RAFAEL
Vorsichtig löste ich mich von ihren Lippen, bevor ich meine Augen öffnete und in die Hellblauen meiner eben wiedergewonnenen Liebsten schaute.
Wie lange hatte ich gewartet, sie wieder zu küssen und bei mir haben zu können? Ich liebte sie noch genauso sehr wie damals, als wir trotz unseres Altersunterschieds von fünf Jahren eine glückliche, wenn auch verbotene und äußerst kurze Beziehung von zwei Wochen geführt hatten.
Lächelnd verschränkte ich unsere Finger ineinander. „Das hat mir so sehr gefehlt."
„Aliénor? Aliénor? Bist du hier draußen?", hörte ich eine weibliche Stimme und blickte in Richtung Terasse. Auch die eben angesprochene wandte ihren Blick ab. „Ja, das bin ich!", rief sie zurück. „Warte, ich komme!" Und schon nahm sie mich an die Hand und zerrte sich mit sich.
„Warte, wohin gehen wir und wer war das?", fragte ich verdutzt nach, während ich fast über die Stufen stolperte. „Das ist Florentina, die Prinzessin von Neapel, die Gemahlin von Charles, und wir gehen jetzt tanzen", erwiderte sie gutgelaunt.
„Tanzen? Aber ich muss doch-"
„Wieso nicht? Damals war es doch auch immer in Ordnung, wenn wir zusammen Zeit verbracht haben, nicht? Außerdem bist du jetzt sogar der Kommandant der kaiserlichen Leibgarde und kein einfacher Soldat mehr, vergessen?", sagte sie grinsend, als wir die Stufen zur Terrasse hinaufgingen und an den Wachen vorbei den Ballsaal betraten.
Schmunzelnd seufzte ich in Gedanken verloren auf, während ich ihr zusah, wie sie graziös über den Tanzboden ging und mich zu ihrem Bruder und einem dunkelhaarigen Mädchen führte, das ich als Florentina wieder erkannte.
„Guten Tag, Rafael", begrüßte diese mich und ich konnte ihren leichten italienischen Akzent heraushören. Wie ich sprach sie kein perfektes Französisch. Jedoch schätzte ich ihre Fähigkeiten natürlich um einiges höher.
„Den wünsche ich Euch auch, Prinzessin. Schön, Euch wieder zusehen", ich verbeugte mich kurz ohne Aliénors Hand loszulassen. Diese sah uns verwirrt an. „Ihr kennt Euch?"
„Wir trafen uns doch damals hier im Schloss als ich während des Bürgerkrieges in Neapel hier war", erklärte die Italienerin Aliénor, die sich wohl erst nun wieder daran erinnern konnte, und lächelte mir zu.
„Daran kann selbst ich mich noch sehr gut erinnern", meldete sich Aliénors älterer Bruder Charles zu Wort und sah mich misstrauisch an.
Ich wusste ganz genau, dass er mich nicht mochte. Seitdem ich mich damals mit 19 Jahren in seine 14 Jahre alte Schwester verliebt hatte, schien er mich ganz und gar nicht in seiner und schon gar nicht in der Nähe seiner Schwester haben zu wollen. Wahrscheinlich war er ein bisschen eifersüchtig auf mich und fand keinen Gefallen an meinem spanischen Temperament, wie Aliénor es immer ausgedrückt hatte.
Solange er nur nicht uns auseinander brachte, war aber alles gut - schließlich wollte ich keinen Konflikt mit einem Prinzen und zukünftigen Monarchen.
Auch, dass Florentina mich freundlich begrüßt hatte, schien ihm ein Dorn im Auge zu sein. Noch zu gut erinnerte ich mich daran, wie ärgerlich er schon vor ihrer Verlobung ausgesehen hatte, als er mich in der Nähe der Prinzessin gesehen hatte.
„Ach, genau, jetzt erinnere ich mich", erwiderte Aliénor und lachte. „Wir beide haben an dem Abend so viel getanzt, weißt du noch?" Daraufhin wandte sie sich zu mir und setzte ein strahlendes Lächeln auf: „Apropos Tanzen - möchtest du?"
ALIÉNOR
Als Rafael und ich auf der Tanzfläche erschienen, begann gerade ein ruhiger Walzer, und entspannt tanzte ich mit meinem Soldaten über das kompliziert angeordnete Parkett, während ich mich wie auf Wolke-Sieben fühlte. Mit ihm zu tanzen ließ mich die Welt um uns herum vollkommen vergessen - alles erschien mir so leicht.
