Kapitel 17
Liams Augen strahlten, wie sie selten zuvor gefunkelt hatten. Er war kaum von dem kleinen Welpen zu trennen. Bald schon entschied er, den Hund aufgrund des flauschigen, flusigen Felles und seiner winzigen Größe Fussel zu nennen.
„Das ist ein dummer Name", schimpfte Juni. Der sich dem Tier kaum nähern durfte, ohne den fletschenden Zähne und dem knurrendem Bellen ausgesetzt zu sein.
„Wieso? Ich finde den Namen niedlich", entgegnete Lex.
„Lex, das ist ein Riesenwolfshund. Du weißt schon... die Monster, die dir die Gläubigen auf den Hals hetzen, wenn sie dich zerfleischt sehen wollen. Was stellst du dir vor, wie lange er so klein und flauschig bleibt?"
Junis Blickt brannte sich in Lex. Etwas Wahres drang deutlich durch. Diese Hunde - sollte es wirklich ein Riesenwolfshund sein - würden bald schon die am höchstgewachsenen Männer überragen. Weder wusste Lex, wie der Umgang mit diesen gefährlichen Tieren aussah, noch was sie fraßen oder woher sie überhaupt kamen. Einige Gerüchte ließen vermuten, dass ihre schiere Existenz und Herkunft jenseits des Risses lag. Das sie irgendwie hervorgekrochen waren und in die Welt der Lebenden eingefallen waren.
„Wenn er zu den Gläubigen gehört, werden sie sicherlich bald nach Fussel suchen", sagte Liam.
„Hör auf es Fussel zu nennen! Bezeichne das Ding eher als Monster oder Menschenfresser", beschwerte sich Juni und begann über Dinge zu grübeln. Nach einer Weile in der Ecke sitzend, meldete er sich schließlich wieder zu Wort.
„Eigentlich sind diese Dinger nur im Besitz der Gläubigen und Soldaten. Ich nehme an, er sollte dich anhand von Blutspuren finden."
„Wo ist sein Besitzer?", fragte Lex.
„Du solltest froh sein, ihn nicht getroffen zu haben. Andernfalls wärst du jetzt im Besitz der Gläubigen. Ich nehme an, der Hund ist davongestürmt, während der Besitzer ihn gerade am Suchen ist. Ihr solltet euch bedeckt halten, bis wir wissen, was mit ihm geschehen ist; oder das Vieh loswerden. Ist mir egal was ihr macht. Hauptsache ihr werdet vorerst nicht so gefunden, andernfalls könnte das sehr unschön enden", erklärte sich Juni kurz. „Ich werde mich umhören, vielleicht finde ich irgendetwas heraus."
Lex nickte ihm zu.
„Ich kann gar nicht verstehen, wie so etwas Niedliches, für solch schreckliche Dinge genutzt wird. Du wirst doch niemanden fressen oder?", sagte Liam und hob den kleine Welpen mit seinen Armen in die Luft, der sogleich begann, schwanzwedelnd sein Gesicht abzuschlecken.
Juni verdreht die Augen und ging weiter voraus. Entlang der engen Gassen und holprigen Wege. Vorbei an dem Stadtteil der Märkte. Sie waren wie unsichtbar für die anderen. Niemand interessierte sich für die dreckigen armen Kinder der Gosse. Ob sie nun unter den Lebenden verweilten oder nicht, würde keinen interessieren. Sie waren wie die ungewollten nervige Anhängsel, die keinen Platz in einer so männlich dominierten, erwachsenen Welt besaßen. Der Putz der Wände bröckelte und so bildeten sich zusammen mit schmutzigen Dingen, die aus den Fenstern gekippt wurden, einen Weg voller Hindernisse. Der Gestank der Straße ließ Lex die Nase rümpfen. Verglichen allerdings mit jenem Geruch von vor wenigen Stunden, als was auch immer einen unglücklichen Menschen massakrierte, bevorzugte er den widerlichen allemal. Niemals wieder wünschte er, sich diesen süßen Duft erneut zu riechen. Denn falls der Tod einen Geruch hatte, dann gewiss diesen. Doch immer, wenn er die Augen auch nur einen kurzen Moment zum Zwinkern schloss, stiegen ihm die zuckrigen Dämpfe in die Nase und ließen seinen Rücken verkrampfen.
