Kapitel 20 ❀ désespéré


ALIÉNOR

In den letzten zwei Tagen hatte ich kaum jemanden zu Gesicht bekommen. Anfangs noch hatte ich in meinem Zimmer verweilt, da mir wahrscheinlich durch die ganze Aufregung nur schlecht gewesen war. Ab und zu waren meine Mutter oder meine kleine Schwester Pauline vorbeigekommen, um mir ein Stück Torte von der Feier zu bringen; ansonsten blieb ich anfangs aber die ganze Zeit lang alleine.

Inzwischen hatte ich mich zumindest beruhigt, und war der Ansicht, mir Louis-Antoine aus dem Kopf schlagen und ihn in Zukunft ganz normal behandeln zu müssen, sodass jeder von uns beiden die Sache schnell vergessen konnte.

Als der Tag sich dem Ende geneigt hatte und die Sonne bereits unterging, war zum Abendessen ausgerufen worden. Ich hatte beschlossen, mich nun wieder zeigen zu lassen. Vor der Gesellschaft hatte ich mich jetzt genug gedrückt.

Während des Abendessens hatte mir Rafael, der neben der Tür positioniert gewesen war, immer wieder besorgte Blicke zugeworfen. Ich hatte versucht, ihn irgendwo abfangen zu können, sodass wir miteinander reden konnten, doch es waren zu viele Menschen anwesend, um unbemerkt davonschleichen zu können.

Allgemein wollte ich mich nur auf Rafael konzentrieren. Schließlich hatte dieser es keineswegs verdient, dass ich neben ihn auch noch einen anderen Mann so gern mochte wie ihn; und außerdem wusste ich nicht, wie lange er noch hier sein würde, weshalb ich am besten so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen sollte.

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Auch bei den nächsten Mahlzeiten hatte ich mich stets nur mit Flora, Charles oder Papa unterhalten, nur damit ich irgendwie nicht zu Louis-Antoine und Brienne hinüberschauen musste, die sich immer wie zwei verliebte Turteltäubchen gegenüber saßen und die ganze Zeit über nur über Louis-Antoines Arbeit als Herrscher unterhielten.

Genervt musste ich feststellen, dass es Louis XVII. anscheinend gefiel, wie er von meiner Schwester schon nahezu vergöttert wurde.
Um nicht erneut wieder traurig zu werden, ließ ich mir immer wieder den Satz „So lange Brienne glücklich ist, bist du es auch" durch den Kopf gehen.

Einmal - es passierte am gestrigen Abend - hatte ich darauf gewartet, dass endlich alle mit dem Nachtisch fertig waren, damit ich mich in mein Zimmer zurückziehen konnte.

Etwa eine Stunde, die mir wie eine Ewigkeit vorgekommen war, hatte es gedauert. Als ich den Stuhl zurückschob, um endlich aus dem Saal verschwinden zu können, hatte ich noch nicht gewusst, dass man sich keineswegs erheben und gehen durfte, wenn der Kaiser noch zu Tisch saß.

Tante Marie-Thérèse hatte bloß mit dem Kopf geschüttelt, einige Worte über meine Unangebrachtheit in das Ohr meiner Mutter geflüstert, und Brienne hatte mich nahezu schon flehend angeblickt, um mir mitzuteilen, dass ich doch bitte bleiben sollte. Diese Geste hatte sie mit ihrer Hand, die sie auf die ihres Verlobten gelegt hatte, unterstrichen.

So verharrte ich bis zum Schluss zu Tisch, immer wieder den musternden, heimlichen Blicken des Kaisers von Frankreich ausgesetzt, die ich selbstverständlich nie erwiderte.

~*~

Dieser Tag sollte sich jedoch endlich abwechslungsreicher gestalten. Ein Ausflug mit den jungen Leuten der Familie in unsere Hauptstadt mit Museums- und Kirchenbesuchen stand auf dem Plan. Somit handelte es sich um Tätigkeiten, denen ich gerne nachging, würde nicht der kaiserliche Hof mitkommen.

