Kapitel 70

Sicht von Zayn:

Angespannt saß ich auf dem roten Stuhl, der extra für mich reserviert war.
Vor mir die Stufen, die zu der riesen, weißen Bühne führten.
Hinter mir Hunderte von Reihen, voll mit Stühlen. Aber nicht mit roten, sondern braunen.
Nur die erste Reihe war voll mit edlen Stühlen.
Nur in der ersten Reihe saßen wichtige Leute.
Das Volk wurde hier leicht herablassend behandelt.

Wie hatte ich das nicht schon vorher bemerken können?
War das überhaupt meine Schuld?
Oder die der Regierung?
Möglicherweise sogar die des Rats?

Meine Gedanken wurden durch die Trompeten unterbrochen.

Enno stieg auf die Bühne.
Verkündete allen, dass es gleich los gehen würde.

,,Hallo, Zayn. Kann ich mich zu dir setzen?", fragte er, als er wieder zur ersten Reihe kam.

,,Klar."

Und schon hockte er dort. Auf dem Stuhl des Adels. Der Anerkennung.

Was hatte er hier verloren?
Was hatte er hier verdammt nochmal zu suchen?

Dieser Mann gehörte hier nicht hin.
Gehörte nicht in meine Nähe.

,,Hat Aylin auch schön ihren Text gelernt?" Dieses widerliche Lächeln umspielte seine Lippen.

,,Ja." In meinem Kopf spielten sich so viele Szenarien ab, wie das hier schief gehen könnte.

,,Ach, das wird super." Immer mehr Hass verspürte ich diesem Mann gegenüber. Immer mehr Abscheu.

,,Wenn du meinst."

Warum merkte er denn nicht, dass wir kein gutes Verhältnis mehr hatten?
Dass ich mehr als angeekelt von ihm war?

,,Ja klar mein ich das. Das Volk wird begeistert sein!"

,,Und wenn nicht?"

,,Dann müssen wir eben eingreifen." Und auch, wenn er es so gelassen sagte, so normal, war es alles andere als normal. Der Sinn hinter diesen Worten war alles andere als alltäglich.
Denn mit eingreifen war kein friedliches Reden gemeint.
Nein, damit waren Kämpfe, Morde, gemeint.

Damit war gemeint, dass es Tote geben würde, wenn sich das Volk widersetzen würde.

Wie könnte ich auch nur zulassen, dass es diese Kämpfe und Tode geben würde?
Könnte ich dies überhaupt verhindern?

Ich glaubte nicht.
Denn schon lange hatte ich keine hohe Macht mehr.

,,Hör mal, Zayn. Das letztens, das war nicht so gemeint. Du weißt schon, das mit Aylin und so."
Ich wusste, worauf er hinaus wollte.
Und obwohl er sich zu entschuldigen versuchte, verabscheute ich ihn deshalb noch mehr.
Wie er es so locker sagte. Unberührt.

,,Ich weiß schon, mit Aylin und so. Hör mal, Enno. Sprich mich bitte einfach nicht mehr an. Lass mich den heutigen Tag genießen, okay? Super."

Seinen geschockten Gesichtsausdruck ignorierte ich.
Langsam glitten meine Augen wieder nach vorne.
Gerade rechtzeitig.
Wieder ertönten Trompeten.
Der Klang dieser Trompeten ließ die lauten Gespräche hinter mir verstummen.
Nun hörte man nur noch das Vogelgezwitscher, welches im Frühling mehr als oft zu hören war.  Über uns der klare, blaue Himmel.
Über der Bühne weiße und rosa Bänder, die sich immer wieder ineinander verfingen. Hinter der Bühne war das Schloss zu sehen.
Eigentlich war alles weiß. Alles war in hellen Farben gestaltet. Vielleicht sollte es dadurch freundlich wirken. Vielleicht aber auch war alles nur so hell, weil es Enno so am besten gefiel.

Keiner hatte hierbei Mitbestimmungsrecht.

Nur Enno.
Obwohl es nichteinmal seine Krönung war.
Obwohl es nicht seine Tochter war, die hier gekrönt wurde.

