Kapitel 15
Die Position, in der Lex verharrte, war nicht sonderlich bequem. Die mächtige Eiche mit ihrer rauen Rinde in seinem Rücken und Liam, dessen Kopf im Verlauf des Schlafes immer weiter in seinen Schoß wanderte, baten ihm nicht viele Möglichkeiten, sich zu bewegen. Zwar ließ der von Liam angelegte, neue Verband leichtere Manöver in seiner linken Schulter zu, allerdings wollte er Liam nicht durch ruckartiges Wackeln aufwecken. Stadtessen deckte Lex ihn mit seiner flickenübersähten Jacke zu, damit er nicht fror.
In all der Zeit gelang es ihm dennoch zwei Fische zu fangen. Einer war recht klein, der andere mittelgroß. Mit einen dumpfen Klong schlug er die Fische ohnmächtig und verstaute sie im Eimer von Liam zu seiner Rechten. Danach genoss er die Stille, die Ruhe, die Zweisamkeit, sodass er fast selbst dem Schlaf verfallen gewesen wäre. Doch kurz bevor er das Reich der Träume betrat, schreckte er auf. Ihm wurde klar, wenn er schliefe würde niemand über Liam und ihn wachen. Dieses Unwesen könnte aufkreuzen, sie überraschen, sie zerfleischen oder Schlimmeres. Nicht einmal weglaufen könnte er vor den Wachen der Gläubigen, die sicherlich bereits nach den Schuldigen der Fischerei die Stadt durchkämmten. Nicht eine Sekunde länger wollte er bei diesen Gedanken seine Augen schließen. So saß er dort, lauschte den Liedern, die sich aus dem Zwitschern der Vögel, dem Gesang der Kröten, dem Plätschern des Wassers und dem Schwirren der Libellen ergaben.
Irgendwann schlug Liam die Augen auf. Er wischte sich müde den Schlaf, der ihm plötzlich überkam, mit der Rückseite seiner Hand aus den Augenhöhlen.
„Du bist wach?", fragte Lex.
Liams Überraschung, tatsächlich eingeschlafen zu sein, erkannte Lex unter dem erschöpften Gähnen kaum.
„Irgendwie habe ich mich bei dir sicher gefühlt. Ich wusste, du passt auf, wenn ich die Augen schließe."
„Ich war nicht ganz untätig. Hier!", versuchte sich Lex zu rechtfertigen und gab ihm seinen löchrigen Eimer mit den gefangen Fischen.
„Wahnsinn! Schau, wie groß die sind!"
Seine Augen strahlten bei dem Anblick der frischen Fische. Ihre Schuppen glänzten, obwohl die Sonne sich weigerte, durch die dicke Wolkendecke zu scheinen.
„Deine Jacke", sagte Liam und tauschte - das eben noch als Decke geborgte Kleidungsstück gegen den Eimer. „Danke!", rief er mit einem Grinsen über beide Ohren.
„Warum hast du dir nichts mit dem Geld gekauft?", fragte Lex.
„Ich habe was gekauft", sagte Liam. „Aber nicht für mich", fügte er flüsternd hinzu.
„Liam, das ist dein Geld gewesen. Wir haben dafür unser Leben riskiert. Das sollst du nicht machen."
„Aber ich kann es nicht leiden, wenn Jüngere auf den Straßen hungern. Ich verachte mich selbst, wenn ich vor diesem Übel die Augen schließe."
„Wie viel hast du noch übrig?"
Beschämt trat Liam einen Stein zur Seite und schaute mit angezogenen Schultern auf den Boden. „Nichts."
„Du hast alles ausgegeben. Für andere und das innerhalb eines Tages und nicht einen einzigen Grilling für dich übrig gelassen!?"
„Vielleicht habe ich das getan. Aber du warst schneller mit dem Ausgeben als ich. Du hast gleich den ganzen Beutel mitverschenkt."
Lex schaute ihn an. Wie Recht er hatte.
„Offenbar sind wir beide nicht gut darin, unser Geld sinnvoll auszugeben."
Es war egal, wer dies sagte, denn diese Tatsache ließ sie herzlich lachten. Wie gewohnt lachten sie sich den Kummer und die Sorgen von ihren Seelen weg. In der Hoffnung das Grau der Welt bunt zu färben und all die Gräuel zu verdrängen. Nur für einen kurzen Moment fühlten sich ihre Herzen frei, das was sie tagtäglich in ihrem Alter machen mussten - Mensch sein, frei sein, glücklich sein.