Für uns waren das erste mal alle Wege, die wir einschlagen sollten, leer gefegt. Die Menschen, die in den Häusern normalerweise im Stadtinneren lebten, hatten andere Quartiere eingeschlagen.

Man fürchtete sich vor Abschlägn, wenn so viele Adelige und Monarchen auf einem Fleck waren. Zwar hatte man das bei uns stets für unnötig gehalten - das Volk liebte schließlich meine Familie -, doch in Frankreich war die Stimmung mindestens seit der Revolution 1789 angespannt und jeder Besuch könnte mit einem Attentat verbunden sein.

Es war etwa Mittag als wir mit der Kutsche am Accorsi-Museum ankamen. Dieses beherbergte wie erwartet keinen einzigen Besucher; nur der Inhaber begrüßte uns. Wir wurden durch die Galerien geführt, und konnten uns am Ende noch etwa eine Dreiviertelstunde lang eigenständig bewegen.
Ich entschloss mich, allein das Kunstmuseum zu erkunden. Florentina ging mit Charles, Brienne mit Louis-Antoine. Vor einigen Gemälden, Statuen oder Tonarbeiten blieb ich länger stehen, andere beachtete ich kaum, da sie mein Interesse nicht weckten.

Vor einigen Jahren waren wir ebenso hier gewesen. Deshalb wusste ich schon vorher, welche Kunstwerke ich mir noch einmal ansehen wollte.

Ich vernahm Schritte hinter mir, als ich ein Gemälde betrachtete, auf dem ein Engel zusammen mit einer jungen Frau durch den Himmel schwebte.
„Die Farben kombinieren sich wunderbar, findet Ihr nicht?" Louis-Antoine hatte sich angeschlichen.

Mein Herz schmerzte, als mir auffiel, wie sehr ich Rafael vermisste, der mich niemals in der Art und Weise behandelt und angelogen hatte. Warum hatte er nicht mitkommen können?

Normalerweise antwortete ich immer auf Bemerkungen, doch nun verbot ich es mir selbst. Er war der Verlobte meiner Schwester. Als mir Louis-Antoine Schmunzeln erneut in den Sinn kam, schloss die Augen. Alles, was er von sich gibt, sind Lügen, Aliénor.

Doch es brachte nichts. Der Kaiser stand neben mir und seine Gegenwart brachte mich aus dem Konzept.
Wieso war ich damals bloß von Briennes Geburtstag abgehauen und mit César ausgebüxt? Ich hätte am liebsten laut geflucht. Warum musste ich mir generell immer Ärger einhandeln?

Louis-Antoine, der gemerkt haben musste, dass ich nicht gewillt war, ihm zu antworten, wandte seinen Blick ab und widmete diesen erneut dem Bildnis.

Der männliche Engel hatte dunkle Locken, das blonde Mädchen hatte sich an seine nackte Brust geklammert. Ihre Gesichter waren sich sehr nahe, sodass man jeden Moment erwartete, dass sie sich sehnsuchtsvoll küssen würden. „Die Dame auf dem Gemälde ähnelt Eu-", setzte er erneut an, doch ich fiel ihm dieses Mal ins Wort, da ich nicht wollte, dass ihm die Worte über die Lippen kamen: „Ja, sie ähnelt meiner Schwester und der Herr ähnelt Euch, Majestät. Wie Recht Ihr habt."

Sein Blick traf den meinen. Schweigend sahen wir uns für einige Zeit an, dann drehte ich mich um, und ging den Gang weiter hinunter, auf der Suche nach einem anderen interessanten Einzelstück.

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Weiter ging es einige Zeit später in die wunderschöne Superga Kirche. Ich liebte Kirchen, ihren Geruch und die Geborgenheit und Ruhe, die diese ausstrahlten. Unser Schloss barg nur eine kleine Kapelle, in der wir beten konnten; doch in die gewaltige Kirche Turins kamen wir nur an Festtagen, zu Hochzeiten, Trauerfeiern oder Taufen.

Ehrfürchtig verschränkte ich die Hände ineinander und ließ mich auf einer Bank nieder, ehe ich in die Knie ging und begann ein leises Gebet zu murmeln.

