032 | Harry

Harrys P.o.V.

Müde lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand und blätterte auf die nächste Seite von "Love is a Dog from Hell". Zuerst war ich nicht so wirklich von den Gedichten und dem Schreibstil überzeugt, doch so mehr ich von dem Autor las, desto mehr Gefallen fand ich daran.

Doch heute war es nicht der Fall. Ich konnte mich überhaupt nicht konzentrieren. Dabei war das Gedicht, was ich gerade las recht interessant. Allerdings hatte ich jetzt schon zum dritten Mal den vierten Vers gelesen und konnte mir immer noch nicht merken worum es bei 'Sexpot' ging. Seufzend schlug ich das Buch zusammen und legte es neben mir auf die Decke.

Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich mich vor dem was bevorstand ablenken könnte, aber es gelang mir nicht. Die ganze Zeit, und auch das Wochenende schon, malte ich mir die verschiedensten Szenarien aus. Was war, wenn mein Stiefvater anwesend war?

Allein bei dem Gedanken an ihn wurde mir unglaublich schlecht. Die Nervosität trug ihr übriges dazu bei, weswegen ich es nur zum Waschbecken schaffte und mich übergab. Schwer atmend spuckte ich ein zweites Mal und spülte anschließend meinen Mund aus.

Ich krallte mich am Waschbecken fest und atmete tief durch. Der Schwindel war immer noch da, weswegen ich hier bleiben stehen blieb. Langsam kamen mir die Tränen hoch, ich wollte mich nicht nochmal übergeben. Ich hasste es. Mein Hals tat unglaublich weh und mein Rachen brannte. Nach ein paar Minuten in der ich in ein und der selben Position am Waschbecken stand, spülte ich meinen Mund erneut aus.

Wenn ich so zurückdachte, was das ganze Wochenende ohne Louis einfach nur schrecklich.

Ich wollte zu Louis.

Jetzt.

Langsam kehrte ich zum Bett zurück und ließ mich darauf fallen. Doch Louis würde erst in ein paar Stunden hierherkommen. Wie sein Wochenende wohl war? Er meinte er würde seine Familie besuchen. Doch so wirklich hatte er noch nie von ihnen erzählt. Womöglich sollte ich ihn einfach fragen, ob er mir von seiner Familie und seinem Wochenende berichteten könnte.

Es würde mich bestimmt von meinen schrecklichen Gedanken abhalten.

Für einen Moment schloss ich meine Augen und überlegte wieder, was das Beste wäre, wenn es am Donnerstag gut verlaufen würde. Aber was war das Beste? Eigentlich wäre es gut, wenn ich hierbleiben würde.

Ich wollte nicht raus. Ich hatte Angst davor allein in einer Wohnung zu leben. Wie funktioniert das selbständige Wohnen denn? Und ich müsste ja auch arbeiten, um Lebensmittel bezahlen zu können. Und so wirklich hatte ich auch von all dem keine Ahnung. Vorher hatte sich meine Mutter um alles gekümmert und auf der Straße hast du von Tag zu Tag gelebt. Geplant hat man nie was.

Wie denn auch, wenn man nicht wusste, ob man den nächsten Morgen noch erleben würde. Die vierte Jahreszeit war ein reines Überlebenstraining.

Automatisch dachte ich auch an Schwester Mary zurück und wie ich für sie den ganzen Tag geschuftet hatte. Schnell schob ich die Erinnerungen in die letzte Ecke meines Gehirns und atmete tief durch. Allerdings brachte es nicht viel, denn mein Herz schlug bereits unaufhörlich gegen meine Brust und meine Hände hatte ich in die Decke gekrallt.

Zunehmend wurde es anstrengender. Ich versuchte mich dagegen zu wehren. Ich wollte nicht wieder ausrasten. Es war zwar keiner hier, aber würde Louis nur von mir denken?

Irgendwann war ich einfach nur erschöpft und bekam nicht richtig mit, als es klopfte. Erst als Louis sich über mich gebeugt hatte und eine Strähne von meiner Stirn strich, erwachte ich aus meinem regungslosen Zustand.

"Guten Morgen, Haz", lächelte er und küsste meine Stirn. Kurz entfernte er sich wenige Millimeter und flüsterte leise: "Du sollst doch nicht so viel nachdenken." Als er nochmal ein Küsschen auf meine Stirn drückte und sich dann entfernte sah ich ihn überrascht an. Doch Louis lachte nur und fuhr die Sorgenfalte auf meiner Stirn nach.

"Man sieht es dir förmlich an, dass du dir deinen hübschen Kopf zerbrichst. Rutsch mal rüber." Schnell tat ich das wonach er verlangte, setzte mich auf und machte Louis Platz. Er ließ sich neben mir nieder und legte seine Hand auf meinen Oberschenkel.