Aber es änderte sich nichts an ihrer Situation. Da standen sie nun, wie am Anfang. Kein Geld, kaum etwas zu Essen und wenig Hoffnung in den nächsten Tag. Die Straßen waren gnadenlos und selbst das Haus, was einem vermeintliche Sicherheit bot, sollte nicht als gegeben genommen sein.
„Was treibt ihr hier. Ihr solltet längst gekommen sein!", sagte Juni, der sich seinen Weg durch die dichten Strohhalme des Bitterklees und Schilfes auf die beiden Feixenden bahnte. Mehrfach wrangen sich Ranken um seine Schuhe und die schmatzenden Sauggeräusche des matschigen Bodens zogen ihm fast die Stiefel aus. „Verdammte scheiß Blumen", fluchte er. Sein Blick verweilte auf den beiden.
„Ich bin eingeschlafen. Nachts lässt es sich gerade nicht so bequem die Augen schließen", rechtfertigte sich Liam.
Ungeduldig sog Juni Luft durch die Nasenflügel.
„Auf dem Schoß von Lex?", fragte er streng. „Jungs, in letzter Zeit seid ihr beiden euch viel zu nahe. Ich möchte euch nicht hingerichtet sehen, weil jemand die falsche Idee bekommt. Das ist eine Untat, aus der nicht einmal ich euch helfen kann."
Junis Worte trafen Lex wie ein Schlag ins Gesicht. Die unschönen Dinge, die eben noch wie weit Entfernt gewirkt hatten, holten ihn erneut ein. Eine unsichtbare Fessel, an denen andere sein Leben wie einen Hund an der Leine führten. Er schaute zu Liam. Doch auch dieser blickte beschämt zur Seite, bis er seinen Kopf herumschwang und er rief: „In letzter Zeit war ich zu sehr damit beschäftigt, ihm das Leben zu retten, als dass wir uns nahe stehen könnten."
„Dann bin ich beruhigt. Also was ist? Kommt ihr?"
Sie liefen zurück in den dichter besiedelten Teil der Stadt. Entlang des Stadtteils der Sterbenden. Unter der Brücke der Seeligen hindurch. Ein bogenartiges massives Gebilde aus dicken Felsstein, das über einen einstmaligen Flusslauf gefertigt wurde. Links und rechts schauten höher gelegene Häuser auf den ausgetrockneten Wassergraben herab. Einige Flechten überwucherten den Boden, als kämpfe sich die grüne Natur über die braune hinweg.
Auch heute schien jemand zu baumeln, der den Freitod über einen weiteren verlassenen Tag stellte. Traurigerweise hatte sich die Person, deren Interesse der Kleidung gegolten hatte, nicht um das Abschneiden des Leichnames beschert. So bewegte der Wind den nackten, kalten, steifen Körper, dessen Rücken vom wiederkehrenden Aufprallen an der Steinbrücke zerschunden und blutig war. Juni sah ihn zuerst, blieb stehen und betrachtete den Leblosen.
„Was ist, warum bleibst du stehen?", fragte Liam.
„Ich kannte ihn", sagte Juni mit gefassten Worten.
„Oh verdammt. Kann ich einen Tag erleben, ohne das ich eine Leiche zu Gesicht bekomme?", fragte Liam.
„Schwierig. Lasst ihn begraben. Wenn du ihn kanntest, dann wäre es grausam, wenn wir ihn den Krähen als Festspeise servieren würden", sagte Lex.
Juni nickte und Liam ebenso. Allerdings waren sie zu langsam, Lex von seiner dummen Idee abzubringen.
Er begann die Brücke hochzuklettern. Der unebene Stein bot hier und dort tiefe Einkerbungen, in denen er getrost seine Füße absetzen konnte. Seine Finger griffen hervorstehende Brocken und so konnte er Schritt für Schritt den Stein der drei Mann hohen Brücke erklimmen. Den Knoten in dem dicken Seil löste er problemlos. Mit einem knochenbrechenden Krawall fiel der Tote in das Flussbett.
„Warum bist du nicht außen herum gelaufen?", rief Juni ihm hoch.
Jetzt wo er es ansprach, wäre das die kräftesparender Variante. Vor allem, wenn er sich jetzt erst im klaren darüber wurde, welche Belastungen er sich zugefügt hatte. Zwar konnte er seine Schulter ohne Schmerzen aufgrund der Schmierkwurzeln belasten, allerdings würde der morgigen Tage, sobald die Wirkung nachließen, diese auf ein neues Niveau bringen. Die Verwendung der Heilpflanze machte ihn unachtsam, fast schon vergaß er, wie schlimm seine Schulter eigentlich schmerzen sollte.
„Ich bin begeistert. Eigentlich habe ich nicht erwartet, dass du deinen Arm den nächsten Monat in irgendeiner Form bewegen kannst. Aber die Schmerzen scheinen wie weg zu sein", schrie Juni ihm hoch.
