Kapitel 1
"Hast du die Papiere?" Ich lehnte mit den Rücken gegen die kalte Backsteinwand. "Klar", ertönte eine dunkle Stimme hinter mir. Ich zögerte. "Wie viel?" "Zehntausend." Es war ruhig. Einzig und allein das Geräusch des Regens, der gleichmäßig auf den Asphalt tropfte, durchbrach die drückende Stille. "Zuerst die Papiere", forderte ich mit fester Stimme. Es dauerte einen Moment, bis ich eine Antwort erhielt. Dann jedoch raschelte es leise neben meinem Ohr. Ich sah auf. Dort waren sie. Wie in Zeitlupe hob ich meine Hand und streckte sie nach dem dunklen Umschlag aus. "Eine falsche Bewegung und du bist tot", drohte die Stimme, ehe sie ihn entgültig losließ und ich meine Freiheit in den Händen halten konnte. Ich ringte einen Moment um Fassung, ehe ich mit zittrigen Händen den Umschlag öffnete und die Dokumente herausholte. Mein Herz klopfte aufgeregt in der Brust, als ich durch die Papiere blätterte. Kaum zu begreifen war es, dass diese Zettel das Ende meines alten und den Beginn meines neuen Lebens darstellen sollten. "Es ist alles da." Ich konnte das Zittern meiner Stimme kaum verbergen. "Die Bezahlung", erwiderte die Stimme trocken. Ich schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, herunter und griff in die Innentasche meiner Jacke, um das Bündel Geld hervorzuholen. Mit einem letzten Blick auf das Päckchen griff ich um das Ende der Wand und reichte es der Person auf der anderen Seite. Man konnte das Rascheln der Scheine hören, als sie penibel überprüft wurden. "In Ordnung", ertönte es schließlich.
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Sanft glitt mein Finger über die Saite. Das, aus dieser Bewegung entstandende, Glissando erfüllte den Raum und umschmiegte meine Ohren. Meine Augen waren fest geschlossen, während sich eine tiefe Furche zwischen meinen Brauen bildete. Ich lauschte dem Klang meiner Geige - der wunderschönen Melodie, die Produkt des Zusammenspiels meiner Hände war. Langsam strich der Bogen über das Instrument - beinahe gefühlvoll. Ich öffnete meine Augen wieder. Der Raum um mich herum war in ein sanftes Licht getaucht. Es entströmte dem antiken Kerzenständer auf dem hölzernen Tisch vor mir. Daneben lag ein Stück Pergament. Ich hielt in meiner Bewegung inne und griff nach dem Bleistift, der auf dem erleuchteten Papier lag. Langsam setzte ich ihn an die Stelle, an der die vorhergehende, sorgfältig notierte Zeile geendet hatte. Ein leises Summen entfloh meiner Kehle. Wiederholte die Melodie, die zuvor dem Klang meiner Geige entsprungen war. Konzentriert zeichnete ich Note um Note auf das Blatt bis ich am Ende der Zeile angelangt war. Langsam fuhr ich mit dem Finger über die verschriftlichte Melodie, was ein besonderes Gefühl in meiner Brust auslöste. Es war ein Gefühl, das mir den Atem raubte und im Handumdrehen ein breites Grinsen auf das Gesicht zauberte. Ein Gefühl des Stolzes, der Freude, der Vollkommenheit. Für einen Moment ließ ich zu, dass es mich ganz und gar erfüllte; Genoss das berauschende Adrenalin, das durch meine Adern floss. Es war nicht immer so - diese Freiheit. Die Freiheit, die Freude an der Musik - meiner Musik - nicht unterdrücken zu müssen, sondern voll und ganz in sich aufsaugen zu können. Gedankenverloren strich ich noch einmal über das Blatt. Ja, dies war mein Traum und mit jedem Tag, den ich an der Academy verbrachte, wurde er Wirklichkeit. Ein knackendes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Erschrocken schoss mein Blick in die Richtung, aus der ich es vermutete. Die schwere Holztür, die der einzige Aus- und Zugang der großen Bibliothek darstellte lag im Schatten des Mondes und wirkte in diesem Moment beinahe bedrohlich. Ich lauschte noch einmal in die Stille, als ich hörte, wie ein Schlüssel vorsichtig im Schloss gedreht wurde. "Fuck", entwich mir ein leises Fluchen. Im Bruchteil einer Sekunde schnappte ich mir meine Geige und die wild über den Tisch verstreuten Blätter, blies die Kerzen auf dem Ständer aus und flüchtete zu der nächstgelegenen Bücherreihe hinter mir. Gerade noch rechtzeitig zwängte ich mich zwischen die Regale und verschwand im