Schließlich erreichten sie ihr Ziel. Die altbekannte Gasse zwischen den verlassenen Fachwerkhäusern und dem Trunkenen Winzer. Einer Brauerei, die das Getose der Trinkenden lautstark durch die Gasse schallen ließ. Die alten Fässer, die schon seit Ewigkeit vor sich hinrotteten, um die sich keiner scherte und deren Nägel von Rost zerfressen und ihre ursprünglichen Erscheinung kaum erhalten hatten, standen wie gewohnt herum. Süßliche Düfte gebratener Bohnen und Speck quollen aus den angelehnten Türen des Trunkenen Winzers und die ersten Menschen begannen bereits wieder alkoholisiert nach Hause zu torkeln.
Lex setzte sich auf eines der Fässer, wohlwissend, wo sich all die Nägel befanden, die ihm die Hose zerstechen würden. Liam nahm mit dem Welpen im Arm ihm gegenüber Platz. Streichelte dessen Fusseln und begann in einer Sprache, die Lex eigentlich nur bei Müttern gegenüber ihrer neugeborenen Kinder kannte, mit dem Hund zu sprechen. Juni stand angelehnt an der Wand seine Arme verschränkt und sah mitleidig auf Liam herab, wartete auf den Letzten im Bunde, der nach kurzer Zeit in die Gasse einbog. Sein dickes Kreuz überschattete alles hinter ihm liegende. Die Muskeln des Oberarmes, die längst aus seiner Kleidung herauswuchsen und zum Barsten brachte, ergaben eine so imposante Statur, dass selbst seine bloße Erscheinung jeden Zweifler einschüchterte. Seine Hand könnte problemlos die schmächtigen Oberkörper von Lex, Liam und Juni zerschmettern. Seiner massiven Erscheinung entgegenwirkend, konnte er widersprüchlicherweiße keiner Fliege ein Haar krümmen. Außer seiner Familie wurde aus fremder Quelle Leid zugeführt. Anhand seiner imposanten Erscheinung wunderte es niemanden, weshalb man ihn den Großen Don nannte.
„Da bist du ja endlich, Don", sagte Juni mit einem Blick auf den aktuellen Sonnenstand. Kaum waren die langen Schatten der Häuser noch bedeutungsvoll, als dass sie in die Schwärze der Nacht übergingen. Das Sternenlicht würde wieder vom Grummeln und Donnern des Himmels verschluckt werden. So zumindest kündigte die dichte rabenschwarze Wolkendecke auch in dieser Nacht verheißungsvolle Kälte und nasse Füße an.
„Entschuldige, ich bin momentan etwas neben der Spur."
„Verständlich", sagte Lex.
„Wie geht es dem Kleinen Don?", fragte Liam erwartungsvoll.
Doch der trübe Blick, gefüllt mit den weinerlichen Augen, die von vielen schlaflosen Nächten der vergangenen Tage zeugten, ließen Liam erkennen, dass er besser nicht weiter fragen sollte.
„Schrecklich, seit er die Hand verloren hat, weint er unaufhörlich. Er isst kaum noch was. Er traut sich nicht mehr aus dem Haus. Und das Schlimmste ist, niemand kann ihm helfen. Mutter versucht ihr bestes, nur leider leidet auch sie sehr stark darunter. Ich schwöre, ich zerreiße diese Frau in der Luft, sollte ich ihre hässliche Visage hier irgendwo sehen!", den letzten Teil schrie er fast, aber nur um den Schmerz und seine Tränen unterdrücken zu können.
„Gut, dafür sind wir hier", sagte Juni. Er wartete kurzzeitig, bis sich der Große Don ebenfalls einen Platz gesucht hatte; und als er das Gehör aller hatte, begann er zu erzählen.
„Die Richterin ist unser aller Feind! Die Gläubigen reagieren schnell auf uns, schneller als ich gehofft, aber nicht schneller als ich erwartet habe."
