051 | Harry
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"Was mit Gemma ist?", wiederholte Mama meine Frage und sah mich nachdenklich an. Hätte ich nicht fragen sollen? Gebannt sah ich sie an, doch anscheinend brauchte sie noch einen Moment, um ihre Gedanken zu sortieren.
Auf einmal nahm sie meine Hand in ihre und strich mit ihrem Daumen über meinen Handrücken. "Gemma... Sie- Wir sehen uns alle paar Wochen. Sie lebt mit ihrem Freund etwas außerhalb von London. Nach den Geschehnissen und deinem Verschwinden... Gemma hatte mit schweren Depressionen zu kämpfen, aber durch die Therapie, die Medikamente aber auch durch ihre Arbeit im Heim mit den Kindern geht es ihr langsam besser."
"Warum seht ihr euch so selten?", fragte ich leise und sah auf unsere Hände. Mochte sie es bei Mama nicht? War nach meiner Flucht noch mehr passiert? Womöglich noch etwas schlimmeres? Ich hätte dableiben sollen und alles auf mich nehmen müssen... Warum war ich nur gegangen?
"Harry? Schatz?"
Ich schreckte hoch, als Mama vor meinem Gesicht herumfuchtelte und mich mit einem liebevollen Blick, welchen ich bisher nur von Louis kannte, musterte. "Mach dir nicht so viele Sorgen, deine Stirn ist ja schon ganz kraus." Schuldbewusst strich ich mit der Hand, die sie nicht festhielt, durch meine Locken und seufzte leise.
"Gemma wollte Abstand zu all dem was passiert war. Es tut weh, jedoch geht es ihr jedes Mal besser, wenn ich sie dann sehe. Da ist es mir dann egal das zwischen manchen Treffen auch mal mehr als sechs Wochen liegen."
"Hasst sie mich?"
"Denkst du das etwa?" Mit großen Augen sah sie mich an und legte ihre Hand an meine Wange. "Schatz, du bist ihr kleiner Bruder. Gemma hasst dich nicht und das könnte sie auch nie. Sie liebt dich über alles. Gemma hasst sich selbst... Dafür, dass sie dir keine große Schwester sein konnte..."
Überrascht sah ich meine Mutter an und konnte kaum glauben was sie da eigentlich sagte. Gemma hasst mich nicht? Hat es nie und wird es auch nicht? Ich spürte wie der Druck in meinem Inneren langsam schlimmer wurde und mir die Tränen in die Augen steigen.
Ich wollte jetzt nur noch zu Louis... In seine Arme und einfach bei ihm sein, um mich beruhigen zu können.
Wimmernd versteckte ich mein Gesicht in meinen Händen und schluchzte leise. "Sie hasst mich nicht?" - "Harry, Gemma liebt dich", erwiderte sie mit einer sanften Stimme und strich mir über meinen Oberarm. Doch ich schüttelte wild mit meinem Kopf und konnte es einfach nicht glauben.
All die Zeit hatte ich mir eingeredet, dass ich ihnen egal war, dass meine Mutter und auch Gemma mich nicht sehen wollten, mich nicht mehr als Teil der Familie sahen... Da ich mir das alles nur eingeredet hatte... Ich wusste nicht wohin mit meinen Gefühlen und fing an zu weinen.
Schluchzend krallte ich mich mehr an Louis' Decke fest und blendete meine Umgebung komplett aus. Erst als ich Louis' Stimme härte schreckte ich hoch und sah mit tränenverschleiertem Blick zu meiner Mutter, welche mir anscheinend ihr Handy entgegenhielt.
"Love? Hazza?"
Benommen nickte ich leicht und vergaß dabei, dass Louis mich gar nicht sehen konnte. "Nimm es in die Hand", flüsterte meine Mutter und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Schnell nahm ich ihr das Handy ab und drückte es schniefend an mein Ohr.
"Louis", wimmerte ich und hustete leise. "Hallo Love, atme tief durch." Wieder nickte ich nur und versuchte vernünftig Luft zu holen. Es fiel mir unglaublich schwer, wenn er nicht direkt da war und helfen konnte. In seiner Gegenwart war so vieles um einiges leichter...
"Gut machst du das. Hole nochmal tief Luft. Für mich, ja? Schaffst du das?"
Ich befolgte Louis' Anweisungen, rutschte dann aber zur Seite und plumpste der Länge nach in die Kissen. "Gemma", murmelte ich, als ich mich einigermaßen wieder gesammelt hatte und zog mir die Decke bis zum Kinn hoch.