„Das liegt an...", begann Liam.
„Ich will es nicht wissen!", unterbrach Juni seinen Satz. „Manche Dinge behältst du für dich! Du solltest niemanden versuchen zu erklären, weshalb Lex eine Mauer hochklettert, obwohl sein Arm absolut unbeweglich sein sollte und selbst die kleinste Bewegung oder Berührung ihn vor Schmerzen schreien lassen sollte. Ich möchte nicht, dass du der Hexerei angeklagt wirst." Damit beendete er alle Diskussion in diese Richtung, bückte sich und legte sich den steifen Arm des Toten über die Schulter. Zusammen mit Liam schleiften sie ihn auf dem ausgetrockneten Flussbett entlang.
Lex wandte sich von dem steinigen Zinnen der Brücke ab. Die Straße war gepflastert, hie und da wuchsen Gräser auf braunen Löchern. Wieder herunterklettern stand absolut außer Frage. Nicht etwa weil er es nicht konnte, sondern weil er seine Verletzung dadurch nicht besser machen würde. Also entschloss er sich, den Weg außenherum zu nehmen.
„Da ist einer. Schnappt ihn!", hörte er hinter sich jemanden brüllen. Er drehte sich um und sah die Wache mit dem Finger auf ihn zeigen, schreien. Augenblicklich schoss ihm das Adrenalin in den Kopf. Seine Ohren begannen wie wild zu dröhnen. Angst durchflutete ihn, als aus allen Richtungen Leute auf ihn zu stürmten. Ihre Waffen gezückt, ausgerüstet mit Eisenstiefeln, die die Steine unter ihren Füßen zum Weinen brachten.
Lex wandte sich ab rannte. Suchte Lücken. Schlüpfte hindurch. Sprintete, bis ihm die Luft in der Lunge knapp wurde. Seine Sicht schien an den Rändern verschwommen. Tränen rannen über sein Gesicht. Pure Verzweiflung und Hilfslosigkeit gingen Hand in Hand ineinander über. Er konnte kaum sehen. Der Panik verfallen, bog er ab. Eine Gasse, von der er sich Offenheit erwartete. Stieß mit etwas zusammen. Landete unsanft auf dem Boden. Als kräftige Hände in griffen, hochzogen und festhielten.
„Dachtest du Balg wirklich, dass du uns entrinnen könntest?"
Ihre Stimme kalt. So eisig, dass ihm das Blut in den Adern gefror. Sämtliche Haare am Körper richteten sich auf. Doch ihre erfreute Stimme, die Beute in der Hand zu halten, wurde nur noch von den heftigen Hieben in seinem Magen übertönt.
Lex musste seine Augen nicht öffnen, um zu wissen, dass jene Richterin, die das Urteil über den Kleinen Dons erlassen hatte, vor ihm stand. Ihr Blick durchbohrte ihn. Der Wunsch nach einen bisschen Mut, sich aufzurappeln und davonzulaufen, blieb ihm verwehrt. Stattdessen entschied sich sein Körper zu zittern, so unkontrolliert, dass die Angst Zunge und Beinmuskeln lähmte.
„Du hättest dir früher überlegen sollen, ob du die Fischerei verwüstest! Ich hoffe, du schaust deinem qualvollen Tod erfreut entgegen."
Es war vorbei. Lex' Gedanken verschlossen sich. Seine Stimmbänder unterdrückten einen stummen Schrei.
„Madame, ich habe viel von Ihrer Unfehlbarkeit gehört. Allerdings hätte ich niemals vermutet, nach so kurzer Zeit den Schuldigen gefunden zu haben. Wir haben nicht mal die Hunde einsetzen müssen", sagte ein kleiner Mann mit einer runden Brille, der das Geschehen in einem kleinen ledergebundenen Buch festhielt. Er rückte seinen Kragen und begann hastig unleserliche Zeichen zu kritzeln.
„Nehmt dieses Ungeziefer mit, bringt ihn ohne Umwege direkt zum Richtplatz!", sagte sie. „Jeder soll sehen, was mit Systemfeinden geschieht!"
„Madame, wir haben die Schuldige gefasst", brüllte es, just in dem Moment, als Wachen gerade im Begriff waren, Lex mitzunehmen, aus einer anderen Ecke.
Wachen brachten ein Mädchen in etwa in der gleichen Größe wie Lex. Ihre Gesichter strahlten vor Stolz. Auch sie trug eine Bandage wie Lex.
„Du Schuft dachtest wohl, du könntest uns entkommen", rief es aus einer anderen Richtung.
