Kapitel 16

Die Richterin verschwand zusammen mit den Wachen. Fast schon beschämt verließen sie das Elendsviertel. Lex kniete. Wann er zu Boden gegangen war, wusste er nicht mehr. Was passiert war, konnte er kaum noch zusammenpuzzeln.

Die instinktive Ängste, die mit weit aufgerissen Pupillen und donnerndem Herzschlägen einhergingen, ließen ihn in eine Art Schockstarre fallen. Um ihn herum verschwanden die Menschen von dem Ort. Viele so verwirrt wie zuvor der Ausdruck im Gesicht der Richterin. Nur er blieb zurück, kniend im Schlamm, Schmutz und Dreck der Straße.

Wie konnte er nur so töricht sein, sich kurzzeitig in Sicherheit zu wiegen? Er kauerte sich zusammen, verschloss seine Arme um die Knie. Legte seinen Kopf zwischen die rauen Beine der Hose.

Alles was er tat, stellte er in Frage.

Plötzlich begannen sich Gedanken zu formen, deren bloßer Existenz er von dieser Zeit an verabscheute. Denn solche Dinge passierten ihm nur, wenn er sich von Liam entfernte, wenn er alleine war. Sein Herz krampfte. Dieser Schock saß so tief, dass ihm aller Rat entfiel und nur die schrecklichsten Worte, würdelosesten Predigten und herzzerreißenden Hinrichtungen aus den Tiefen seiner Gedanken hervorbrodelten. Die Gläubigen sprachen von Dämonen, die versuchen, den Geist und Körper der Menschen zu befallen, sodass den grundlegenden Naturgesetzen widersprochen wurde. Diese Dämonen trugen viele Namen. Angeblich krabbelten sie sich aus dem Riss hervor in die Lebenswelt und nährten sich an schlechten Gedanken, die sich in den Köpfen formten. Einige pflanzten sich in die Köpfe und überredeten ihren Wirt zum Regelbrechen.

Immer wenn er Liam bei sich wusste, begann sein Herz zu hämmern, wie wild zu schlagen. Er konnte kaum die Augen von ihm nehmen. Aber vor allen spürte er Sicherheit bei ihm. Etwas sagte ihm, solange er in seiner Nähe war könnte ihm nichts anhaben.

„Das ist falsch!", rief er hinein in die leeren Gassen. „Das ist falsch! Versteht mich nicht falsch. Ich mag ihn nicht in dem Sinne."

Solche Gedanken durfte er nicht haben. Niemals sollte er darüber nachdenken. Was glaubte er zu sein, die unantastbaren Regeln brechen zu wollen.

Etwas stupste ihn an - eine weiche kalte Schnauze. Jemand biss in einen herabhängenden Faden des Verbandes. Ratschend gab dieser nach. Lex schwenkte seinen Kopf herum. Ein kleiner Hund, kaum in der Lage die Kontrolle über seine eigenen tollpatschigen Füße zu halten und immer wieder über seine Pfoten stolpernd, spielte aufgeregt mit dem dünnen Stick. Als er merkte, dass das Ding weder essbar noch interessant war, drehte er sich mit seinen tiefbraunen Kulleraugen Lex zu.

„Was willst du, Kleiner?"

Der Hund starrte ihn an. Wartete auf eine Bewegung von Lex und als dieser seinen Arm hob, bellte der Welpe voller Aufregung.

„Ich habe nichts zu essen! Ich habe nicht einmal was für mich selbst oder für meine Mutter. Ich versage nicht nur im Sinne der Schrift, sondern auch als Sohn."

Als hätte er gehört, was Lex sagte, bellte der Hund erneut und legte sich eingerollt neben ihn.

So blieben sie eine Weile. Lex wusste nicht wie lange schon, aber er hatte begonnen dem Welpen die flauschigen Fusseln, die irgendwann ein weiß-graues Fell werden sollten, zu kraulen. Vor allen zwischen den Ohren mochte der Vierbeiner es am liebsten. Es störte Lex nicht, dass der Hund ihm ab und an über die dreckigen Finger leckte.

