommt! Mit neuen Lügen und Strafen der Gläubigen, die an dir zerren und deine Kraft langsam heraussaugen. Bitte, erzähle mir, was dich bedrückt."
Ihr Blick entschlossen, voller Wärme und einem Hauch Angst.
Lex atmete tief ein. Sein Brustkorb hob sich, bis bald seine Lungen keine Luft mehr aufnehmen konnten. Langsam schloss er die Augen, als wollte er, während er sein Herz ausschütte, nicht in die Pupillen seiner Mutter schauen.
„Ein Dämon hat mich befallen. Er lässt mich denken, die Frauen seien allesamt uninteressant. Selbst die badenden Schönheiten der Hohen- und Mittelschicht brachte nur Desinteresse und Verwirrung in mir auf. Der Große Don war absolut ihrem Bann verfallen. Jede Minute versuchte er mir eine neue schmackhaft zu machen, mir zu erzählen, wie wunderhübsch sie sind. Aber ich fand sie nicht hübsch. Der Dämon macht sie unschmackhaft. Er vernebelt meine Gedanken, lässt mich nur an Liam denken. Ich möchte so gerne bei ihm sein, meine Hände um ihn schlingen, einfach nur in seiner Nähe sein; das sind die Gedanken, die mir der Dämon auferlegt. Ich will dieses Ding in meinem Kopf loswerden, nicht abnormal sein! Doch fürchte mich vor den Schlägen und Hieben, den Peitschen und Riemen, die als Heilmittel von den Gläubigen gefordert werden. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich mich manchmal nicht einfach absichtlich in Gefahr bringe, damit mich Liam rettet."
Sein Herz raste. Wohlwissend, wenn er diese Worte in der Öffentlichkeit ausspie, würde er einem abartigen, unwürdigen und furchtbaren Tode entgegenblicken, der nicht nur ihn beträfe, sondern Liam ebenfalls und alle Bekannte in seinem engeren Umkreis. Zögerlich öffnete er seine Augen, die trotz der geschlossenen Lider Tränen durchsickern und an seinen rot angelaufenen Wangen herabströmen ließen. Doch zu seiner Verwunderung erblickte er kein Gesicht, das ihn mit Abscheu und Ekel anblickte. Im Gegenteil, die Lippen bildeten ein leichtes, kaum wahrnehmbares Lächeln, die Augen strahlten vor Wärme und die Gesichtszüge hingen erleichtert und entspannt.
„Ich möchte normal sein, wie alle anderen auch!"
„Lex!", begann seine Mutter nach einer Weile. „Du bist vollkommen normal. Du hattest nie einen Dämon in dir, der dir Dinge ins Ohr flüsterte. Du bist verliebt." Sie hielt inne, ließ die Worte auf Lex wirken, der nun mit Bestürzung befüllt war.
„Ich habe immer versuch, dass du die Welt wahrnimmst, wie sie ohne die Lügen und listigen Zungen der Gläubigen ist. Aber in dieser Welt machen sie die Regeln, legen sie voller Schwärze und Weiße aus. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass besitzergreifende Dämonen genauso ein Hirngespinst sind, wie das sinnlose Festhalten an der flachen Erde."
„Aber warum liebe ich dann einen Jungen, wenn es nicht von einem Dämon kommt?"
„Weil es auch solche Menschen gibt. Und auch solche Menschen sind normal. Sieh doch, was ist das Einzige, was dich unterscheidet? Etwa deine Kleidung? Deine Sprache? Deine Hautfarbe? Nichts davon, du bist wie jeder andere. Du möchtest mit einer Person dein Leben genießen, die du gerne bei dir hast, die du nicht missen möchtest, mit der du lachst und die dich tröstet, dir Geborgenheit gibt und dir Sicherheit verspricht, mit der du glücklich bist. Und dabei sollte dir egal sein, wer diese Person ist, denn wenn sie dies alles erfüllt, dann hast du die richtige gefunden. Dabei ist es vollkommen irrelevant, ob diese männlich oder weiblich ist. Ich freue mich, dass du einen Menschen gefunden hast, der all diese Dinge für dich erfüllt. Du solltest dich keineswegs schämen für die Person, die du magst oder für das was du bist, denn du bist wunderbar, wie du bist. Und jeder, der das nicht einsieht, ist den giftigen Worten der Gläubigen verfallen. Nicht besser als dieses Gesindel voller Hochstapler. Umso mehr schmerzt es mich, dass ich meinem Sohn eine solche hässliche Welt hinterlassen muss. Ich wünschte, dieses Regime würde stürzen, fallen von seinem hohen Turm und zerschellen an seinen eigenen Regeln."