Ich biss mir auf die Lippe, als die Stelle anfing zu kribbeln. Ich mochte diese Art von Kribbeln und schaute auf seine Hand hinunter. Zaghaft legte ich meine Hand auf seine und umschlang sie. Sie war so viel kleiner als meine. Und so viel weicher.

Meine war rau und mit unzähligen Narben übersät. Als ich zu Louis blickte, war sein Blick starr auf meine Hand fokussiert. "Ich weiß, ich habe schon mal gefragt, was mit deinen Händen passiert ist. Aber würdest du es mir überhaupt jemals erzählen?"

Ich dachte einen Moment über seine Frage nach. Louis konnte ich vertrauen. Doch wie sehr ich ihm vertrauen konnte wusste ich nicht. Es gab noch so vieles von dem er keine Ahnung hatte. Konnte ich ihm von all diesen Dingen jemals erzählen? Konnte ich mich ihm gegenüber so weit öffnen, wie ich es noch bei keinem einzigen Menschen getan hatte.

"Du musst nicht, wirklich nicht. Ich dachte nur, dass-" Ich unterbrach ihn indem ich meine freie Hand auf seinen Mund legte. "Irgendwann." Louis' blaue Augen sahen mich erstaunt an. Ich musste etwas schmunzeln, denn so wie er gerade aussah, war es wirklich süß.

Als ich meine Hand hinunternahm grinste er mich breit an. "Gut, dann werde ich warten." Ich nickte nur und blickte wieder auf unsere nun ineinander verschränkten Hände. "Erzählst du mir von deinem Wochenende?", bat ich und lehnte meinen Kopf an die Wand hinter mir.

Louis zögerte zuerst, doch als ich ihm sagte, dass ich etwas über seine Familie hören wollte, konnte er gar nicht stoppen. Er erzählte mir von seinem Geschwister, wie sie alle hießen und wo sie eigentlich lebten. Seine Mutter ließ er ebenfalls nicht aus. Es tat mir leid, dass der Krebs sie ihm genommen hatte. Irgendwann stoppte Louis in seinen Erzählungen und blickte auf seine Uhr.

"Ich bring dich jetzt zum Frühstück. Danach erzählte ich dir mehr." Nickend löste ich meine Hand von seiner und stand auf. "Was ist eigentlich mit deinem Freund?" Louis biss sich auf die Lippe und brummte leise. "Er ist bei sich Zuhause. Niall ist fürs erste krankgeschrieben. Ihm geht es nicht gut, aber ich schaue jeden Tag  bei ihm vorbei. Er sollte nicht alleine sein. Meistens essen wir zusammen etwas oder ich versuche ihn abzulenken."

Plötzlich breitete sich ein brennendes Gefühl in meiner Brust aus, welches ich noch nie gefühlt hatte und somit auch nicht einordnen konnte. Das einzige was ich wusste, war, dass er mir nicht gefiel das er so oft bei ihm war. Louis' Kichern erregte meine Aufmerksamkeit.

"Sag mal bist du etwa eifersüchtig? Du siehst nämlich ganz so aus", grinste er und pikste in meine Wange. Schnell schnappte ich seine Hand und drückte fest zu. "Nicht." Erschrocken nickte er und ließ seine Hand fallen, nach dem ich sie frei gab. Jetzt musste ich grinsen und streckte ihm kurz meine Zunge raus.

Nach dem Frühstück saßen wir wie zuvor auf dem Bett, doch bevor er wieder mit seinen Erzählungen anfing, begann ich ihm meine Gedanken mitzuteilen, welche sich beim Essen wieder in den Vordergrund geschoben hatten.

"Das wegen Donnerstag... Ich weiß nicht ob ich das kann."

Rückartig setzte sich Louis auf und schaute mich mit großen Augen an. Doch sein Blick wurde immer sanfter und liebevoller. "Ich weiß aber, dass du das kannst." Gebannt schaute ich ihn an und als er seine Lippen auf meine Stirn drückte, schloss ich meine Augen. Unschlüssig ob ich ihm glauben sollte grummelte ich leise und legte meine Arme um Louis' Körper.

"Warum zweifelst du denn so?"

Ich löste mich von ihm, um ihn besser ansehen zu können. "Das Alleinsein... Ich weiß, hier sieht es nicht anders aus. Aber hier bist du da. Und in wenigen Tagen wirst du das nicht mehr sein und ich weiß nicht, ob ich all das ohne dich schaffe", flüsterte ich leise und drehte meinen Kopf weg, als meine Augen anfingen zu brennen.

"Ich lasse dich aber nicht alleine. Wir werden uns oft genug sehen, da bin ich mir sicher."