„Hast du keinen Ort, an den du gehen kannst?", fragte Lex.

Doch es kam keine Antwort. Erschöpft atmete Lex aus. Als der Hund plötzlich seinen Kopf hob. Er begann in die dunklen Gänge der Häuser zu knurren. Seine Haare stellten sich auf, seine Rute stand nach oben gezeigt. Er kläffte, bellte, schrie die Finsternis an. Etwas später roch Lex warum. Der Duft - süßlich, wie die Mischung aus Honig und geschmolzenem Zucker. Sofort kamen ihm die Dinge, die Juni erwähnte, in den Sinn.

Zuerst kam ein süßer Geruch, dann schrie sich jemand die Seele aus dem Leib.

Er stand auf. Seine Augen tasteten die Häuserwände ab. Sie sprangen von einer düsteren Ecke zur anderen. Seine Schritte rückwärts, soweit bis sein Rücken auf bröckeligen Putz traf. Das Echo des Bellens hallte zwischen den Häusern hin und her. Er wollte rennen, als ein Schrei ihn und den Hund, der sofort seine Rute zwischen die Beine klemmte, übertönte. Das Kläffen schlug in ein jämmerliches Winseln um. Lex hielt in seiner Bewegung inne. Der Schock versteifte umgehend alle Muskeln seines Körpers.

Irgendwer schien seine Stimmbänder beim Aufschrei zu zerreißen. Ein fürchterliches Gekreische gepaart mit dem erstickenden qualvollen Rufen - unbeschreibliche Worte, deren Klang dem Kratzen auf Schiefern ähnlicher war als dem letzten verzweifelten Hilferuf eines Menschen in völliger Agonie.

Sofortig verschwand die süße Note in der Luft mit samt der Spannung und dem Geschrei. Selbst das Hündchen neben Lex fiepte verängstigt, fast schon kuschelnd am ausgefransten Hosenbein von Lex. Etwas sagte ihm, den Welpen hier zu lassen, wäre eine Untat. Also klemmte er kurzerhand den Hund unter seine Arme und flüchtete von dem Ort. Entgegengesetzt der Richtung, wo er die groteske Tat vermutete. Er hatte anscheinend etwas gefunden, das er um keinen Grilling der Welt wiederfinden wollte.

Seine Füße klatschten in den nassen aufgeweichten Boden. Der Geruch der Verdammnis verfolgte ihn noch immer. Obwohl er die Duftnote längst nicht mehr wahrnahm, prägte sie sich so stark in sein Gedächtnis, dass er sie immer wiedererkennen würde. Einige andere Menschen standen genauso wie er eben noch an den Rändern der Straße. Fürchteten sich. Männer hielten ihre Frauen in den Armen, Kinder weinten, schrien, heulten. Tiere flüchteten – selbst die Krähen, denen besondere Intelligenz zugesprochen wurden, nahmen ihre Flügel in die Hand und flatterten von dannen. Keine einzige vermochte den sicherlich längst Toten aufsuchen und verzehren.

„Er hat es gesehen!", schrie eine Frau, die ihren Mann in den Armen hielt. Er war in sich gebeugt, krallte seine Finger an die Augen. Tiefe Krazer an Wangen, die von Wahnsinn zeugten, tropften Blut über seine Lippen. Ein paar mutige versuchten das Ding ausfindig zu machen. Doch aus den wenigen Sachen, die Lex aus Unterhaltungen mitbekam, fand niemand jenes mit dem Schatten verschmolzene Wesen. Das Hündchen fest umklammert, als wäre es sein einziger Draht zum Leben, verließ er den Stadtteil, setzte sich in eine Ecke und schnaubte sich die Angst aus dem Körper. Lex wusste, irgendwo war gerade jemand auf die erbärmlichste, niederträchtigste - und nach seinen Schreien zu urteilen, schmerzhafteste Weise verendet. Jemand, der wahrscheinlich nicht wie Lex gegen die grundlegenden Regeln verstoßen hatte.