Sie schaute bedrückt in die eiskalte, finstere, ungemütliche Nacht, während Regen wie so oft gegen die Scheiben drosch und Hagelkörner am Fensterladen auf- und absprang. Die Menschen versuchten sich panisch vor den fliegenden Geschossen in Sicherheit zu bringen. Einige stellten sich unter, andere betraten ihre Häuser.
„Wie kann eine Welt, die so bunt und schön ist, so hässlich sein", wiederholte seine Mutter einen Satz, den Lex in letzter Zeit zu häufig aus ihrem Mund vernommen hatte. „Komm her, setz dich neben mich."
Innerlich atmete Lex auf. Es tat ihm gut, über seine Sorgen zu sprechen. Sicherlich würde er noch immer in Probleme laufen, sollte er diese Dinge auf offener Straße hinausposaunen, doch ihre Worte waren besser als Balsam und Schmierkwurzeln zusammen. Sie erstickten die Sorgen eines Dämons in ihm im Keim. Er ließ sich auf das weiche Bett nieder und spürte, wie seine Mutter voller Freude ihre knochigen Arme um ihn legte. Er traute sich kaum ihren zerbrechlichen Körper zu fest zu drücken. Die Liebe einer Mutter flutete ihn mit Hoffnung und spülte alle Zweifel weg. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er schreckte auf, sah seine Mutter an.
„Was ist, wenn Liam mich nicht mag? Und er nicht mir sein Leben verbringen möchte?", fragte er besorgt.
„Lex, diese Sache solltest du ihn fragen."
„Was, wenn er es ablehnt?"
Seine Mutter schmunzelte.
„Dann ist es wichtig, dass du das respektierst. Du darfst ihm die Liebe nicht aufzwingen." Sie legte sich zurück und als sie Lex' Zweifel im Gesicht erneut wachsen zu sehen begann, setzte sie erneut an: „Habe ich dir eigentlich im Detail erzählt, was Liam getan hat, als er hier war? Nein? Nun, er war stinksauer auf mich. Ermahnte mich, was ich für eine Mutter sei, die einfach ihr Kind hier liegen ließe. Er hatte sich solche Sorgen gemacht um dich, dass er sich wahrscheinlich mit den Gläubigen selbst angelegt hätte. Er nahm deine Sachen, hängte sie alle mit größer Sorgfalt auf. Er hat extra für dich gelernt, wie man Bandagen anlegt und Schmierkwurzeln aufträgt und als er damit fertig war, beobachtete er dich wie ein Hündchen. Jedes mal, wenn du gestöhnt hast oder deine Atmung schwer war, drehte er sich panisch um und seine Augen flehten buchstäblich nach Hilfe. Er hat dich keine einzige Sekunde aus den Augen gelassen, keine Minute die Lider geschlossen. Er saß vielleicht sechs, vielleicht sieben, vielleicht acht Stunden hier und betete zu allen Wesen, die er sich vorstellen konnte, um dein Wohlergehen. Glaube mir, nur jemand, dem du so viel bedeutest, würde all den Stress auf sich nehmen, wie er es getan hat."
Lex lächelte. Seine Tränen waren getrocknet. Sein Strahlen war zurückgekehrt. Sie unterhielten sich viel an diesem Abend. Lex erzählte einen Haufen an Geschichten, die er erlebte hatte. Seine Mutter hörte ihm zu, lachte hier und da lautstark. Und es tat ihm gut, endlich all diese Dinge loszuwerden.
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