Kapitel 29 ❀ petite robe rouge
ALIÉNOR
Das Fest zu der Verlobung Briennes und Louis-Antoines war im vollen Gange, als ich eintraf. Der berühmte Spiegelsaal Versailles' war erfüllt von Stimmen; überall tummelten sich Adelige, Minister, Generäle und Staatsoberhäupter, und im Hintergrund spielte eine kleines Orchester.
Ich atmete noch einmal tief durch, bevor ich durch die offen stehende Tür über den teuren Marmorboden des Saals schritt. Einige Blicke zog ich dabei auf mich, die ich jedoch wenig beachtete. Lächelnd begab mich zu meinen Eltern, die in einer kleinen Sitzecke Platz genommen hatten und sich mit der Tante meiner Mutter und dem jüngeren Bruder meines Vaters unterhielten.
„Großtante Marie, Onkel Charles", begrüßte ich die beiden und versank in einem Hofknicks.
Meine Großtante Marie Antoinette war die Frau des verstorbenen Königs Ludwig XVI., die Mutter von Madame Marie-Thérèse' und somit die Großmutter Louis-Antoines. Als ehemalige Königin war sie lange Zeit beim Volk für ihre Verschwendungssucht unbeliebt, wenn nicht gehasst worden. Nun aber lebte sie nahezu minimalistisch. Ihr einziger Enkel war Louis XVII. selbst. Sie liebte ihn und kümmerte sich um ihre Großneffen- und Nichten ebenso.
„Aliénor, Liebes, das ist ja ewig her, seitdem wir uns das letzte mal sahen", lachte meine Großtante auf und machte auf dem goldfarbenen Sofa etwas Platz. „Wie ihr Name verspricht, strahlt sie heller als alles Licht in diesem berühmten Saal", spielte sie auf die Bedeutung meines Vornamens an. „Setz dich doch, Kind."
„Gerne", entgegnete ich freundlich und glücklich, sie endlich wiedersehen zu können. Sie trug zwar schon Kleidung, die seit vierzig Jahren nicht mehr aktuell war, doch sah sie mit ihren Anfang 60 nach wie vor sehr gepflegt aus.
„Ich hörte von deiner Mutter, du seist schon 16?", fragte sie sogleich weiter und ihre Augen musterten meine Toilette. „Du siehst schon so erwachsen aus."
„Genau, ich werde im Herbst 17 Jahre alt", sagte ich geschmeichelt.
„Und noch unverheiratet, wie ich hörte? Große Güte, da kannst du aber froh sein, Liebes. Ich wurde schon mit 14 verheiratet... doch das ist meiner Meinung nach definitiv zu früh", erklärte sie mir und nahm einen Schluck von ihrem mit Edelsteinen besetzten Kelch.
„Ich doch ebenso, Mutter", mischte sich nun Tante Marie-Thérèse mit einem spöttischen Unterton in das Gespräch ein. „Jeder kennt die Geschichte von Papa und dir."
Etwas irritiert sah Marie Antoinette zu ihrer einzigen Tochter. Auch ich merkte klar, dass wohl die Geschichte ihrer Eltern ihr selbst peinlicher zu sein schien, als denen selbst.
Tatsache war, dass Großeltern Louis-Antoines sieben Jahre miteinander verheiratet gewesen waren, ohne jemals miteinander den Geschlechtsakt ausgeführt zu haben. So hatte es ewig gedauert, bis sie Nachwuchs bekamen. Ihr jüngstes Kind starb noch, bevor er das zehnte Lebensjahr erreichen konnte; die anderen zwei als Säuglinge.
Man hatte es stets darauf geschoben, dass Louis-Antoines Großvater unfähig gewesen sei, Kinder zu zeugen und Marie Antoinette sich kaum um sie gekümmert hätte.
Stattdessen wussten viele aus unserer Familie, dass sie nie darüber hinweg gekommen war.
„Wie dem auch sei...", unterbrach ich die unangenehme Stille zwischen Mutter und Tochter. „Maman und Papa hielten es anfangs für das beste, auch Marie Brienne erst mit ihren 20 Jahren zu verheiraten. Politisch ging es uns ja stets gut."
„So finde ich das auch vollkommen richtig", stimmte mir meine Großtante zu. „Das habe ich auch Louis-Antoine gesagt. Er soll bloß nicht denken, er müsste seine zukünftigen Kinder mit deiner Schwester schnell verheiraten. Man muss versuchen, sie so lange wie möglich Kinder sein zu lassen."
Mein Lächeln gefror etwas, ehe ich an Briennes Worte über Louis-Antoine nachdachte. Tatsächlich hätte sie mir dies niemals sagen sollen. Denn nun verspürte ich kaum noch ein schlechtes Gewissen, wenn sich meine Gefühle für Louis-Antoines zu sehr in die falsche Richtung entwickelten.
„Möchtest du auch noch tanzen, Aliénor?", richtete die Madame schließlich das Wort an mich, sodass ich kurz zusammenzuckte. Ihr Gesichtsausdruck war eiskalt, doch erneut sah ich darüber hinweg. „Ja... ja, wieso nicht?"
„Zum Glück, ich habe eh keine Lust mehr hier herumzusitzen", bemerkte mein Vater grimmig und erhob sich, bevor meine Mutter ihm einen vorwurfsvollen Stoß in die Rippen geben konnte. Madame Marié-Thérèse blinzelte ungläubig - ihre Mutter musste sich wohl ein breites Grinsen verkneifen.