„Warum hat es nicht mich getötet!", schluchzte er.

„Wer soll dich getötet haben? Zum Glück niemand", hörte er Liams Stimme hinter sich. „Verdammt noch eins, das kannst du mir doch nicht antun, Lex. Kaum sehen wir deinen Kopf hinter den Zinnen verschwinden, jagen dir Wachen nach."

„Geht es dir gut?", fragte Juni, „haben sie dir was angetan?"

Lex schüttelte den Kopf.

„Dumme Frage, Juni. Was glaubst du, auf welche er geantwortet hat?", sagte Liam.

Liams Stimme Balsam für seine Emotion. Lex schwang seinen Kopf nach oben. Seine Atmung beruhigte sich langsam. Seine Hände stoppten unkontrolliert zu zittern.

„Auf die zweite Frage", sagte er schließlich. Der Hund in Lex' Armen begann zu knurren. Die gefletschten Zähne galten Juni.

„Ist okay. Der gehört zu mir", sagte Lex und strich über den Kopf des Welpen.

„Wahnsinn, ist der niedlich! Kann ich ihn streicheln?", fragte Liam mit strahlenden Augen, als er das kleien Wesen erblickte.

„Ich weiß es nicht, versuche es."

Langsam schob Liam seine Hand zu dem Tier. Der Hund hörte auf zu knurren und ließ sich von Liam schwanzwedelnd unter den Ohren Kraulen.

„Gib her! Ich möchte ihn auch halten", sagte Liam; und bald schon gelang es niemanden ihn und das Tier zu trennen. Völlig vertieft schenkte er dem Welpen all seine Aufmerksamkeit.

„Ich mag keine Hunde", stellte Juni klar.

„Warum hast du mir nichts erzählt?", fragte Lex ihn. „Warum hast du mich nicht in deinen Plan eingebaut?"

„Weil es besser so war, sollte sie dich als erstes finden. Was sie getan hat. Ich hielt es für sinnvoll, dass niemand erfahren sollte, wer das Gerücht mit den Bandagen gestreut hat oder so wenige wie möglich", sagte Juni.

„Was genau habt ihr getan?", fragte Lex weiter.

„Wir schlagen sie mit ihren eigenen Waffen. Die Regeln der Gläubigen sind absolut. Niemand widerspricht ihnen. Niemand hinterfragt. Sagen sie, sie wollen die Erstgeboren von den Toren versammelt sehen. So schickt jede Mutter ihren erstgeborenen Sohn. Denn sie wissen, dass die Strafe für ein Vergehen unermesslich wäre. In dem Moment, wo wir ihnen die einzige Erkennung wegnehmen, kann niemand dich anklagen. Außer sie wollen die ganze Stadt richten. Dann hätten sie aber niemanden, der ihre Scheißarbeit macht."

„Aber hätte die Richterin nicht befehlen können, die Bandagen abzunehmen? Und was ist hiermit?", Lex zog seinen Kragen nach unten und zeigte das Würgemal um seinen Hals.

„Viele Menschen erfahren Gewalt. Vor allen das Würgemal ist kein deutlicher Beweis. Außerdem ist die Richterin eine Richterin und handelt nur im Auftrag der Gläubigen, sie wird niemals auch nur im Geringsten daran denken, den Gläubigen zu widersprechen."

„Das bedeutet, wir sind sicher?", fragte Lex, in der Hoffnung, mit diesem Kapitel abschließen zu können.

„Vorerst, aber sie werden sich etwas Neues überlegen. Wir sollten weiterhin vorsichtig sein", sagte Juni und half Lex hoch.

„Versprich mir, dass du mit einem Plan kommst, sollte sie nochmal nach mir suchen", forderte Lex. „Und mich direkt einweihst."

Juni nickte.

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