"Deine Mama hat mir schon gesagt, dass ihr über Gemma gesprochen habt und dass es dir alles ein bisschen zu viel wurde." - "Sie hasst mich nicht", hauchte ich und kniff meine Augen zusammen. Ich wollte nicht mehr weinen, doch sobald ich ihren Namen aussprach liefen die Tränen einfach weiter über meine Wangen.
"Love, niemand kann dich hassen. Nicht einen so wundervollen Menschen wie du es bist. Merk dir das. Niemand hasst dich Harry."
"W-Wenn du das sagst", erwiderte ich unsicher, zog meine Nase hoch und wischte mir mit dem Zipfel der Decke durchs Gesicht.
"Es ist okay wenn du weinst, ja? Versuch es nicht zu unterdrücken. Nur weil ich nicht da bin brauchst du es dir nicht zu verkneifen. Du hast deine Mama bei dir, du bist nicht allein. Wir sind jetzt beim Krankenhaus angekommen und besuchen Fizzy. Ich liebe dich, Hazza. Würdest du mir noch einmal Anne geben?"
Peinlich berührt, da meine Mutter mich neugierig musterte, erwiderte ich Louis' 'Ich liebe dich'. Schnell gab ich ihr das Handy wieder und sah verwirrt auf, als sie mit Louis am Ohr und meiner leeren Teetasse das Wohnzimmer verließ.
Durfte ich nicht mitbekommen was die beiden besprachen? Worüber redeten die beiden denn jetzt?
Während ich darüber nachdachte, zog ich mir die pinke Decke noch höher und vergrub meine Nase darin. Louis hatte vor ein paar Tagen sein Parfüm gewechselt und da er jeden Abend mit der Decke auf dem Sofa saß, haftete schon der neue Duft daran.
Die Decke roch nach Vanille und Leder? So genau wusste ich es nicht, aber es führte dazu, dass ich ihn nur noch mehr vermisste und mir die Tränen erneut in die Augen traten.
Dabei war er doch erst vor ein paar Stunden gefahren...
Anscheinend telefonierten die beiden immer noch, weswegen ich langsam meine Augen schloss und mich mehr in die Kissen kuschelte. Ich war plötzlich auch so müde und fühlte mich vollkommen erschöpft.
Doch bevor ich einschlief hörte ich wie meine Mutter ins Zimmer kam und blickte zu ihr, als sie mir eine Tasse Tee vor die Nase stellte. Ich richtete mich leicht auf und bedankte mich leise, dabei fiel mein Blick auf Louis' Laptop, den sie unterm Arm trug.
"Was hast du mit Louis besprochen?", fragte ich direkt und setzte mich auf. Die Decke hielt ich dabei fest und legte sie mir etwas enger und die Schultern.
Sie lachte leise, setzte sich mit dem Laptop neben mich und fuhr mir durch die Haare. "Louis hat mir ein paar Dinge verraten. Unteranderem wo sein Laptop ist, wie das Passwort ist und was du am liebsten magst, damit es dir besser geht."
"Wofür brauchst du den Laptop?", fragte ich und konnte meine Neugier kaum zurückstecken. "Ich dachte wir rufen Gemma nachher mal an und können etwas Videochatten." - "Warum erst nachher?"
"Ich fände es gut, wenn du dich vorher ein wenig ausruhst und wir beide etwas essen. Louis hat mir auch verraten, dass du die Mahlzeiten gerne auslässt." Mama sah mich mahnend an und tätschelte mein Knie.
"Ich sehe gleich Gemma?" Sie nickte und schenkte mir ein Lächeln. "Ja, wir werden gleich Gemma sehen. Aber trink erst einmal deinen Tee und atme tief durch. Wir haben ja Zeit und müssen nichts überstürzen. Was soll ich denn gleich kochen?"
Etwas überfordert von all dem murmelte ich nur leise 'etwas mit Nudeln'. Wenn Louis mich fragte wusste ich auch nie was ich antworten sollte. Mir war es ja egal was es gab. Im Gefängnis musste ich ja schließlich auch alles essen.
Meine Mutter legte den Laptop auf den Tisch ab und zeigte auf meine Tasse. "Dann trink den mal in Ruhe und ich gehe in die Küche", murmelte sie gegen meine Stirn und küsste mich dort anschließend. "Danke", hauchte ich und ließ mich in die Kissen zurückfallen als sie aus dem Wohnzimmer ging.
° ° ° °
"Was ist denn los?"