Unschlüssig nickte ich leicht und blickte auf meine Hände hinab. Louis legte seinen Kopf auf meiner Schulter ab und seufzte leise. "Das wird schon. Versprochen." Irgendwie klang es so, als wüsste er mehr als ich. Und ob mir das so gefiel wusste ich nicht.

Vermutlich eher nicht.

"Du hast auch gleich einen Termin bei Herrn Walker. Er wollte dir schon mal Bilder von der kleinen Wohnung zeigen. Und du lernst deinen Therapeuten kennen." Sofort verkrampfte ich mich, aber Louis begann über meine Wange zu streichen und schenkte mir einen liebevollen Blick. "Du brauchst keine Angst haben. Ich kenne die Person. Glaub mir, dein neuer Therapeut ist wirklich nur ein Therapeut und nebenbei ein wunderbarer Mensch."

Bei seinem Blick und seinen Berührungen, konnte ich nicht anders als zu nicken. "Na schön."

Wir beide redeten noch eine Weile, bis er mich ins Büro begleitete und neben mir Platz nahm. Herr Walker stellte mir den Therapeuten vor. Was Louis mir vorenthalten hat war, dass es sich um eine Frau handelte. Doch entgegen meines ersten Eindrucks von ihr schien sie nett zu sein. Und anders als Liam, war sie irgendwie netter und auch ruhiger, nicht so fordernd. Ob ich sie mochte wusste ich allerdings noch nicht.

Seit zwei Stunden saß ich nun hier neben Louis und schaute mir die Bilder des kleinen Apartments an, welches ich beziehen würde, wenn ich hier rauskam. Unschlüssig blickte ich auf den Umriss. Die Wohnung hatte gerade einmal 35qm doch Herr Walker meinte, dass wäre normal für die Londoner-Innenstadt.

"Allerdings gibt es eine Besonderheit. Das Appartement befindet sich in einem Haus, welches Frau Morris gehört. Sie ist eine ältere Dame und nimmt an einem Programm teil, welches es ermöglicht, dass Menschen, welche aus der Haft entlassen werden, ein Zuhause finden. Sie müssen nichts an Miete zahlen. Sie möchte lediglich, dass sie ihr bei ein paar Dingen helfen. Das werden sie aber alles erfahren, wenn sie Frau Morris dann kennenlernen. Aber ich denke es handelt sich dabei um die Besorgung von Lebensmittel und andere Besorgungen. Machen sie sich keine Gedanken, das werden vermutlich nur 10 Stunden die Woche sein."

Als er das erklärte spannte ich mich direkt an, doch Louis Hand auf meinem Oberschenkel beruhigte mich ungemein. Allerdings nickte ich nur und sagte nichts dazu. Gerade wollte ich fragen, ob wir fertig waren, da sprach Herr Walker einen weiteren Punkt an.

"Sie sind auch auf einen Job angewiesen, da müssen sie sich allerdings selbst bewerben. Hilfestellungen geben wir gerne, aber wir versuchen auch auf die Selbständigkeit zu achten. Aber das versteht sich ja von selbst."

Als ich zu Louis schielte schenkte er mir ein schlichtes Lächeln. Ob er mir auch helfen würde? Kurz schüttelte ich meinen Kopf und erinnerte an die unzähligen Male in denen Louis gesagt hatte, dass er mich bedingungslos unterstützen würde.

Da Herr Walker nichts mehr sagte, nahm ich an, dass unser Gespräch nun vorbei sei. Doch er belehrte mich eines Besseren. "Ich hatte es bei dem letzten Gespräch angesprochen, allerdings möchte ich nochmal nachfragen. Wie sieht es mit der Familie aus? Sie wurde ausfindig gemacht, sollen sie auch informiert werden?"

Schnell stand ich vom Stuhl auf und presste ein 'Nein' hervor. Herr Walker sah mich überrascht an, bis er sich räusperte und nachhakte. "Und warum?" Doch er würde gewiss keine Antwort von mir erhalten. "Meine Familie ist für mich gestorben. Ich will nichts von ihnen hören und von mir sollten sie auch nichts erfahren. Ich möchte nichts von diesen Leuten hören."

Herr Walker schnitt das Thema nicht nochmal an und erklärte das Gespräch für beendet. Mit schlechter Laune brachte mich Louis zurück und sah mich bedrückt an. "Ich weiß, dass ich womöglich nicht das Recht dazu habe und es jetzt auch nicht der beste Zeitpunkt ist, aber du bist bereits wütend und es wurde angesprochen, deswegen frage ich jetzt einfach weiter."

Mit zusammengekniffenen Augen schaute ich den Älteren an. "Was?", zischte ich und verschränkte meine Arme vor meiner Brust, um mich davon abzuhalten ihm wehzutun.

"Was wäre denn, wenn man sich wenigstens mit deiner Mutter in Verbindung setzt? Denkst du sie würde nicht wissen wollen, was mit dir ist?"

