018 | Louis

Louis' P.o.V.

Langsam lief ich auf und ab und strich mir immer wieder mit meinem Ärmel über die Augen. Ich hatte gedacht, dass ich gefasst wäre, dass ich es verkraften könnte, wenn Harry mir davon erzählt. Doch ich schaffte es nicht. Immer wieder liefen mir die Tränen über die Wange. Immer wieder malte ich mir aus wie verzweifelt Charlotte wohl gewesen sein muss. Was für Schmerzen sie ertragen musste und es schlussendlich nicht mehr ausgehalten hat.

Sie hatte es nicht verdient so zu sterben. Nicht mein kleines Mädchen. Nicht meine Charlotte. Nicht so. Nicht auf eine so schreckliche Art und Weise. Geprägt von Hass und Gewalt. Sie war doch ein so kleiner und liebenswürdiger Engel. Niemand hatte es so verdient den Tod zu finden. Doch Charlotte hatte es von allen am wenigsten verdient.

Ich rechnete es Harry hoch an, dass er sich - ohne dabei an sich selbst zu denken - für meine Schwester eingesetzt hatte.
Es war, als würde er wirklich von sich erzählen und nicht von dem Harry der jetzt vor mir im Bett saß.

In mir kam die Frage auf, warum meine Eltern mir damals nie die Wahrheit gesagt hatten. Warum hatten sie über den Tod von Charlotte gelogen? Ich verstand es, dass sie so etwas nicht meinen anderen Geschwistern erzählen konnten. Schließlich waren diese viel zu jung als Charlotte starb. Und selbst jetzt waren die fünf kleinen Monster zu jung.

Doch mir hätten sie es sagen können. Ich war doch alt genug. Verdammt, ich war definitiv alt genug für die Wahrheit gewesen. Wenn ich davon gewusst hätte, dann hätte ich bestimmt auch nachgehakt und selbst mal ein Blick in die Akten geworfen. Befangenheit hin oder her, aber ich hätte meinen Job definitiv dafür ausgenutzt.

Und warum war sie nur alleine los? Der Weg von meinem Elternhaus zu mir war doch bei Nacht für eine 10-jährige viel zu weit. Hätte sie mich doch bloß angerufen... Hätte ich nur gewusst, dass sie zu mir kommen wollte. Dann wäre sie noch hier. Hier bei mir und meiner Familie.

Harrys Worte ließen mich aufhorchen:

"Sie wäre noch hier bei dir und ich hätte endlich meinen langersehnten Frieden gefunden."

Entsetzt schaute ich ihn an und strich ein letztes Mal über meine Augen. Kurz atmete ich tief durch und ging dann ohne lange nachzudenken auf ihn zu. Beim Bett angekommen setzte ich mich auf die Kante und griff nach seiner Hand. Darauf bedacht einen nicht zu großen Druck aufzubauen, schließlich wollte ich keinen Anfall riskieren. Ich wusste nicht wie und wann sich ein Anfall ankündigte und wodurch er sich wirklich auslösen ließ. Doch hinaufbeschwören wollte ich es jetzt gewiss nicht. Auch wenn meine Berührungen vermutlich gar nicht erst etwas auslösten. Beweise dafür hatte ich ja jetzt schließlich genug.

Vielleicht würden wir irgendwann dazu kommen und wir könnten es testen? Oder vielleicht wusste er es selbst und würde es mir irgendwann mitteilen?

Harrys Worte hatten mich wirklich geschockt. Niemand sollte so über sich selbst denken.

"Sag so etwas nicht. Ja, es ist schrecklich, dass Charlotte gestorben ist", meine Stimme brach weg und ich musste mich beherrschen nicht erneut in Tränen auszubrechen. Nicht das ich mich für meine Gefühle schämte. Doch jetzt so direkt vor Harry zu weinen, welcher es gerade auch nicht leicht hatte empfand ich als unpassend.

"Aber wünsch dir nie an jemandes Stelle zu sein der nicht mehr unter uns weilt. Niemals." Sanft übte ich leichten Druck auf seine Hand aus und strich mit meinem Daumen über den Handrücken. Zärtlich malte ich kleine Kreise auf seiner Haut, wobei mir immer mehr Narben ins Auge stachen. Schwer schluckend griff ich auch mit meiner anderen Hand nach seiner zweiten und begutachtete sie.

"W-Was ist da passiert?" Sprachlos drehte ich sie ins Licht, um es genauer betrachten zu können. Es schien als hätte jemand immer wieder präzise Schnitte über seinen Handrücken und auch über die Innenfläche gezogen.

Zu meiner Überraschung zog Harry sie nicht weg, sondern griff um und hielt nun meine Hände in seinen. Allerdings blieb er still und erwiderte nichts auf meine Worte. Doch dann, nach ein paar Minuten, schüttelte er leicht mit seinem Kopf und schaute mich geradewegs an. In seine Augen spiegelte sich Trauer und Angst wider. Langsam löste ich mich von ihm und legte meine Hände an seine Wange.

"Es ist alles gut." Besorgt schaute ich in seine grünen Augen. Was für ein wunderschönes Grün es doch war. Es war schade das diese unglaubliche Farbe von solch einem schrecklichen Schmerz getrübt wurde.