Ich schüttelte leicht mit meinem Kopf, verschränkte meine Arme vor der Brust und krümmte mich leicht nach vorne. "Hast du Magenschmerzen?"
"N-Nein?", antwortete ich unsicher und auch viel zu schnell. Mir war klar, dass sie es nicht glaubte aber zugeben wollte ich es auch nicht... Es war doch peinlich, dass ich bei neuen Dingen immer Bauchweh bekam.
Dabei war meine Schwester doch nichts Neues...
"Brauchst du noch einen Moment oder kann ich sie anrufen?" - "Anrufen", stimmte ich zu und sah gebannt auf den Bildschirm. Es dauerte auch nicht lange und eine Verbindung wurde hergestellt.
Als das Bild meiner Schwester aufpoppte brauchte ich erstmal einen Moment, um zu realisieren das sie das war.
"Gemma?"
"Hey Harry", lächelte sie und winkte kurz. Sie sah so anders aus. Ihre Haut war blasser, ihre Haare nicht mehr bunt, sondern braun und... Sie war da...
"Ich glaube er braucht noch einen Moment", hörte ich meine Mutter sagen und sah daraufhin verlegen zur Seite. Meine Nervosität nahm langsam ab und als meine Schwester anfing mit mir zu reden konnte ich mir ein Lächeln auch nicht mehr verkneifen.
Tatsächlich war das erste was sie ansprach meine Locken. Früher hatte sie die immer beneidet und anscheinend hatte es sich nie geändert. "Wie lang die geworden sind... Harry du bist wirklich ein bildhübscher Mann geworden. Ich kann das gar nicht glauben."
"G-Gemma", murrte ich und fühlte mich plötzlich wieder wie der kleine Bruder, der von seiner Schwester vorgeführt wurde. Ich versuchte meine Röte zu verstecken, grinste aber leicht als beide Frauen lachten.
"Mama hat mir erzählt das du mit jemanden zusammenlebst?"
Direkt nickte ich. "Ja mit Louis! Er ist aber gerade nicht da...", murmelte ich und stand dann schnell auf. "Warte kurz", rief ich beim Gang ins Schlafzimmer und holte vom Nachttisch das Notizbuch, welches mir Louis geschenkt hatte. Als Lesezeichen nutze ich ein Bild von Louis, dass ich gemacht hatte als er eines morgens verschlafen in der Wohnzimmertür stand und mich zurück ins Bett holen wollte.
Mit dem Bild lief ich wieder zurück und hielt es glücklich in die Kamera. "Das ist Louis", schwärmte ich etwas und sah das Bild dann selbst noch für einen Moment an.
"Das ist Louis? Wie alt ist er denn?", fragte Gemma neugierig und rutschte etwas näher an die Kamera.
"Ist das nicht egal?", fragte ich leise und blickte wieder auf das Bild. "Natürlich ist es das Haz. Ich bin einfach nur neugierig. Also, wie alt ist dein Freund?"
"Lou wird an Weihnachten 31", erwiderte ich und legte das Bild beiseite. "An Weihnachten?" Ich nickte und sah kurz von meiner Mutter wieder zu Gemma, welche mich jedoch nur zufrieden anlächelte.
Es fühlte sich plötzlich an, als hätte ich Gemma nie vermisst, nie gedacht das sie mich hasst oder noch schlimmeres. Sie war einfach so wie sie immer zu mir war. Neugierig, etwas nervig und fröhlich.
"Ich muss gleich auflegen", fing Gemma nach zwei Stunden an und sah immer wieder zur Seite. "Gleich kommt noch eine Freundin und wir fahren in die Stadt. Tut mir leid, dass ich nicht noch mehr Zeit habe. Aber wir können uns morgen nochmal zusammensetzten?"
Direkt stimmte ich zu und lächelte in die Kamera, sah dann aber zu Mama. "Ist das okay?" - "Ja, natürlich. Wir machen das was du möchtest, mein Schatz."
° ° ° °
Müde streckte ich mich und ließ mich in die Kissen fallen. Ich hatte den ganzen Tag mit Gemma telefoniert und sogar ein Treffen am Wochenende vereinbart. Jetzt musste ich nur noch Louis fragen, ob er einverstanden war und mit wollte.
Gemma und ich hatten über alles mögliche gesprochen, nur nicht über das was vor 10 Jahren passiert war. Ich wollte die Stimmung nicht herunterziehen und nach dem mir Mama gestern gesagt hatte, dass es Gemma eine lange Zeit ganz schlecht ging, wollte ich sie auch nicht daran erinnern.