„Darf ich bitten?", forderte Papa mich schmunzelnd auf, und hielt mir seine Hand hin.
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Das Tanzen mit meinem Vater machte wie so oft unglaublich großen Spaß. Er war so schusselig und untalentiert, was das richtige Erkennen des Taktes oder das Einprägen der Schritte anging, dass er mir ständig auf die Tanzschuhe trat und sich bestimmt jede Minute mindestens fünf Mal entschuldigen musste.
Brienne und ihr Verlobter blendete ich auf der Tanzfläche nahezu aus, und sah so auch nicht, dass ihre Gesichter sich so nah waren, dass man von weitem glatt hätte glauben können, sie würden sich küssen.
Ab und zu glaubte ich seinen Blick auf mir ruhen gespürt zu haben, doch vollkommen sicher war ich mir nicht. Zu viele Pärchen dominierten die Fläche, und es hätte auch jemand anders sein können, dem er seine Aufmerksamkeit für einige Zeit geschenkt hatte.
„Ich will ja nichts sagen, aber deine Tante ist schon wirklich eigenartig... niemand macht Marie Antoinette noch einen Vorwurf. Ihr Enkel ist doch ein famoser Kaiser...", unterbrach Papa meine Gedanken und ein Seufzer verließ seine Lippen.
„Manchmal verstehe ich auch nicht ganz, weshalb sie so verbissen und frustriert ist... gut, sie hat ihren ganzen Geschwister sterben sehen und war während der Revolution eingesperrt... jedoch geht es ihr nun gut...", wisperte ich, sodass auch gar niemand mithören konnte.
„Aber dir scheint es wieder besser zu gehen, non?", fragte er neugierig, worauf ich zu ihm hochblickte. Ich nickte strahlend. Tatsächlich hatte er ins Schwarze getroffen. Ich hatte mich aufgerafft, und die schlechten Gedanken aus meinem Kopf verbannt.
Doch ich fragte mich immer mehr, ob ich mich nicht in Louis-Antoine täuschte... war er doch ein guter Mensch und ich war die einzige, die es nur nicht sehen wollte? Selbst Rafael, der ein gutes Gespür für Menschen und oft recht hatte, wenn er jemanden einschätzte, bestand darauf.
So hatte er auch von Anfang an Florentinas ersten Verlobten João von Portugal als unsympathisch enttarnt - und was war passiert? Er bevorzugte Männer und wollte Flora am liebsten die Klippe hinunterstürzen.
„Liegt es möglicherweise an diesem... Soldaten?", wollte mein Vater bemüht beiläufig wissen, sodass mir etwas flau im Magen wurde. „Wie heißt er noch gleich...?"
RAFAEL
Der Wind peitschte mir ins Gesicht. Es war ein ungewöhnlich kalte Nacht, in der ich die Grenze zu Spanien passierte. Fast einen ganzen Tag lang hatte ich auf dem Rücken meines Pferdes gesessen und meine Beine und mein Hinterteil drohten jeden Moment abzufallen. So beschloss ich, in einem nahegelegenen Wirtshaus nach einer Unterkunft für die Nacht zu fragen.
Als mir schließlich eines, das ebenfalls sehr gemütlich aussah, ins Auge sprang, freute ich mich schon auf ein deftiges Mahl und ein weiches Bett. Das Rauschen des Meeres erklang nach wie vor in meinen Ohren, als ich mein Pferd in den Ställen unterbrachte, und meine Geldbörse zückte.
Zum Glück hatte ich nicht durch die Pyrenäen reiten müssen. Schon nach Savoyen musste man erstmal die westlichen Alpen durchqueren und mit einem Pferd hätte sich das als ziemlich schwierig herausgestellt.
Das trockene Gras knackte geradezu unter meinen Füßen, während ich mich in Richtung der Tür des Wirtshaues begab. Gleich würde ich endlich wieder meine Muttersprache ungestört - und ohne irgendwelche eisigen Blicke auf mich zu ziehen - sprechen können.
Am Ende des Weges, der die Ställe mit dem Wirtshaus verband, entdeckte ich einige dunkle Gestalten, die auf mich zukamen. Schon die ersten Betrunkenen, dachte ich mir und machte mich bereit, einige Schritte zur Seite zu gehen. Doch als ich diesem Vorhaben nachging, taten es mir die drei Männer, dessen Gesichter ich nichts erkennen konnte, gleich.
Ich zog die Stirn kraus, als ich ihnen immer näher kam. „Ähm... ich möchte gerne hinein", erklärte ich ihnen auf Spanisch, doch die Männer reagierten nicht. Etwas Panik stieg in mir auf, als sie mich einzukesseln schienen. „Was wollen Sie von mir?", fragte ich weiterhin, die Angst in meiner Stimme unterdrückend.
Das letzte was ich sah, war wie etwas vor meinen Augen aufblitzte. Anschließend spürte ich, wie etwas langes, spitzes in meine Seite gestochen wurde. Schmerzvoll verzog ich mein Gesicht.
Dunkles Blut spritzte auf das verdorrte Gras.
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Übersetzungen
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( TITEL ) → Kleines rotes Kleid
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