Schutz des Schatten. Ich wagte es kaum zu atmen als ich die Tür auffliegen und schwere Schritte den Raum durchqueren hörte. Den Rücken fest gegen die Wand hinter mich gepresst, hatte ich perfekte Sicht auf den Tisch, an dem ich zuvor gestanden hatte und auf den der Eindringling nun zusteuerte. Was hatte er vor? Ich biss mir nervös auf die Unterlippe, als sich der breite Rücken in meine Sicht schob. Seine Schultern bebten bedrohlich im Mondlicht. Langsam hob er seine Hand und ließ das Nachglühen meiner Kerzen zwischen Daumen und Zeigefinger ersterben. Shit. Der dunkle Rauch tanzte verräterisch in der Luft. Ertappt beobachtete ich, wie sich der Eindringling langsam umsah. Er suchte nach mir. Die Kerzen hatten mich verraten. Er bückte sich zu Boden und hob ein Stück Pergament auf. Ich zog scharf die Luft ein, als mir im Licht des Mondes die dunkle Notenreihe darauf entgegenleuchtete. Zweifelsohne war es eines meiner Kompositionen. Ich musste sie wohl bei meiner überstürzten Flucht verloren haben. Aufmerksam musterte der Eindringling das Papier, wodurch sich eine tiefe Furche zwischen seinen Brauen abzeichnete. Mit angehaltenem Atem beobachtete ich jede seiner Bewegungen. Langsam ließ er das Blatt wieder sinken und hob erneut seinen Kopf. Genau in meine Richtung. Mein Herz rutschte mir in die Hose. Ich kannte diesen Mann. Es war Azriel Black. Der wahrscheinlich begnadetste Pianist auf der ganzen Academy. Er war einige Jahre über mir und um ehrlich zu sein, wusste ich über ihn nicht mehr als das. Nun ja, es sei denn, man ließe die Tatsache außen vor, dass ausnahmslos jeder des ganzen Internats eine großen Bogen um ihn machte. Er hatte etwas an sich - etwas bedrohliches - und niemand wollte ihm, allein der Gerüchte wegen, zu nahe kommen. Und auch wenn ich dem Gerede nur wenig Glauben schenkte, so war es auch mir etwas unheimlich nun mit ihm allein zu sein. Ich beobachtete, wie sich Azriel langsam erhob und dabei weiterhin mit zusammengekniffenen Augen in meine Richtung starrte. Jeder einzelne Muskel unter seinem schwarzen Shirt war sichtbar angespannt. Ich spürte, wie mein Mund staubtrocken wurde. Er hob ein Bein und trat einen Schritt auf mich zu. Wie sollte ich dieser Situation entkommen? Rechts und links von mir waren hohe Bücherwände und der einzige Ausweg aus diesem Gang wurde von Azriel versperrt. Ich vernahm plötzlich ein weiteres Geräusch und auch Azriels Kopf schoss in Richtung der schweren Holztür, die soeben erneut aufgeflogen zu sein schien. "Sorry für die Verspätung", erklang plötzlich eine dunkle Stimme. Sie war mir nur zu vertraut. "Hast du das Zeug?" Azriels Blick flackerte für den Bruchteil einer Sekunde zurück in meine Richtung. "Ja", antwortete er schließlich kühl. Ich schluckte schwer. Was ging hier vor sich? Ich beobachtete, wie Azriel ein kleines Tütchen aus seiner Jackentasche hervor kramte und sie dem Neuankömmling reichte. Das weiße Pulver darin schimmerte im hellen Mondschein. "Danke, bro!" Eine Hand trat in mein Blickfeld. Sie versuchte das Tütchen zu greifen, doch Azriel zog es ein Stück zurück. "Zuerst die Bezahlung", knurrte er. "Oh. J-ja, klar." Der Andere schien nervös. Woher kannte ich diese Stimme? "Bitte." Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich beobachtete, wie Azriel einen kleinen Stapel Scheine entgegennahm und dem Neuankömmling das Tütchen zuwarf. Ich wusste nicht was ich sagen sollte. "Danke, man." Azriel nickte nur leicht. "Und jetzt verschwinde." Ich bildete mir ein, fast so etwas wie ein schweres Schlucken zu hören, ehe die dunkle Stimme ein nervöses "Natürlich" nuschelte, auf dem Absatz kehrt machte und aus dem Raum flüchtete. Ich hörte, wie die Tür ins Schloss fiel - dann war es wieder still. Ich stieß einen ungläubigen Atemstoß aus. Es bestand kein Zweifel: Ich war gerade Zeugin eines Drogendeals geworden, an dem zu allem Überfluss mein bester Freund beteiligt gewesen war. "Komm raus." Azriels Stimme drang eiskalt an mein Ohr und riss mich schlagartig zurück in die Gegenwart. Ich hob meinen Kopf und musste mit Entsetzten feststellen, dass sein Blick erneut fest auf mich