Kapitel 18
Ein Feuer brutzelte den gefangen Fisch und verströmte wohltuendes Aroma, wie Lex es lange nicht gerochen hatte. Wie Wind strichen die Flammen an den Schuppen der an Stöcken aufgespießten Tiere entlang, verfärbten sie in ein wunderschönes Braun. Der Abend verlief ruhig, zu ruhig. Weder Liam noch Lex fanden die richtigen Worte, Junis Plan zu rekapitulieren. Zu groß der Schock, den diese waghalsige Idee auf die Zuhörer ausübte. Schon allein der Gedanke daran ließ ihn frösteln. Sollte auch nur ein winziger Schritt fehlschlagen, so würden sie niemals wieder dort lebend herauskommen.
Anders als sonst waren sie nicht alleine an den Böschungen des Ufers. Zwar blieben die Gebüsche tagsüber in der Regel von jeglicher Menschenseele verschont, doch sobald die Sonne den Horizont in bunte Farben verwandelte, versammelten sich dort viele Menschen, die es beforzugten nicht gesehen zu werden.
Lex zog seine Beine näher an den Körper, verschränkte seine Arme darum und versucht so nah es ging an das wohlduftende Feuer zu krabbeln. Verschlossen, nachdenklich und ängstlich verlor er seine Gedanken an die wundersamen Formen des Flammenspiels. Schwarzer düsterer Rauch stieg in den windstillen Himmel gerade nach oben. Dennoch kam er nie an, denn die alte Eiche am Wasser schirmte die Flucht der Rauchschwaden vollständig ab. Der Fluss daneben flüsterte seine geheimnisvollen Lieder in gleichstimmiger Harmonie mit dem Knacken des brennenden Holzes, die hier und da von springenden Fischen unterbrochen wurde.
Immerhin zeugte dies davon, dass der Schaden an jener Fischerei so groß war, dass sie nicht gleich wieder alle schwimmenden Lebewesen aus dem Fluss zu klauen begannen.
„Ich glaube, sie sind fertig!", sagte Liam voller Vorfreude auf dieses gewaltige Festmahl. Ähnlich wie Fussel lief ihm schon eine ganze Weile das Wasser im Mund zusammen.
„Ja!", sagte Lex geistesabwesend. Er konnte sich nicht entsinnen, wann er das Feuer entfacht hatte oder wann Liam die gefangen Fische zubereitet hatte, noch wann Fussel sich an seine Seite kuschelt hatte oder seit wann er den Welpen unterbewusst zwischen den Ohren kraulte. Wie hypnotisiert starrte er auf den orangenen Schimmer des Feuers auf dem nächtlich dunkelgefärbten Fluss. Plötzlich schauten ihn zwei Fischaugen an.
„Ich bin fertig und möchte gegessen werden", verstellte Liam seine Stimme und hielt Lex den braungebratenen Fisch am Stock hin.
„Wie kannst du so gut drauf sein? Obwohl es das letzte Mal sein könnte, dass wir so friedlich beisammen sitzen?", fragte Lex bestürzt, als er sich um die unbekümmerte Art von Liam sorgte. „Ich will nicht, dass du gehst!"
Liam lächelte auf ihn herab. Er war keineswegs unbesorgt. Doch Lex erkannte die offensichtlichen Anzeichen wie das leichte Zittern und die ängstlichen Augen nicht.
Die Worte von Juni vom Vormittag schienen wie festgefressen in seinem Kopf zu sein.
Ihr solltet nicht so nah miteinander sein. Ich kann euch aus allem herausholen. Aber dagegen bin selbst ich machtlos!
Wenn nicht einmal Juni etwas dagegen machen konnte; und er dies sogar selbst einstand. Dann sollte er aufhören und alles in seiner Macht stehende unternehmen, nicht noch tiefere Gefühle zu entwickeln. Er schaute kaum zu Liam, versuchte seinen Blick abzuwenden. Und auch jetzt flüchtete er sich lieber in seine dunklen, schwarzmalerischen Gedanken, als dass er ein Gespräch suchte. Natürlich verpasste er deshalb alle Anzeichen von Liam.
„Lex, ich bin alles, aber nicht entspannt. Und noch viel weniger sorglos, noch gut drauf. Ich fürchte mich, wie ich mich noch nie gefürchtete habe. Aber Juni hat recht, wir kommen nicht raus. Sie suchen uns. Wir haben die Wahl. Entweder gewinnen wir; oder sie werden uns irgendwann finden. Wir können uns nicht verstecken", sagte Liam und biss ohne Rücksicht auf Gräten in den knusprigen Fisch. Jemand dessen Hunger so enorm war, dass selbst das Grummeln des Bauches längst schon aufgab, nach Nahrung zu schreien, kümmerte sich nicht um die festen Flossen. Stadtessen kaute er zwei bis dreimal mehr und zermalmte das kaum Essbare genüsslich zwischen seinen Zähnen.