Nach ein paar Runden verließen wir erschöpft die Tanzfläche und gesellten uns zu meinen Eltern, die immer noch auf ihren edlen Sesseln saßen. Meine Mutter trank gerade etwas Tee, während mein Vater gelangweilt sich an seinen vergoldeten Lehnen festhielt und der Menge beim Tanzen zuschaute.
„Maman, Papa", begrüßte ich die zwei, worauf die beiden aufblickten und Rafael augenblicklich musterte. „Oh Aliénor, Liebes, du bist wieder da", bemerkte meine Mutter lächelnd. „Und wie ich sehe, auch Rafael Álvarez!" Sie setzte ihre Porzellantasse zurück auf die dazugehörige Untertasse, ehe sie ihren Mann anstupste.
„Äh... wie bitte?", sagte mein Vater irritiert. „Oh, ach so... guten Abend Aliénor, guten Abend, Rafael", begrüßte er uns nun auch und rieb sich kurz müde die Augen.
Meine Mutter warf ihm einen vielsagenden Blick zu, als Rafael in seiner Verbeugung verharrte: „Ihre Hoheiten."
„Sagt mal, wisst ihr wo Brienne ist?", fragte ich die beiden, um von der Situation abzulenken und da mir auffiel, dass meine ältere Schwester sich gar nicht mehr im Saal aufhielt. Auch der Kaiser von Frankreich schien nirgends zu sein.
„Ach, Marie Brienne hat sich mit dem Kaiser zurückgezogen. Die zwei sind eben, bevor ihr den Saal betreten habt, für eine kurze Zeit ins Nebenzimmer gegangen. Sie wollen sich etwas mehr kennenlernen", erläuterte meine Mutter, worauf den Kopf schief legte: „Kennenlernen?"
„Ja, leider", murmelte mein Vater, worauf er einen Stoß von meiner Mutter in die Rippen bekam. „Ja, die beiden wollen sich schließlich höchstwahrscheinlich verloben", antwortete meine Mutter, nachdem sie ihren Blick von ihrem Ehemann abgewendet hatte.
„Das ist ja schön", meinte ich daraufhin heiter und sah aus den Augenwinkeln zu Rafael, der ebenso seine Glückwünsche aussprach.
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Nachdem wir uns wieder von meinen Eltern verabschiedet hatten, holten wir zwei uns eine Kleinigkeit beim Buffet und gingen uns gegenseitig ärgernd durch den restlichen Abend. Vollkommen zufrieden tanzten wir zum Schluss noch zu einem langsamen Walzer, während wir wieder nicht unsere Augen voneinander lassen konnten.
Neben ihm fühlte ich mich so wohl. Die ruhige Musik und seine Anwesenheit entspannte mich einfach nur und ich war durch und durch glücklich.
Den charmanten Comte de Grado hatte ich jedoch dabei schon vollkommen vergessen. Und um ehrlich zu sein, wollte ich auch in diesem Moment nur Rafael bei mir haben.
LOUIS - ANTOINE
„Schließen Sie doch bitte die Tür, Alexandre", teilte meine baldige Verlobte dem Diener des Hauses mit, worauf dieser sich verbeugte, nickte und mit gesenkten Kopf den kleinen Raum, welcher sich neben dem Ballsaal befand verließ. Die Musik drang durch die Wände immer noch zu uns durch und nervös dachte ich daran, was wohl passieren würde, wenn ich Aliénor treffen würde.
Was sollte ich ihr sagen? Und was würde Marie Brienne sagen, wenn sie dahinter kam? Schließlich war ich der Kaiser, und wir waren so gut wie verlobt; es wäre eine Katastrophe, wenn ans Licht kam, dass ich mich mit einer Anderen getroffen hatte.
„Schön, Euch endlich richtig kennenzulernen, Euer Majestät", meinte sie lächelnd, nachdem sie sich zu mir gewandt hatte.
„Nennt mich doch bitte Louis-Antoine oder Louis. Es ist schon ewig her, seitdem wir uns, dass erste Mal gesehen haben. Es ist nun etwa zwei Jahre her, nicht?", erwiderte ich ebenfalls höflich lächelnd und lehnte mich zurück in den Sessel.
„Bestimmt. Es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen..." Verträumt schaute sie mich an, was mir irgendwie ein komisches Gefühl in der Magengegend verschaffte.
Es lag nicht daran, dass ich sie als so abstoßend empfand, sondern dass ich einfach ein eigenartiges Gefühl bekam, weil sie mir mit ihren Worten so nahe kam und mich dazu auch noch ununterbrochen verträumt anblickte.