gerichtet war. Fuck. Für den Bruchteil einer Sekunde stand ich nur unschlüssig da. Dann jedoch nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und trat erhobenen Hauptes aus dem Schutz der Dunkelheit. Ich hatte meinen Blick fest in seine Augen gerichtet und für einen Moment starrten wir uns nur gegenseitig an. Seine dunkelbraunen Augen bohrten sich emotionslos in meine. "Was hast du ihm verkauft?" Meine Stimme fest - entschlossen. Azriel schien keine Anstalt zu machen, mir antworten zu wollen, also trat ich erneut einen Schritt auf ihn zu. In mir brodelte es. "Was", presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, "hast du ihm verkauft?" Ich war kaum wenige Zentimeter von ihm entfernt und musste meinen Kopf in den Nacken legen, um seinem eiskalten Blick weiterhin Stand halten zu können. Azriel sah nur unbeeindruckt auf mich herab. "Ich wüsste nicht, was dich das angeht." Sein Atem strich bedrohlich mein Gesicht. Ich war mir sicher, das man auch durch die Dunkelheit hindurch das wütende Funkeln meiner Augen sehen konnte. "Ich sage dir mal, was mich das angeht." Es fiel mir zumal schwer mich zu beherrschen. Für einen Moment hielt ich inne und starrte in das dunkle Braun. "Du hast da gerade meinem besten Freund sonst welche Drogen verkauft, verdammt." Azriel verzog noch immer keine Miene, sondern sah mich nur weiterhin ausdruckslos an. "Und?" Das Adrenalin schoss durch meine Adern. Und?! Wie konnte man so ein Arschloch sein? Ich schüttelte verständnislos den Kopf und machte auf dem Absatz kehrt. Ein Schritt, dann blieb ich wieder abrupt stehen. Ich stellte das kleine Köfferchen in meiner Hand neben mich auf den Boden und drehte mich mit bebenden Schultern um. In mir kochte es förmlich vor Wut. "Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, was das anrichten kann?" Im Bruchteil einer Sekunde huschte etwas über sein Gesicht. So plötzlich, wie es gekommen war, war es auch wieder verschwunden, doch ich war mir sicher, ich hatte einen wunden Punkt getroffen. "Hör zu, ich weiß nicht, was du für ein Problem hast, aber dein Freund hat das Zeug gekauft. Ich führe nur Aufträge aus." Azriel zuckte gleichgültig mit den Schultern, was mir ein sarkastisches Schnauben entlockte. "Und du denkst, damit bist du fein raus?" Ich schüttelte ungläubig den Kopf. "Du bist doch krank." "Krank ist, dass du mir hier eine Szene machst. Ich meine, wer bist du überhaupt?" Ein verachtendes Lächeln trat auf seine Lippen. Ich sah ihn hasserfüllt an. "Eines versprech ich dir:" Ich kam ihm bedrohlich näher. "Verkauf ihm noch einmal so eine Scheiße und ich werde zu deinem schlimmsten Albtraum." Und mit diesen Worten machte ich entgültig auf dem Absatz kehrt. Ich hörte Azriel hinter mir lachen. "Im Ernst, was willst du machen?" Ich hatte die Tür fast erreicht. "Sag etwas und er geht mit mir unter." Schlagartig blieb ich stehen. Meine Hand lag bereits auf der Türklinge. Für einen Moment ließ ich mir Azriels Worte durch den Kopf gehen. "Lass das mal meine Sorge sein", sagte ich schließlich, drückte die Klinge nach unten und trat auf den dunklen Korridor. Ich atmete tief durch. Mein Herz raste vor Wut. Am Liebsten wäre ich zurück gegangen und hätte diesem Arsch kräftig eins zwischen die Beine gesetzt. Doch das ging nicht. Das Blut rauschte mir in den Ohren. Nach und nach setzte ich einen Fuß vor den anderen. Weit kam ich jedoch nicht, da wurde ich von hinten an der Schulter gepackt und gegen die kalte Backsteinmauer gedrückt. "Ich schwöre dir", knurrte Azriel an mein Ohr, "ein Ton zu irgendwem und ich mache dir dein Leben zur Hölle." Ich schluckte schwer. In was war ich hier wieder hinein geraten? Mein Blick schnellte von der kräftigen Hand an meiner Schulter zurück in seine Augen. Erinnere dich, wer du bist. Entschlossen hob ich mein Kinn an. "Glaubst du wirklich, ich hätte Angst vor dir?" Für einen Moment blinzelte Azriel verwirrt mit den Augen. Ein spöttisches Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. "Du hast ganz offensichtlich keine Ahnung, wer ich bin und was ich alles tun kann."
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