Kapitel 2
Lex kam nach Hause. Erschöpft stellte er den Korb mit der sauberen Wäsche auf den splitternden Holzboden und legte seine Seife in ein winziges Steinschälchen auf der kleinen Kommode zu seiner linken Hand. Er wischte sich noch einmal den Schweiß mit seinem dreckigen Ärmel von der Stirn, dann legte er seine aus Lumpen zusammengenähte Jacke ordentlich beiseite.
Der Raum war nicht sonderlich groß. Ein kleines Schränkchen an der Seite und ein Tisch, an dem nie jemand saß. An der rechten Seite waren die Überreste einer kleinen Feuerstelle unter einem alten Ofen, der durch das Holz, welches Lex jeden Herbst aus dem Wald holte, betrieben wurde. Aus einfachen Steinen gefertigt, besaß er zwei Klappen. Ebenjene, in die Lex das Feuerholz legte und in welchen er sein Brot backte. Außerdem gab es einen Haken für einen größeren Kessel, in dem über offener Flamme gekocht werden konnte. In der linken Ecke des Zimmers war hinter dem Vorhang das Waschzimmer. Zwar immer noch im gleichen Raum gelegen und nur durch eine dünne Decke von dem anderen Teil abgegrenzt, beherbergte es einen Eimer und ein Becken mit eiskaltem Wasser.
Bei dem Geruch aus dem Teil des Zimmers befürchtete Lex, dass er den Eimer bald schon wieder leeren müsste. Eine Aufgabe, die ihm weniger Spaß machte. Denn nicht allzu häufig gelang es ihm, den Inhalt nicht auch auf sich selbst zu gießen, wenn er ihn leerte. Selbst wenn er es wie alle anderen aus den Fenstern kippte und gerade mal kein Passant die vielbelaufene Straße vor seinem Haus entlang ging, musste der Wind günstig stehen. Da ihm das Risiko zu groß war, seine eigene Wohnung zu besudeln, brachte er den Eimer immer in den Hinterhof und vergrub den stinkenden Inhalt in der Erde.
Geradeaus stand eine Pritsche und ein Bett genau am Fenster, was einen weiten Blick über das Meer aus Dächern der Stadt bot. Die rauchenden Schornsteine der Familien, die gerade kochten, stießen vereinzelt kleine Rauchwolken in den Himmel. Es waren nicht viele, denn die meisten hatten nichts, was sie kochen konnten.
Seine Mutter saß in dem Bett und starrte wie verzaubert in die Ferne der Stadt.
„Ich bin wieder da, Mutter", sagte Lex und ging in Richtung des Herdes. Zweimal schlug er einen Stein gegen ein Messer und ließ kleine Funken tanzen, die das trockene Stroh zum Qualmen brachten. Er umschloss seine Schöpfung behutsam mit den Händen, legte weiteren getrockneten Zunder hinzu und pustete vorsichtig von unten, sodass die Flamme wuchs. Früher hatte ihm das Feuermachen noch Probleme bereitet, doch inzwischen war es für ihn ein Leichtes.
Bald schon hatte das Feuer die gesamte Stelle unter dem Kessel eingenommen und erwärmte die Suppe, die vom Vortag übrig war. Wie auch immer der Inhalt des Kessels als Suppe bezeichnet werden konnte. Zwar waren kleine Stücke von Kohl und Rübe enthalten, allerdings musste man sehr lange und ausgiebig danach suchen, um sie zwischen all der dünnen klaren Flüssigkeit zu finden. Dennoch breitete sich ein wohlriechendes Aroma im Raum aus, was vor allem den knurrenden Magen am meisten erfreute. Schließlich sollte dies seine erste Mahlzeit am heutigen Tage darstellen und die Sonne entschied sich bereits am Horizont zu verschwinden.
„Wie kann eine Welt, die so schön ist, so hässlich sein?", fragte seine Mutter und streckte ihre knorrigen, langen Fingern in Richtung der Glasscheibe. Sie fuhr mit ihnen in den viereckigen Glaskacheln herum, als könne sie die Welt, wie sie vor ihr lag, nachzeichnen und umfahren. In Wirklichkeit war sie allerdings verdammt und gebunden an dieses Bett, vollständig angewiesen auf die Hilfe von ihrem einzigen Sohn Lex.
„Hier!", sagte Lex und reichte ihr eine Schüssel mit Suppe.
„Danke, Lex. Was würde ich nur ohne dich machen?"
Die grobe Schale war geschnitzt aus dem Brennholz, welches Lex sammelte. Ab und an kam Liam, half ihm und nahm sich das ein oder andere Holz mit, aus dem er verschiedenste Sachen schnitzte, wie etwa die Schüssel, die Lex gerade seiner Mutter gab.
„Iss, solange die Suppe heiß ist."
„Warum gibst du mir die dicken Stücke, Lex, und isst selber nur die dünne Suppe?"
„Damit du schnell wieder gesund wirst, Mama.", sagte Lex und schlürfte seine eigene Suppe. Tatsächlich war sie so dünn, dass Lex den Grund der Schüssel durchscheinen sah.
„Wie lange liege ich hier in diesem Bett, Lex? Und kann nicht mehr laufen. Egal wie gut das Essen ist, das du kochst. Ich werde nicht gesund werden. Die Kolz ist keine Krankheit, die mit viel Essen weggeht. Ich kann nicht die guten Sachen in der Suppe essen und gleichzeitig schauen, wie mein einziger Sohn immer mehr an Gewicht verliert. Lass uns bitte die Suppen tauschen."