Lex schaute zu Juni. Der erste Versuch die Schuldigen zu finden, bleib ihm besonders im Gedächtnis. Die abwertenden Blicke, der pure Hass und die Widerwärtigkeit, die man ihm entgegenwarf, ließen ihn erneut in vollem Unbehagen zusammenzucken. Er stand der eiskalten, verhassten Frau Auge in Auge gegenüber und ihr Blick bohrte sich tief in ihn herein.
Juni erzählte weiter.
„Vorerst werden wir Ruhe genießen. Es wird dauern, bis sie zu einer neuen Idee kommen wird, wie sie uns ausfindig macht. So lange wir keine Fehler machen; oder uns anderweitig verraten. Das gibt uns die Chance, dass wir uns darauf vorbereiten können."
„Wenn wir nicht wissen worauf... Auf was bereiten wir uns dann vor?", fragte Lex. Er dachte seine Frage sei berechtigt, doch das Augenrollen von Juni zeigte ihm, dass er falsch lag.
„Natürlich nicht auf Unbekanntes. Eher unsere Schritte zum Gegenangriff. Lex und Don, ihr beide werdet mir Fleisch beschaffen."
„Fleisch, wir haben kein Geld dafür. Weißt du, wie teuer das Zeug ist?", grunzte der Große Don.
„Ja, ist mir bewusst. Ich brauche zwei Zentner."
„So viel! Wie sollen wir das besorgen?", fragte Lex, hoffend sich verhört zu haben. Fleisch war eine absolute Delikatesse und in ihrem Stand könnten sie bereits froh über den Duft des Speck, der kleine Wolken aus dem Trunkenen Winzer zu ihnen herüberblies, sein. Ihnen war bewusst, wie häufig sich die Menschen des Elendsviertels um die Reste des Fleisches an abgenagten Knochen prügelten, nur um die laschen Suppen mit einem wenig Geschmack vollmundiger zu machen. Der Vorschlag war so unglaublich, als hätte Juni sie gerade angewiesen, die heilige Schrift ungestraft vor den Augen der Gläubigen zu verbrennen.
„In ein paar Tagen verlangen die Gläubigen ihr Fünftel. Das bedeutet, dass jeder Bauer, jeder Winzer, jeder Fischer, jeder Schuster, jeder Holzfäller und jedes Huhn den fünften Teil seiner Produkte abzugeben hat. Und natürlich auch die Metzger und Schweinebauern. Ihr werdet diese Lieferung abfangen."
„Die Lieferung ist heilig. Sie werden uns...", erklang Liams Stimme.
„Was? Suchen? Tun sie das nicht schon? Falls du gehen möchtest, Liam, ist es zu spät dafür", unterbrach Juni ihn harsch. „Lex, du wirst dafür die Verantwortung übernehmen! Ich erwarte einen sinnvollen Plan und die Beschaffung des Fleisches."
„Das ist völliger Wahnsinn!", rief Liam, in seiner Stimme schwang Sorge und Angst bei.
„Nein, ist es nicht! Ich bin mir sicher Lex ist in der Lage, so etwas zu schaffen! Und ich wiederhole mich nur ungern. Wir kommen nicht einfach so davon, wenn wir nur herumsitzen und tatenlos zuschauen, wie sich die Schlinge um unseren Hals immer fester zieht."
Er ließ die Worte für sich arbeiten. Ihre volle Wirkung auf den Zuhörenden erfüllen. Und als er in den Gesichtern aller erkannte, dass sie verstanden hatte, was auf dem Spiel stand, erzählte er Liam, wie sein Teil des Planes aussehen würde. Mit jedem Wort, das er sprach, mit jedem Satz, den er beendete, öffneten sich die Münder von Lex, Liam und dem Großen Don. Ihre Gesichtszüge verrieten, wie abstrus und verrückt der Plan war, den Juni soeben teilte und selbst als er fertig gesprochen hatte und seine Zuschauer voller Entsetzen und Verwirrung auf ihn blickten, dauerte es seine Zeit, bis der erste seine Stimme wiederfand.
„Du bist wahnsinnig!", sagte Liam nur.
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