Ich begann zu lachen und schüttelte meinen Kopf. "Denkst du sie interessiert sich dafür? Sie hat sich für nichts interessiert! Sie wusste alles und trotzdem hat es sie nicht gekümmert."

Louis war immer noch auf Abstand und legte seinen Kopf leicht schief. "Von was hat sie gewusst?" Ich spannte mich an und schüttelte meinen Kopf. "Nein. Lass mich in Ruhe." Ich hatte keine Lust mehr zu sprechen, mir war wieder schlecht und meine Schultern schmerzten von der ganzen Nervosität und dem Stress, den ich mir selbst machte.

"Harry, bitte. Das wäre wichtig."

"Für wen?", fragte ich schnippisch. Louis seufzte und kam auf mich zu. Starr beobachtete ich seine Bewegungen und begann zu zittern. Als er seine Hände auf meine Oberarme legte zuckte ich unweigerlich zusammen und ging einen Schritt zurück. "Nicht, nicht jetzt."

"Es tut mir leid, Harry. Ich sollte wissen wann genug ist und nicht weiter nachfragen. Verzeih mir bitte." Als ich in Louis sah, konnte ich nicht anders als zu Nicken und als er seine Arme um meine Taille schlang, war es ganz vorbei. Ich legte meine Arme ebenfalls um ihn und drückte ihn fest an meine Brust. "Tut mir leid", flüsterte er.

"Schon gut." Gut war eigentlich nichts, doch mit Louis wollte ich mich nicht streiten. Oder auch nur diskutieren.

"Willst du vor dem Mittagessen noch duschen?" Louis lenkte gekonnt von den vorherigen Themen ab. "Vielleicht hilft dir das warme Wasser zu entspannen. So wie du die ganze Zeit gekrümmt gehst, muss es dich unglaublich weh tun." Ich stimmte Louis' Vorschlag zu und gemeinsam gingen wir zu den Duschen.

Dort angekommen drehte Louis direkt den Rücken zu und fing an mich auszuziehen. Die Klamotten legte ich auf die vorgesehene Ablage. Gerade als ich das Wasser anstellen wollte, hörte ich das Knarzen der Tür und drehte mich um. Ich konnte nur noch sehen wie Louis hinaustrat und die Tür hinter sich schloss. Schlagartig versteifte ich mich, griff nach dem Handtuch um es mir um die Hüfte zu wickeln und ging langsam auf die Stahltür zu.

"L-Louis?"

Er war doch jetzt nicht einfach gegangen.

Angst durchströmte meine Adern. Sowas war schon mal vor 2 Jahren passiert. Ich wurde eingeschlossen und als es niemand mitbekam wurden noch zwei weitere Insassen in den Raum gelassen. Damals lag ich anderthalb Wochen auf der Krankenstation. Zuvor hatte ich von einem aus ihrer Gang ein paar Zigaretten geklaut. Und der Aufenthalt auf der Krankenstation war dann die verdiente Strafe.

Panisch versuchte ich die Tür zu öffnen. Louis konnte mir das doch nicht antun. Auf einmal stand dieser in der Tür und schaute mit seinen blauen Augen zu mir hoch. "Alles okay?"

"Du... Du bist einfach gegangen." Ich versuchte die Angst in meiner Stimme zu verbergen. Seit dem Louis hier war, war es zunehmend schwerer meine Gefühle zu kontrollieren. Und ich hasste es.

Ich möchte es überhaupt nicht, wenn man erkannte in welcher Gemütslage ich war.

"Ich habe nur was geholt. Da du so verspannt bist, dachte ich, dass ich etwas ausprobieren könnte. Vielleicht hilft dir das ja." Verwirrt blickte ich auf die Klamotten und das zusätzliche Handtuch in seinen Armen.

Gerade als ich nachfragen wollte wofür er das brauchte, legte er es ab und begann sein Hemd aufzuknöpfen.

Mit großen Augen verfolgte ich seine Handgriffe und biss mir leicht auf die Lippe, als er sich von dem letzten Stück Stoff trennte. "Komm." Louis legte seine Hände vorsichtig an die Stellen an meinen Körper, wo sich keine Narben befanden, und schob mich zu der Dusche. Das Handtuch legte ich beiseite, schaltete das Wasser an und stellte mich drunter.

"Schließ einfach deine Augen und Versuch dich zu entspannen."

__________
2662 Wörter 22/10/20

Mal ein längeres Kapitel, da auch schon ein paar Tage nichts kam ; )
Außerdem ist es eine gute Ablenkung von dem ganzen Lernen. Noch drei Klausuren und dann ist das 4. Semester geschafft.
Am 2. November gehts dann auch schon direkt mit dem 5. weiter. Kann es kaum erwarten (๑˃̵ᴗ˂̵)

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top