9. Kapitel
TW: Unterhaltung über Selbstverletzung, Suizid & Tod
Die ganze Zeit hatte ich Hyunjin's Erzählungen gelauscht, ohne ich zu unterbrechen. Einerseits fand ich es wahnsinnig stark von ihm, da so gut drüber reden zu können. Andererseits könnte ich auch die tiefe Trauer des Verlustes zwischen seinen Worten erkennen. Kein Kind sollte je so etwas durchmachen müssen!
"Ehrlich gesagt weiß ich nicht wie ich darauf reagieren soll. Zuerst möchte ich dir für dein großes Vertrauen danken, ich verspreche dir deine Geschichte ist bei mir sicher. Auf jeden Fall will ich, dass du weißt, es war nicht deine Schuld. Niemand kann sowas voraussehen, deswegen kannst weder du noch sonst jemand was dafür. Außer der Typ mit Waffe, aber so wie ich es rausgehört hab, hat der bereits seine gerechte Strafe bekommen."
Ich versuchte so gut es ging mit meinen Worten zu ihm durchzudringen, hatte auch das kleine Gefühl, es zu schaffen. "Theoretisch weiß ich dies ja. Aber dann gibt es immer wieder diese Leute, die mir einreden, dass nur ich was für die jetzige Situation kann. Jedes Mal wenn ich nach Hause komme strafen mich die Blicke meiner Mutter, manchmal hab ich wirklich das Gefühl, es nicht mehr aushalten zu können."
Wollte er damit etwa sagen... "Bist du Suizidgefährdet?", brach meine Frage aus mir raus, bevor ich nachdenken konnte. Ich merkte wie der Ältere sich unter mir wand, ihm schien die Antwort unangenehm zu sein. "Es tut mir so leid. Es war unhöflich so was zu fragen, du musst es mir nicht erzählen." Trotz meiner Entschuldigung herrschte die nächsten Minuten unangenehme Stille.
"Nein, lautet die korrekte Antwort auf deine Frage. Nicht mehr." Überrascht, dass er dieses Thema doch wieder aufgriff, überlegte ob ich auch noch die nächste Frage stellen konnte. "Und... Hast du dir deswegen mal professionelle Hilfe geholt? Ich meine es kann nicht gut für die Psyche sein, in so frühen Jahren die..." Kurz stockte ich, da ich nicht wusste, wie ich es am besten Ausdrücken konnte. "Seinen Dad sterben zu sehen?" Ich formulierte es eher wie eine Frage, da ich nicht wusste, ob der Ausdruck okay war.
Doch Hyunjin ließ sich nichts anmerken, sondern versuchte sogar meinen etwas misslungenen Versuch an Frage zu beantworten. "Ich wollte. Spätestens nachdem ich mich zum ersten Mal geritzt habe, merkte ich, dass irgendwas mit meinem Kopf nicht stimmte. Früher hatte ich die ganzen verzweifelten Leute nicht verstanden, die durch Schmerz Erlösung fanden, doch plötzlich gehörte ich selbst dazu.
Es war wie eine Sucht, für ein paar Minuten lieferte es mir das, wonach ich mich so sehr sehnte. Kontrolle. Kontrolle über meine Gedanken, über mein Handeln, über mich. Teilweise fühlte es sich an, als ich ich nur ein Zuschauer meines eigenen Körpers wäre." Geschockt brauchte ich kurz paar Minuten, um es zu verarbeiten.
"Du wendest dich jetzt bestimmt von mir ab, so wie alle anderen, die es wissen auch, oder?" Ich war leicht beleidigt darüber, dass er sowas von mir dachte. "Niemals würde ich dich für sowas verurteilen! Ich versuche nur dich, deine Gefühle zu verstehen. Ich möchte kapieren, was in den Momenten in deinem Kopf abgeht, damit ich dir besser helfen kann." Danach war er wieder kurz leise, doch diesmal war es anders. Es war nicht unangenehm, sondern viel eher ließ ich ihm diesmal die zeit, die er brauchte, um zu verarbeiten.
"Du bist der erste der so reagiert, alle anderen halten mich für krank und ekelhaft. Danke." Ich merkte, wie viel ihm meine Worte wirklich bedeuteten, durch die Geste, wie er meine Taille fester griff, sich mehr Sicherheit bei mir suchte. "Wenn es für dich okay ist, kannst du mir dann bitte noch erzählen wie es weitergeht. Du hast die Worte 'Ich wollte' benutzt. Heißt das, es ist gar nicht dazu gekommen?"
"Ich kann es versuchen. Aber bisher wollte ich es immer verdrängen, deswegen könnte es nicht wirklich Sinn machen", entschuldigte er sich bei mir schon im Voraus. Doch ich versuchte ihm seine Sorgen soweit wie möglich zu nehmen, indem ich vorsichtig meine Hand in seine Haare wandern ließ, um sie sanft durch meine Finger gleiten zu lassen. Wie unglaublich weich sich doch waren.
"Ich dachte zuerst, ich komme alleine damit klar. Ich hielt es für eine Schwäche, eine Sache, die mir schadet. Es kostete mich viel Überwindung zu meiner Mutter zu gehen, und zu versuchen, ihr meine Gefühle zu erklären. Doch sie ließ mich abblitzen, sagte mir ich solle mich zusammenreißen. Sie versteht bis heute nicht, dass nicht nur der Körper und das Immunsystem krank sein können.