„Da haben wir dich", schrie es wiederum aus einer anderen.
„Das hast du nicht kommen sehen, was!", noch jemand anderes.
Aus allen Richtungen ertönten die Siegesrufe der Wachen. Jeder freute sich über die ausstehenden Lobpreisungen der Richterin, den oder die Schuldige gefasst zu haben. Wie ein unlöschbarer Brand, der immer wieder von neuen Flammenherden entzündet wurde, ertönten die Rufe. Verwirrung machten sich in ihrem Gesicht breit. Der Schreiber hielt inne, schaute sich um. Versuchte die ganzen Quellen der Schreie ausfindig zu machen. Doch wie im Zentrum eines Kolosseums prasselten Jubelrufe auf sie ein.
Es dauerte nicht lange und jede Wache, die begonnen hatte die Stadt systematisch mit Menschen nach Bandagen abzusuchen, erwischte eine Person. Andere Menschen kamen dazu. Lex sah den großen Hühnen über alle hinwegragen. Alle trugen sie an einer Stelle des Körpers eine Form von Verband. Teilweise war der Stoff aus Leinen, teilweise aus Wischtüchern, einige wenige sogar aus Flanell.
„Was geht hier vor sich?", sprach die Richterin und ließ den Arm von Lex gehen. „Warum trägt jeder einen Verband?" Schnell wurde ihr bewusst, dass ihr keiner auf die Frage antworten könnte, daher wandte sie sich dem Nächstbesten zu.
„Warum trägst du einen Verband?", schrie sie Lex mit einer Mischung aus Hysterie und Wahnsinn an. Doch dieser konnte keine Silbe auf seiner Zunge formen. Sein Hals fühlte sich trocken an. Sein Magen schmerzte. Seine Knie zitterten. Die Innenseite vom ständigen Zusammenschlagen bereits rot.
Als sie merkte, dass der Junge ihr keine Antwort gab, schlug sie ihn, wandte sie sich einem anderen zu.
„Warum trägst du einen Verband?", brüllte sie erneut auch diesem zu. Mit zitternder Stimme und wackelnden Beinen stotterte dieser:
„E-E-in B-Befehl d-d-er G-Gläubigen."
„Was?" Dieser Satz löste pure Empörung in ihren Gesichtszügen aus.
„Ja, was haben die denn verbrochen? Heute morgen hieß es, jeder habe eine Bandage zu tragen", hörte sie einen aus der Menge der Zuschauern rufen. Sie konnte nicht ausmachen, wer diesen Unsinn von sich gab.
„Genau!", stimmte es aus der Menge zu.
Zwar wollten die Wachen Ordnung in die Situation bringen, doch es gelang ihnen nicht das Chaos zu beseitigen. Immer mehr Stimmen klangen an. Immer mehr Schaulustige fluteten den Platz. Immer lauter wurden ihre Rufe. Die Zurufe wurden zu Schreie. Teilweise waren nur wenige Fetzen eines Satzes verständlich.
„Wir haben gemacht, was gesagt wurde."
„Niemand hat sich gegen das Wort der Gläubigen gewehrt."
Die Richterin wand sich Lex zu. Voller Selbstzweifel streckte sie ihre Hand aus. Griff seinen Verband und quetschte seinen Arm zwischen ihrer Hand. Sie erhoffte sich ein schmerzhaftes Aufschreien. Einen unausstehlichen Schmerz, der auf eine tiefe Stichwunde zurückzuführen war. Doch weder ließen die Augen des Jungen noch die Atmung auf eine solche Verletzung hindeuten. Einzig der Schock ihres Auftreten, den sie sonst so genoss, erstrecke seine Gesichtsmuskeln.
„Was machen wir? Sollen wir sie alle hinrichten?", fragte eine Wache.
Die Richterin beobachtete das Treiben. Fassungslosigkeit und Verwirrung stand ihr im Gesicht geschrieben. Sie wusste, dass auch sie selbst die Gläubigen nicht anzweifeln durfte. Sie konnte nichts machen. Sie musste sich schmerzlich eingestehen, dass wer auch immer für die Zerstörung des Fischerei verantwortlich war, ihr einen Schritt voraus war.
„Wir gehen!", sagte sie. „Und den Jungen?"
Sie wandte sich um, ihre Augen bebten vor Wut. Ihr Gesicht tiefrot angelaufen. Ihre Hand schoss vor, schlug die fragende Wache, so fest, dass ihre Knöchel zu bluten begannen. Dieser fiel bewusstlos zu Boden.
„Scheißt auf ihn. Soll er heute seinen Glückstag feiern und nie vergessen, wie die Gläubigen ihn gerettet haben."
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