Normalerweise war ich so etwas ja gewohnt, aber in dem Fall könnte die Frau vor meinen Augen schon bald meine Bettgenossin sein.
„Ihr seid sehr hübsch geworden", führte ich das Gespräch fort, da wir beide etwas unbeholfen schienen. Worüber sollte man schließlich auch reden, wenn man sich - ohne sich richtig zu kennen - bald verloben sollte.
„Danke sehr", entgegnete sie und ein leiser Seufzer verließ ihre Lippen. Nach wie vor schaute sie mich durchgängig an.
Erneut herrschte Stille. Mir musste irgendetwas einfallen, woraus ich ein Gespräch entwickeln konnte...
Als hätte man sie gerufen, wurde plötzlich die Tür geöffnet und meine Mutter, die Madame von Frankreich, schritt herein. Sofort erhoben Marie Brienne und ich uns.
„Wie ich sehe, versteht ihr zwei euch ja gut", bemerkte sie lächelnd und klappte ihren Fächer zusammen, nachdem sie uns zwei gemustert hatte.
„Falls Ihr euch mit eurem Sohn alleine unterhalten wollt, werde ich sofort gehen", sprach die Blondine neben mir und verbeugte sich vor meiner Mutter. Von der Seite betrachtete ich sie. Sie hatte dieselben hellblonden und feinen Haare wie ihre jüngere Schwester. Bloß trug sie stets eine komplizierte Hochsteckfrisur, die sie sehr streng aussehen ließ. Aliénor hingegen, die ich mit offenen Haaren kennengelernt hatte, würde sicherlich auch mit dieser Frisur heiterer aussehen.
Zudem übertraf ihre Schönheit in meinen Augen niemand. Nicht einmal ihre ältere Schwester.
Hätte ich doch vor einigen Tagen über das ganze Tal geschrien, dass ich in Wirklichkeit der Kaiser von Frankreich war. Nur, weil ich sie nicht abschrecken wollte, hatte ich die Notlüge weiter aufrecht gehalten. Nun hatte ich Angst, sie würde sich, nachdem sie die Wahrheit erfahren hatte, augenblicklich von mir abwenden. Sie wusste nun, dass sie eine der ehrlichsten Personen war, die ich kannte - sie würde mich hassen.
Ich kam mir vor wie ein Weichei.
„Das wäre sehr freundlich, Marie Brienne", lächelte meine Mutter und nickte kurz, ehe diese sich mit gesenktem Kopf und einem letzten Zwinkern zu mir verabschiedete und den Raum verließ.
„Ist sie nicht reizend?", fragte meine Mutter nach einiger Zeit und setzte sich entspannt auf den vergoldeten Sessel, auf dem Marie Brienne noch vor ein paar Minuten gesessen hatte.
„Ja, sie ist sehr hübsch", meinte ich nachdenklich. Meine Gedanken waren immer noch bei ihrer Schwester.
„Und dazu gebildet, höflich und anmutig", bemerkte meine Mutter weiter.
„Sie hat alle Vorraussetzungen, die deine zukünftige Ehefrau und Kaiserin erfüllen muss. Zudem wird eure Heirat den hundertprozentigen Frieden zwischen Frankreich und Savoyen-Piemont besiegeln, und uns ein Kriegspartner sein. Auch wenn dieses Land arm ist, hat es zumindest ein Militär."
Langsam nickte ich und sah, wie sie die Lippen schürzte. Ob es aufgrund ihrer Abneigung gegenüber des Landes war, oder ob ihr aufgefallen war, dass etwas nicht stimmte, wusste ich nicht. „Stimmt etwas nicht, Louis-Antoine? Bist du etwa nicht meiner Meinung?"
Seufzend rieb ich mir die Augen und gab ehrlich zu: „Ich weiß nicht, ob die Prinzessin die richtige für mich ist, Mutter."
„Nicht die richtige?", wiederholte sie, wobei ich heraushören konnte, wie entsetzt sie war. „Mon dieu, du musst an dein Land denken! Den dieses braucht eine hübsche, gebildete Frau, die ein Vorbild für das Volk, dir eine Gefährtin sein - und ein Thronerben gebären soll!"
„Das weiß ich, bloß... Mutter, ich würde lieber ein anderes Mädchen heiraten." - „Eine Andere? Nun gut, wer schwebt dir denn vor?" Sie zog eine Augenbraue hoch und wartete gespannt auf meine Antwort.
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Übersetzungen
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( TITEL ) → Walzer und Gespräche
( mon dieu! ) → Mein Gott!
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