Es tat weh ihn so gebrochen zu sehen. Es erinnerte mich an die Nacht wo er die schlimmen Albträume durchlebt hatte, aus denen er einfach nicht erwachen wollte. Vorsichtig strich ich mit meinem Daumen auf und ab und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.

Allein das was sich in seinen Augen zeigte, verdeutlichte mir noch mehr das ich ihm helfen musste. Er hatte auch das Recht ein Leben außerhalb dieser Mauern zu führen. Vermutlich sogar mehr als jeder andere hier.
Ich musste herausfinden, warum er verurteilt worden war. Warum keine richtige Polizeiarbeit geleistet wurde und vor allem musste ich dafür sorgen, dass Harry sich von seinen Dämonen trennte.

Ohne dass ich es wirklich merkte legte Harry seine Hand in meinen Nacken und zog mich enger zu sich heran.

"Warum? Warum tust du das?" Seine Stimme glich einem Flüstern und sorgte bei mir für Gänsehaut.

Er schloss seine Augen und legte seine Stirn an meine.
Ein leichtes Lächeln schlich sich auf meine Lippen, da Harry ohne Weiteres Berührungen von sich aus zuließ. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Kurz schloss ich meine Augen und genoss diesen Moment zwischen uns beiden. Gerade als ich antworten wollte öffnete sich die Tür, weswegen ich schnell aufstand und einen gewissen Abstand zu Harry einnahm.

Harrys Körperhaltung wechselte schlagartig. Er strahlte kaum noch Offenheit und Angst aus. Er verstecke es gekonnt hinter Anspannung und Wut. Überrascht darüber, wie schnell er es wechseln konnte beobachtete ich ihn noch einen Moment bevor ich mich an die Person wendete, welche das Krankenzimmer betreten hatte.

"Ich wollte nur das Tablett holen und das Mittagessen vorbeibringen", die Pflegerin lächelte freundlich und tausche kurzerhand die beiden Tabletts aus. War es denn schon so spät? Erstaunt blicke ich auf meine Armbanduhr. Und tatsächlich es waren schon einige Stunden vergangen.

"Herr Styles? Bitte nehmen sie auch die beiliegenden Medikamente. In zwei Tagen kommen sie wieder in ihre normale Zelle. Und noch etwas, Herr Payne würde gerne ein erneutes Gutachten zu ihrer psychologischen Verfassung anfertigen. Er kommt in der nächsten Stunde." So schnell wie sie gekommen war verließ sie auch wieder das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Liam kam also gleich wieder vorbei. Ich setzte mich wieder auf meinen ursprünglichen Platz auf Harrys Bettkante und schob den Beistelltisch so hin, dass er das Essen direkt vor sich hatte.

"Ich sollte jetzt auch in die Mittagspause. Vermutlich komme ich gemeinsam mit Liam wieder hierher. Danach reden wir weiter."

Harry murrte als ich Liams Namen erwähnte und verzog genervt das Gesicht.
"Auf diesen Therapeuten kann ich verzichten. Er nervt. Ich will nur meine Ruhe."

Mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte ich Harry und seufze leise. Nach langem Überlegen kam ich zu dem Schluss, ob es nicht sogar von Vorteil wäre Liam aufzuklären. Schließlich hatte er hier eine nicht ganz unwichtige Position. "Was wäre, wenn du ihm die Wahrheit erzählst? Er könnte noch mehr über alle Geschehnisse herausfinden und vielleicht werden die Ermittlungen erneut aufgenommen. Vielleicht endet es sogar zu deinen Gunsten. Du könntest hier raus."

Harry schnaubte verächtlich und ließ die Gabel auf das Tablett fallen.
"Ich weiß alles was ich wissen muss. Ich werde nie eine Chance dazu haben hier herauszukommen und ein 'einfaches Leben' führen können. Ich habe nichts und werde auch nichts haben."

"Was macht dich da so sicher? Es gibt bestimmt Menschen, die dir helfen würden. Und ich-" Ich zögerte kurz und biss mir auf meine Lippe. Plötzlich kam mir wieder der Kuss von vorhin in den Sinn und wie er mir mehr als nur ein wenig gefallen hatte. "bin auch noch da", beendete ich meinen Satz und schaute ihn an.

"Es gibt keine Chance. Versteh es doch! Und ich will auch keine. Ich habe genug." Harry strich sich durch die Locken und seine Tonlage änderte sich abrupt. Kurz zuckte ich zusammen und schaute ihn dann mitleidig an.

"Und warum denkst du so etwas? Liegt es daran, dass du seit so langer Zeit schon hier bist und bisher niemand auf die Idee dazu gekommen ist einfach mit dir zu reden und mal Ruhe zu bewahren?" Langsam legte ich eine Hand auf sein Knie. Zuerst dachte ich, er würde meine Hand wegschlagen. Doch er ließ mich machen und legte schlussendlich sogar seine Hand auf meine.

Da er aber immer noch nicht auf meine Frage geantwortet hatte wiederhole ich sie erneut. Diesmal aber viel ruhiger.

"Und warum denkst du so etwas?" Schließlich müsste man doch nur einen beteiligten Polizisten und dem damaligen Richter, welcher das Urteil gefällt hatte, den Fall schildern und nochmal aufnehmen lassen.

Harry räusperte sich kurz: "Der Richter ist mein Stiefvater."

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1497 Wörter 26/07/2020

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