Wie immer sprach ich für die Armen, die Unglücklichen und Verlassenen - nicht zu vergessen betete ich für meine Liebsten, eine gute Ernte und Frieden. Obwohl ich meine Augen geschlossen hielt, konnte ich Louis-Antoines Blick spüren. Als ich jedoch aufsah, wandte er sich schnell ab.

Während die anderen die Kirche weiterhin erkundeten, trat ich nach draußen ins Freie, um festzustellen, dass das Gotteshaus nach wie vor umstellt von Soldaten war.

Zur Beruhigung, die ich in der Kirche nicht hatte finden können, atmete ich die frische, wenn auch schwüle Luft ein. Es war tatsächlich ein sehr heißer Sommer in diesem Jahr.

„Ich muss zu Seiner Majestät. Ich gehöre zur Leibgarde des Kaisers!"

Eine altbekannte Stimme ließ mich gegen das Sonnenlicht blinzeln. Ist das tatsächlich Rafael? Ja, das ist er doch! Glücklich stellte ich fest, dass der Spanier versuchte, an den Soldaten vorbeizukommen, die ihn aufgrund seiner Kleidung, die er gegen seine normale Uniform wohl getauscht haben musste, und seines Akzentes nicht passieren ließen.

„Ja, genau, und ich bin Madame Marie-Thérèse von Frankreich", entgegnete eine Wache spöttisch.

Eilig hob ich mein Kleid an und begab mich zu meinem Freund. „Lasst ihn hindurch."
Überrascht wandten sich einige der Wachen zu mir. Fragend sahen sie einander an, unwissend, ob man auf mich, die zwar eine Prinzessin, aber keineswegs sehr erwachsen aussah, hören sollte. „Monsieur Álvarez gehört zu der kaiserlichen Leibgarde", sprach ich mit fester Stimme.

„Ich bin mir sicher, dass Seine Majestät, mein zukünftiger Schwager, nicht erfreut sein wird, wenn sein Vertrauter, der eine Nachricht für ihn besitzt, nicht durchgelassen wird."

Es war tatsächlich eigenartig, Louis-Antoine als meinen Schwager zu bezeichnen. Jedoch half es in diesem Falle Rafael, und das war das wichtigste.

„Na, wenn das so ist, lassen wir ihn selbstverständlich passieren, Euer Hoheit", haspelte die Wache, und sie ließen Rafael hindurch. Als wir uns viele Meter von den Soldaten entfernt hatten, zog ich den Spanier zu mir in eine Nische. „Gut, das war knapp. Wo warst du die ganze Zeit?"

„Ich wurde aufgehalten in eurem Schloss", erklärte er mir nach wie vor außer Atem. „Ein Botschafter kam an. Es gibt sehr viel Probleme mit dem spanischen König. Möglicherweise wird ein Krieg angezettelt."

Mein strahlender Gesichtsausdruck verblasste. „Oh nein..." - „Leider schon", entgegnete der Dunkelhaarige und drehte den Kopf, um zu kontrollieren, dass uns auch ja niemand beobachtete.

„U-Und was wirst du nun tun?" Voller Besorgnis nahm ich seine Hände in die meinen. Ich wusste sofort, was Krieg gegen Spanien für ihn bedeuten würde, und war jetzt schon erfasst von Mitleid - abgesehen davon, dass Krieg meiner Meinung nach ein nach wie vor egoistisches Verfahren war, das die Herrscher anführten, die Bürger und Bauer jedoch auszubaden hatten.
„Ich bin nun ein Franzose" entgegnete er. „Ich kämpfe dadurch notfalls gegen die Truppen meiner eigenen Leute."

„Wie schrecklich", bemerkte ich bitter, sodass Rafael sich erneut in der Umgebung umsah, bevor er meine Hand umschloss und diese zärtlich küsste.
„Ich bin nun hier, um zu verhindern, dass ich mich gegen meine Heimat stellen muss, und das tausende Menschen erneut ihr Leben lassen müssen. Ich werde nicht tatenlos zusehen, und dich wieder verlassen, das verspreche ich dir."





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Übersetzungen

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( TITEL ) Hoffnungslos

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