"Harry? Was hast du denn hier alles für Bücher?", fragte meine Mutter neugierig und fing an sie durchzublättern. Erschrocken sah ich auf und blickte über meine Schulter hinweg zu ihr. "Ehm..."
"Du magst erotische Romane?" - "J-Ja?", antwortete ich unsicher und biss mir auf die Lippe. Warum hatte ich das Gefühl, das sie mich bei etwas Verbotenem erwischt hatte?
Als ich mich jedoch nochmal zu ihr herumdrehte hatte sie 'the other side of me' in der Hand und das Lesezeichen war noch an der Stelle wo ich das Buch peinlich berührt zugeschlagen hatte. Schnell stand ich auf und wollte es ihr abnehmen, als sie es schon aufgeschlagen hatte und sich die Seite ansah.
"Mama", murmelte ich und versuchte ihr das Buch abzunehmen. "Sowas magst du also?" Schnell schüttelte ich meinen Kopf und schluckte als meine Wangen anfingen zu glühen. "N-Nein?"
Sie sah mich mit hochgezogener Augenbraue an und ihr Blick zeigte deutlich, dass sie mir nicht ansatzweise glaubte. "Sag mal Harry... Ich weiß vielleicht ist es nicht so eine feine Art es anzusprechen... Aber... Kannst du mit Louis intim werden? Ich habe das Gefühl wegen dem was passiert war und dem was hier alles in eurem Regal steht..."
Für einen Moment sah ich sie sprachlos an und brauchte eine Weile, bis ich überhaupt wusste was ich darauf antworten sollte. Sie war meine Mutter, mit ihr konnte ich darüber reden, oder?
"I-Ich würde es gerne, aber-" Ich schluckte und brach direkt ab. Wie sollte ich das denn ansprechen? Mir wurde es dann doch zu unangenehm, weswegen ich mich zurück auf das Sofa setzte und meine Beine an mich zog.
Bonnie, welche die gesamte Zeit in der Ecke des sowas gelegen hatte kam zu mir und rieb sich schnurrend an meiner Seite.
"Habt ihr schon darüber gesprochen?", fragte sie und setzte sich mir gegenüber auf den kleinen Sessel. "Nicht so richtig... Er weiß, warum ich es nicht kann... Aber- Louis weiß nicht, dass ich es mehr als alles andere will", gab ich leise zu und schluckte.
Es war komisch mit ihr darüber zu reden, allerdings war es nach einer Weile so befreiend wie gestern, als ich darüber nachdenken konnte, ohne in Panik zu verfallen oder Angst haben zu müssen. Wie gut es tat mit jemanden darüber zu sprechen.
"Ich denke er weiß es, sagt aber nichts um dir die Zeit zu geben."
° ° ° °
"Bin wieder Zu-" Ich ließ Louis gar nicht erst aussprechen, sondern umarmte ihn so fest ich konnte und vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge. Es war mir egal, dass er noch vollkommen bepackt war und die Umarmung gar nicht erwidern konnte.
"Hazza", lachte er und ich hörte, wie er seine Jacke und seinen Rucksack fallen ließ, um seine Arme auf meinen Rücken zu legen.
"Du bist zurück", flüsterte ich in seine Halsbeuge und genoss es, dass Louis Parfüm mich umgab. Direkt war mir nicht mehr kalt und ein angenehmes Kribbeln durchfuhr meinen Körper. "Ich bin wieder da, aber würdest du mich ganz kurz loslassen? Dann kann ich mir auch die Schuhe ausziehen und aus den Klamotten raus. Ich fühle mich nach so einer langen Autofahrt nicht besonders gut."
Murrend ließ ich ihn los, beobachtete ihn aber genau. "Ist Anne schon gegangen?" Ich nickte und sah auf die Uhr. "Vor einer Stunde glaube ich." Was waren das denn noch alles für Tüten? "Lou? Was hast du denn da noch alles?", fragte ich neugierig, als ich an ihn vorbei auf den Boden sah.
"Ach, ich war noch was einkaufen... Naja eigentlich hat Mark das alles bezahlt. Ich wollte das nicht, aber er hat mir das Geld einfach in die Hand gedrückt und ist mit dem Einkaufswagen vormarschiert. Als könnte ich nicht für uns beide Sorgen..."
"Also hat er das gemacht was du immer bei mir machst?", fragte ich und legte meinen Kopf leicht schief als Louis seufze. "Ja..." Ich kicherte nur und warf dann einen Blick in die Einkaufstaschen.
"Hat Mark die K-Kondome auch gekauft...?"
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09/04/2021
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