„Gib es keinen einfacheren Weg?", fragte Lex.
„Wenn es den gäbe, hätte Juni diesen doch sicherlich über diesen gestellt, oder? Er würde uns doch nicht sinnlos in Gefahr bringen, oder? Außerdem haben seine Pläne bisher immer geklappt."
Liam betrachtete die Bandage an Lex's linker Schulter. „Bis auf das eine Mal", fügte er seiner Ausführung hinzu.
„Willst du es denn nicht verstehen? Wenn du hierbei einen kleine Fehltritt machst, steckt dir mehr als ein Messer in der Schulter. Liam, ich habe Angst. Angst, um dich!", sagte Lex mit zitternder Stimme. Er atmete tief ein, versuchte seinen Verstand zu beruhigen, bis er schließlich die unauffindbaren Worte fand. Er verlor sich in den unendlichen Gütigen Augen von Liam und merkte, wie seine Sicht verschwamm.
„Du hast gehört, was sie dem Kleinen Don angetan haben, nachdem er einen fauligen Apfel aus dem Müll im Stadtteil der Gläubigen gestohlen hat. Das Vergehen, das Juni für dich plant, ist von weitaus schlimmerer Abstammung, als jener Apfel, der all das hier gestartet hat! Er verlangt von dir, dass du den Palast infiltrierst und die Schlafmittel der Gläubigen stiehlst. Das ist Wahnsinn, vollkommen verrückt und gefährlich."
Liam setzte sich direkt an Lex. So nah, dass ihre Schultern sich berührten.
„Ich weiß nicht mehr viel von meinen Eltern. Die Rote Hand tötete sie. Ich weiß nicht mehr, warum. Damals weinte ich ununterbrochen, schwörte Rache und bald schon vergaß ich die Gesichtszüge meiner Familie. Wie Sand durch ein Stundenglas rannen ihre Gedanken durch meinen Kopf, verwischten sich immer weiter in verschwommenen Bildern, die sich jederzeit änderten. Ich verlor alles, was ich hatte – auf einen Schlag stand ich mit nichts da. Sie beraubten mich meiner Eltern, meinem Zuhause, meiner Würde, meinen Wunsch, jemals in dieser abscheulichen Welt Fuß zu fassen und später sogar den Antrieb, meine Eltern zu rächen, denn mir wurde klar, wie nutzlos und bedeutungslos ich bin. Doch eine Sache blieb mir immer im Kopf. Das Einzige was ich noch weiß – was sie immer zu sagten pflegten, als ich als kleines Kind auf ihren Schultern saß. Der Mensch ist ein Baum. Er wächst hoch hinaus, wie diese Eiche und beschattet alles darunter, zum Leidtragen aller Gräser und Blumen, denn nur die obersten Blätter dürften sich im Sonnenlicht baden. Die kleinen unbedeutenden Pflanzen darunter werden eingehen, denn selbst die Wurzeln der großen Bäume klauen ihnen das Wasser. Lex, wir sind nichts anderes als kleine Sprösslinge, die versuchen zu wachsen. Wir bekommen weder das Wasser, noch das Licht. Doch solange, wie ich erkenne, dass du noch nicht eingegangen bist, versichere ich dir, dass auch ich nicht verdorren werde!" Den letzten Satz sagte Liam voller Überzeugung. Er schlug mit seiner Faust auf seine Brust, welche in einem dumpfen Klopfen antwortete. Sein freudiges Auftreten und seine positive Einstellung schafften es, Lex ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.
„Liam, wie oft denkst du an mich?", fragte Lex.
„Immer! Mir ist egal, was Juni sagt. Die Gläubigen, dieses beschissene System schert sich einen Dreck um mich. Ich verletze niemanden, ich belästige niemanden und ich sehe nicht ein, warum diese vergoldeten Arschlöcher mir vorschreiben, an was ich denken soll. Sie können ihre Stadt regieren, aber nicht, dass was in meinem Kopf vor sich geht."
Trotz des wenigen Essens teilten die beiden ihren Fisch mit Fussel, der anscheinend sein Lieblingsgericht gefunden hatte. Er konnte kaum genug bekommen und selbst als die Fische bis auf Flossen und Kopf gegessen worden waren, machte sich der kleine Welpe über die Überbleibsel her und verputzte sie restlos.
Still und nachdenklich saßen sie zusammen und starrten in die Flammen des kleinen Feuers vor ihnen. Fussel jagte den kleinen fliegenden Glühwürmchen hinterher und bellte immer dann leise, wenn er eines zwischen seinen Pfoten erhaschte.
„Schau, wie hoch er springt und wie agil er ist!", staunte Lex.
„Ja, er übt seinen Jagdinstinkt. Angeblich soll er - ja laut Juni - ein Riesenwolfshund sein. Komm Fussel, komm her", rief Liam dem Hund zu und dieser tapste unbeholfen durch das für ihn hüfthohe Gras.