„Aber..."
„Kein aber. Du weißt das! Ich habe vorhin deinen Magen knurren hören, als du durch die Tür hereingekommen bist und ich glaube nicht, dass er aufhört zu knurren, wenn du nicht etwas Sinnvolles isst."
Mit ihren zittrigen Händen hielt sie ihm die viel zu schwere Suppe hin. Lex sah, wie sich seine Mutter an dem heißen Inhalt verbrannte. Ihre Finger leuchteten fast schon hellrot. Er nahm ihr sogleich die warme Suppe aus der Hand und gab ihr seine in ein Tuch eingewickelt.
Der Anblick brach ihm sein Herz. Sein ganzes Leben hatte sein Mutter alles für ihn getan, doch seit knapp einem halben Jahr musste er tatenlos mitanschauen, wie seine Mutter von Tag zu Tag immer mehr an Kraft und Lust am Leben verlor. Die rappeldürre Gestalt, der die Haare in Büscheln ausfielen und der die Zähne im Mund zu wackeln begannen, war kaum noch als das zu erkennen, was Lex in seiner Erinnerung versuchte zu wahren. Er konnte fast jeden Knochen an ihrem Körper durch die bleiche Haut erkennen. Am liebsten wäre er in Tränen zusammengebrochen und hätte die Welt verflucht. Doch er war stark. Versuchte es zumindest. Zu weinen würde seine Mutter nicht heilen, vor ihr zu weinen würde ihr noch viel weniger helfen. Stattdessen weinte Lex jede Nacht. Wenn er sich auf die Pritsche legte und hoffte alleine unbeobachtet zu sein. Dann liefen seine Tränen über seine Wangen, bis er schließlich vor Erschöpfung einschlief.
Er stand auf, holte eine Bandage aus der alten Kommode. Staubige Luft kam ihm entgegen, als er die oberste Schublade öffnete. Vorsichtig und langsam legte er den Verband um die verbrannte Stelle der Hand seiner Mutter. Dann biss er das Ende ab und machte eine kleine Schlaufe.
„Danke, Lex", sagte seine Mutter und streichelte ihm über die rauen, dicken, braunen Haare. Ihre Hand fühlte sich schwach an. Fast, als wäre alle Kraft aus ihrem Körper entwichen und in jeder Sekunde würde weitere Energie aus ihrem Körper fliehen. Lex sah das Lächeln im Gesicht seiner Mutter und musste sogleich seine Tränen zurückkämpfen. Er wandte sich ab und wischte mit seinem Ärmel über seine übermüdeten Augen.
Wie können ihre Augen trotzdem so strahlen?
„Du solltest dich hinlegen", sagte Lex.
„Aber ich möchte dich sehen, wie du bist. Und nicht die triste Decke mit ihren morschen Holzbalken über uns", sagte seine Mutter.
„Ich sehe, wie sehr es dich plagt, in dieser Position zu verharren."
„Es würde mich mehr plagen, dich nicht zu sehen." Ihre zitternde Stimme klang schwach. Doch sie griff seine Hand, so fest sie konnte. Es fühlte sich für Lex an wie ein normaler Händedruck.
„Erzähl mir von deinem Tag", sagte sie.
„Was soll ich groß erzählen. Ich habe den ganzen Tag Wäsche gewaschen und....", Lex erinnerte sich, wie die Sonne auf Liams nassem Körper glitzerte.
„Was? Erzähl weiter", drängte seine Mutter.
„Liam hat mir Gesellschaft geleistet. Er hat geangelt, aber hatte nicht so viel Glück."
„Seitdem die großen Netze der Fischerei den Fluss fast leergefischt haben, glaube ich kaum, dass Liam irgendwas in diesem Fluss fängt. Inzwischen ist der Staudamm funktionsfähig. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein Fisch durchschwimmt."
„Woher weißt du das?"
„Lex, ich sitze den ganzen Tag an einem offenen Fenster. Zwar ist mein Körper schwach, aber meine Ohren funktionieren noch sehr gut. Ich höre sehr viel vom Gerede in den Straßen."
„Das ist furchtbar, viele haben an dem Fluss Fische geangelt, wenn sie Netze weiter unten anbringen und kein Fisch mehr zu uns schwimmt, dann..." Lex wollte sich gar nicht ausmalen, wie viele Menschen auf das Fangen der Fische verzichten mussten. Wie viele neue hungrige Mäuler die Netzblockade in das Elendsviertel bringen würde.
„Glaubst du, sie hören damit auf, wenn sie sehen, dass es uns schlecht geht?", fragte er unschuldig.
„Lex, warum sollten sie das tun? Warum sollten sie sich um die Armen kümmern."
„Weil wir auch Menschen sind. Weil wir auch essen müssen!", sagte Lex.
„Nein, in ihren Augen sind wir keine Menschen - wir sind Ungeziefer. Würdest du einer Ratte ein Stück deines Käses abgeben?"
Lex schüttelte den Kopf.
„Siehst du! Du würdest ihn lieber selber essen. Ich weiß, du machst dir Sorgen, aber was immer du tun solltest, verrate niemals deine Freunde", ihre letzten Worte waren schwach und ihre Energie für den Tag war aufgebraucht. Lex legte seine Mutter vorsichtig ins Bett. Er spürte ein Stechen in seiner Brust, Sorge um Liam.
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