An diesem Tag wurde mir klar, das sie sich gar nicht dafür interessierte, ob es mir schlecht ging. Denn wenn man auch nur ein bisschen genauer schaute, konnte man die Veränderung sehen. Vor dem Tod war ich sehr aufgeschlossen, neugierig und wollte die Welt kennenlernen. Doch plötzlich zog ich mich immer weiter zurück, unternahm kaum noch was und verbrachte meine meiste Zeit alleine in meinem Zimmer. Hätte sie auch nur ein wenig auf mich geachtet, wäre ihr dieser Unterschied aufgefallen.
Aber sie war zu sehr versunken in ihrer eigenen Trauer, sodass sie uns ganz vergaß. Als ich dreizehn war, wurden die Stimmen in meinem Kopf besonders schlimm. Schon lange reichten die kleinen oberflächlichen Schnitte nicht mehr, jedes Mal schnitt ich tiefer. Bis zu dem Nachmittag wo ich übertrieb. Zuerst sah ich ein Flimmern vor meinen Augen, dann wurde plötzlich alles schwarz. Aufgewacht bin ich in einem Krankenhausbett.
Meine Schwester fand mich und rief den Notarzt. Zum Glück bekam meine Mutter davon nicht viel mit, da sie gerade arbeiten war. Wir konnten auch die Ärzte dazu überreden, ihr zu erzählen ich wäre die Treppe runter gefallen. Allerdings musste ich versprechen, mir wirklich einen Therapeuten zu suchen. Bis heute konnte ich es leider nicht erfüllen.
Yeji warf an diesem Tag noch all meine Klingen weg und seitdem passt sie auf mich auf, dass mir sowas nicht nochmal passiert. Ich bin seit einem Jahr clean, doch diese scheiß Stimme verschwindet immer noch nicht. Kaum passe ich mal nicht auf dringt sie an die Oberfläche und befielt mir Sachen zu tun, die ich eigentlich gar nicht will.
In den Momenten rufe ich dann immer Chan an und frage, ob wir uns treffen können. Er ist der einzige, der es schafft mich wieder zu beruhigen. Ich habe ihm nichts direktes erzählt, doch ich glaube, er ahnt schon ein bisschen was."
Ich schwor mir, für ihn demnächst auch immer ein Ansprechpartner zu sein. Ich redete ihm nochmal gut zu und versprach ihm, dass er nicht alleine war. Doch dann legte sich erneut Schweigen über uns. Es war alles gesagt, was wir loswerden wollten und trotzdem schien es so, als hingen immer noch unausgesprochene Gedanken im Raum. Gerade als ich ein neues Gesprächsthema gefunden hatte, hörte ich ein leises Keuchen, gefolgt von einem Wimmern.
"Felix, die Bilder kommen wieder. Lenk mich irgendwie ab!" Mir kam sofort was in den Kopf, und ich wusste nicht ob ich es später bereuen würde, trotzdem zog ich es durch. Ich rutschte von seinem Schoß, nur um mich neben ihn setzten zu können und seinen Kopf auf meinen Oberschenkel abzulegen. Danach begann ich vorsichtig die ersten Zeilen von Angel zu singen.
I won′t run away
I'd rather just stay and work this out with you
Decisions were made
They were stupid, but we didn′t break
I can admit it, it got ugly
If you forgive me for betrayin' all your love
I promise I won't do it again
Sichtlich entspannte sich der hübsche Junge, der die letzten Minuten so gebrechlich gewirkt hat. Und da verstand ich es erst, wieso er mir am Anfang so unsympathisch vorkam. Er versteckte ein Inneres hinter einer riesigen Schutzmauer an Selbstbewusstsein und Sarkasmus, dass man kaum hinter diese Fassade blicken konnte.
I′ll be your angel
Constantly watchin′ you
Your angel
When you hit rock bottom and you're
Searchin′ for somethin' but can′t see
All of the answers are hidden within me
I'll be your angel
I′ll be your angel
If you let me
Es hatte einen Grund, weshalb ich genau dieses Lied von A.C.E ausgewählt hatte. Vielleicht hatte ich ein paar Fehler gemacht, doch ich war bereit an mir zu arbeiten, ich wollte ihm helfen. Wenn er mir eine zweite Chance gab, würde ich diese garantiert nutzen. Also legte ich noch mehr Gefühl in meine Stimme um ihm meine Gedanken zu vermitteln.
Just take a risk, it's a gift
I know that it gets harder when you let somebody in like me
You never guarantee a thing
You got me changing everythin' I think
You got me doing crazy things I never thought I′d be
That′s alright with me
If you forgive me for betrayin' all your love
I promise I won′t do it again, yeah
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Erst gefühlte Stunden später ging das Licht wieder an und kurz darauf kam auch Mr. Zhang zu uns. Doch seitdem es wieder hell wurde, war es ziemlich komisch zwischen uns. Die Dunkelheit hatte eine angenehme Grenze gebildet. Man konnte den anderen nicht sehen, und war somit viel freier, seine Gedanken mitzuteilen. Fast schon schade, dass es jetzt vorbei war.
Unser Schulleiter entschuldigte sich tausend Mal für die Unannehmlichkeiten und strich unser restliches Nachsitzen, da wir ihm weiß machen konnten, dass wir unseren Streit begraben hatten.
Er gab uns unsere Sachen zurück und gerade als ich Hyunjin nach seiner Nummer fragen wollte, rannte er förmlich schon vor mir weg. Ein bisschen verletzt sah ich ihm nach, da ich dachte, er würde mir jetzt vertrauen. Andererseits konnte ich verstehen, dass dies hier gerade ein bisschen zu viel für ihm wurde, weshalb er Zeit für sich brauchte. Ich nahm mir trotzdem fest vor, ihn morgen anzusprechen.
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