Ich verstand diesen Mann nicht.
Zwar erfüllte er nur seine Pflichten, aber tat er das nicht etwas zu übermotiviert?
Oder irrte ich mich nur und machte mir zu viel Sorgen?

Was es auch war, er nervte mich gewaltig.

Unbewusst zuckte ich merklich zusammen, als die Trompeten erneut ertönten. Verwundert schaute ich wieder auf die Bühne.
Alle warteten.
Aylin hätte schon längst hier draußen sein müssen.
Stattdessen versteckte sie sich noch immer hinter den strahlend weißen Vorhängen an den Seiten.

Und nach einigen Minuten des Wartens, als ich mir schon langsam Sorgen gemacht hatte, erschien sie. Lauter Applaus folgte. Das erste, was man sah, war das strahlende Lächeln auf ihren Lippen.
Ich konnte sehen, dass es nicht echt war.
Sah, dass sie litt.
Wie gut sie schauspielern konnte.
Wie zerstört sie doch war.

Doch keiner merkte es.
Keiner hörte auf zu applaudieren.
Keiner hörte auf zu pfeifen.
Zumindest bis sie ihr Gewand, welches ebenfalls schneeweiß war, auf den Boden fallen ließ und somit ihr Kleid entblößte.
Sofort wurde es still.

Totenstill.

Und nun sah ich es.
Das Strahlen in ihren Augen. Das triumphierende Lächeln.
Diesmal war es echt.

Sie hatte sich diese Reaktion erhofft.
Ganz klar.

,,Was soll das?!", rief Enno.
Lautes Gemurmel folgte.

,,Warum trägst du dieses Kleid?" Man konnte die Wut aus seiner Stimme deutlich heraushören. 

,,Ich habe mir dieses Kleid ausgesucht."
Ja, das merkte man.
Es war das komplette Gegenteil von dem Kleid, welches Enno ihr gebracht hatte. Welches sie eigentlich anziehen sollte.

Es war schwarz. Wirkte trostlos.
Wie bei einer Beerdigung.
Darauf wurden mit einem helleren schwarzton Totenköpfe genäht.

Augenblicklich bemerkte ich, was sie damit zeigen wollte. Was ihre Beweggründe waren.

Sie... sie wollte damit zeigen, dass es für alle anderen zwar eine neue Chance, ein besseres Leben, sein würde, aber für sie würde es der Tod sein. Ihre Beerdigung.
Die Beerdigung ihrer Seele.
Sie wollte damit zeigen, dass sie ihr Leben verkauft hatte. Damit es allen anderen gut gehen würde. Auch, wenn nicht ganz freiwillig.

Sie hatte ihr Ziel endlich erreicht.
Hatte sich ihren größten Wunsch fast erfüllt.

Ihren Tod.

Sie präsentierte ihren Tod.
Hatte sich selbst als tot dargestellt.

Und erst jetzt bemerkte ich die Tropfen Blut, die genau am Herz waren.
Frustriert atmete ich ein.
War das wirklich Blut?
Nein, nein das war Farbe.
Das rot wirkte zu stark und außerdem verlief nichts.
Erleichtert atmete ich aus.

Auf einmal fiel mir ein, dass sie, auch wenn sie die ganze Zeit mit anderen Sachen beschäftigt war, immernoch Depressionen hatte. Dass sie noch immer tot sein wollte. Dass sie auch jetzt noch die Menschheit verabscheute.
Vielleicht sogar noch mehr als vorher.
Nur hatte sie es nicht so auffällig wie vorher gezeigt.
Hatte vielleicht sogar gar nicht mehr so oft daran gedacht wie als sie noch im Waisenhaus war.
Sie wirkte zwar glücklicher, musste es aber keinesfalls sein, was man deutlich am Kleid erkannte.
Zumindest tat ich dies.
Für Enno war dieses Kleid nur ein Zeichen der Rebellion.
Er sah den tieferen Sinn dahinter nicht.
Er sah ihre Gedanken dahinter nicht.
Sah ihre verwischten Tränen unter dem Make-up doch überhaupt nicht.
Sah sie nur als Störensfried.

Ein Grund mehr, weshalb ich Enno nicht leiden konnte.

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