„Wie gut er hört! Du solltest ihn heute Nacht bei dir behalten, Liam. Falls jenes Wesen wieder kommt, kann er dich wecken. Heute Mittag knurrte er voller Aufregung, als ich diesen abscheulich süßen Geruch vernahm. Vielleicht kannst du dann schlafen", sagte Lex und stocherte im Lagerfeuer, sodass das obere Holz herabfiel und kleine Funken durch die Luft geschleudert wurden.
„Bist du dir sicher?", fragte Liam vorsichtig, obwohl der Vorschlag seine Augen glänzen ließ.
„Ja, ich nehme an, der Hausherr wird sowieso keinen Hund dulden."
„Danke!", sagte Liam.
„Wofür?"
„Für alles. Danke, dass du da bist. Danke, dass trotz dieses Schattens, der auf uns geworfen wird, du immer für mich strahlst. Ich brauche das Licht der Sonne nicht, wenn du da bist."
„Nein, ich muss mich bei dir bedanken", versuchte Lex sein hämmerndes Herz zu übertönen. „Du bist derjenige, der mich - wer weiß, wie oft - in der letzten Woche rettete."
Das waren die Momente, vor denen Juni sie gewarnt hatte, denn gerade jetzt fühlte er sich so nahe bei Liam wie noch nie zuvor. Er erwartete vieles: Schmach, Hass, Abscheu, vielleicht sogar einen Blitz, der ihn auf der Stelle treffen würde, doch all diese Dinge blieben aus. Er fürchtete diese Sache auszusprechen, aber er mochte es. Einfach nur neben Liam sitzend, ihre Schultern aneinandergelegt und zusammen, die Stille der Nacht beobachtend in die flammende Glut starren, erfüllte ihn mit einer solchen Freude, dass das Gefühl danach ihn abhängig machte. Gerade als er meinte, dass es nicht mehr besser werden konnte, vernahm er ein leichtes Knurren von Fussel.
„Was ist los mit dir?", fragte Lex.
„Nicht das Vieh, oder?" Liams Stimme klang verunsichert.
„Nein, die Luft riecht nicht süß. Es ist etwas anderes."
Beide wichen ängstlich zurück. Egal, welcher Schrecken in den Sträucher sein Unwesen trieb, sie wollten es nicht herausfinden. Doch das penetrante Rascheln, das in jeder Sekunde an Lautstärke zunahm, übertönt von freudigem Jagdgebell monströser Hundewesen, näherte sich unaufhörlich. Als sich plötzlich zwei nackte Gestalten voller Panik einen Weg durch das Unterholz brachen. Durch die Gestrüppe an den Seiten des Flusses stürmten und vollkommen zerkratzt von Dornen, voller Panik, Verzweiflung und Angst vor den überdimensionalen Abscheulichkeiten fliehend.
„Lauf!", hörten sie die luftlosen Lungen stöhnen.
Doch alle Beteiligten wussten bereits, wie diese Hetzjagd enden würde, denn die Riesenwolfshunde und die scheinenden Laternen der Wachen kamen stetig näher. In ihrem Weg rannten sie alle kleinen Bäume nieder, knickten ihre jungen dünnen Äste, die am Tage die Sonne suchten, zu Boden.
Die unglücklich Fliehenden begingen zwei Fehler; Fehler, für die diese groteske Welt keinen Platz oder Akzeptanz empfand. Zum einen liebten sie das gleiche Geschlecht; und zum anderen waren sie töricht und ließen sich erwischen.
Wie angewurzelt standen Lex und Liam da. Sie konnten nichts machen. Selbst das Atmen trauten sie sich nicht. Die vorbeisprintenden Wachen ignorierten die beiden Jungs. Denn ihre Menschenjagd galt nicht Lex und Liam, sondern jenen, die es wagten, eine der Grundregeln zu verletzen. Es dauerte nicht lange bis grässliche, krächzende Schreie, die niemals von menschlichen Stimmbändern erzeugt werden sollten, nicht allzu weit weg die friedliche Nacht in einen Alptraum voller Schrecken verwandelte.
„Dieser Ort... die Wachen kennen ihn", stellte Liam fest, der genauso wie Lex in die soeben durchbrochene Böschung starte, in der Verwüstung, Zerstörung und Annihilation der Pflanzen stattfand. Zeitgleich wurde ihnen klar, wie dumm sie waren und wie viel Glück sie hatten.
„Liam, ich habe Angst."
In diesem Moment legte sich eine schwarze Wolke über die große Eiche, verdeckte die Sonne, sodass niemand mehr wachsen konnte und wie das dichte Blätterwerk alles Wachsende darunter in ein tiefes Schwarz taufte, denn ähnlich finster würde eine Zukunft für die beiden aussehen, wenn sie den Weg beschreiten würden und das wurde ihnen in diesem Moment klar.
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