Kapitel 10 ❀ dispute


ALIÉNOR

„Aliénor, wir wollen mit dir reden", sprach meine Mutter ernst und schloss die weiß-goldene Tür nach draußen hinter sich, ehe sie sich mit meinem Vater auf dem roten Sofa im Salon niederließ.
Ich nickte bloß beschämt mit dem Kopf und seufzte leise auf.

„Wie wir von deiner Schwester erfahren haben", begann meine Mutter sogleich ungeduldig. „... hast du dich heute Morgen - ohne uns zu benachrichtigen und dazu auch noch ohne irgendeine Begleitung - in den Wald begeben, obwohl am heutigen Tage der Geburtstag deiner Schwester ist. Daraufhin hast du dich mit einem Mann, den du während deines Ausritts getroffen hast und der sich vor dir als Comte ausgeben hat, unterhalten und bist anschließend über eine Stunde weggeblieben. Entspricht dies der Wahrheit?"

Ich nickte und sah auf meine Hände herab. „Und nachdem Brienne dir ausdrücklich erklärt hat, dass es zu gefährlich ist, erneut in den Wald zu gehen und dich eingeschlossen hat, bist du durch das Fenster gestiegen, um auszubrechen?", wollte mein Vater wissen und sah dabei so interessiert aus, dass meine Mutter ihm wütend einen leichten Stoß in die Seite gab.

„Ja... verzeiht mir, dass ich zu spät kam. Ich habe die Zeit vergessen und es wird nicht noch einmal vorkommen!"

„Aliénor, versteh' doch", seufzte meine Mutter und rieb sich die Schläfe. „Wir machen uns doch nur Sorgen um dich. Zudem bist du eine Prinzessin, du hast bestimmte Pflichten, denen du nachgehen musst. Du kannst doch nicht immer in der Weltgeschichte herumreiten..."

„Sie hat es verstanden, Marie. Wiederum macht sie das doch oft und niemanden interessiert es", erklärte Papa achselzuckend. „Sie ist doch noch jung."

„Jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken! Sie ist fast 17 Jahre alt!", fauchte meine Mutter. „Und damit..."

„... schon längst heiratsfähig... jaja", beendete Papa ihren Satz und verdrehte die Augen. „Du warst zwar schon 18, als du mich geheiratet hast, aber unsere älteste zählt nun auch schon bald 19 Jahre - die Zeiten haben sich geändert, Schatz."

Ungläubig blickte sie ihren Gatten an und ich entschloss mich, erst einmal nichts dazu zu sagen, die ich merkte, dass Maman ihm ganz und gar nicht zustimmen würde.
„Nur, weil wir bei Marie Brienne so lange gewartet haben, heißt es lange noch nicht, dass jedermann so denkt", feuerte sie ihm leise entgegen, sodass die Gesellschaft draußen es auch ja nicht mitbekam.

„Es schickt sich nicht, egal, wie sehr die umlegenden Bürger und Bauern Aliénor aufgrund ihrer Offenheit mögen. Außerdem waren wir uns doch klar, dass Gespräche mit wildfremden Männern verboten sind."

„Ja, ich weiß", stimmte Papa ihr schließlich zu und sein Blick fiel nahezu mitleidig auf mich. „Dann sag es ihr."

„Was sagen?", wollte ich verblüfft wissen und meine Nackenhaare stellten sich ängstlich auf, obwohl es in dem Salon so stickig war.

„Du darfst nicht auf den Ball zu Ehren deiner Schwester gehen. Wir werden sagen, dass du dir eine Grippe eingefangen hast", entgegnete meine Mutter streng und mir klappte die Kinnlade vor Empörung nur so hinunter: „Aber..." Flehend sah ich meinen Vater an, der nur traurig einen Mundwinkel in die Höhe zog.

„Aliénor." Die Stimme meiner Mutter wurde plötzlich wieder sehr sanft und sie ging einen Schritt auf mich zu, um meine Hände in die Hand zu nehmen. „Wir wollen nur, dass du es dadurch verstehst. Du bist bald erwachsen. Und deine ältere Schwester weiß nunmal eher, was gut und was schlecht für dich ist."

Ich presste meine bebenden Lippe aufeinander, während meine Augen drohten wässerig zu werden. Nicht nur, dass ich meinen neu gewonnenen Freund nicht sehen, machte mir zu schaffen - auch hatte ich mich gefreut, endlich Rafael wieder zu treffen. Alles zerplatzte gerade wie eine Seifenblase vor meinen Augen.

Ich versuchte, mich so gut es ging zusammenzureißen. „Verstehe", erwiderte ich schließlich beklommen. „Ich gehe dann mal zurück an die Arbeit. Ich muss noch meine Spanisch- und Italienisch-Vokabeln auffrischen und die Tischregeln auswendig lernen."

Mit diesen Worten hob ich mein Kleid an und eilte zu der Tür, die mir von einigen der Bediensteten geöffnet wurde.

Entmutigt, irgendetwas zu tun, schritt ich langsam die große Haupttreppe hinauf zum ersten Stock, in dem meine Schwestern und ich unsere Gemächer hatten.

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Auf dem Weg dorthin begegnete ich meinen älteren Bruder Charles, der mich erst verwundert, dann aber mitleidig ansah. „Du weißt wahrscheinlich, was ich eben erfahren habe, oder?"

Ich bekam ein Nicken seinerseits, und da ich wohl so traurig aussah, nahm er mich in den Arm. „Aber du musst sie verstehen", sprach er mir zu. „Auch wenn ich selbst es gar nicht so schlimm finde. Wenn er ein Comte sein sollte, wird er wahrscheinlich ein stattlicher Mann gewesen sein."

„Das war er", stimmte ich ihm zu und genoss einige Zeit die Innigkeit unserer Umarmung, die ich selten von ihm bekam. Meistens hatte er nämlich zu tun und war genervt, da ich schon in jungen Jahren immer um ihn herum getänzelt war. Mit 16 Jahren schon sehr erwachsen, hatte er es geradezu gehasst, dass ich als 11-jährige ihn ständig fragte, ob wir nicht zusammen Verstecken spielen wollten.

Wenn ich jedoch wirklich resigniert war, war er stets für mich da gewesen. „Ich rede noch einmal mit Papa und Maman, gut?", entgegnete er plötzlich. „Vielleicht kann ich ja etwas ändern."

Bitter lächelte ich ihm zu. „Und wie willst du das anstellen? Vor allem Maman war sich ihres Plans sehr sicher."

Er zuckte bloß mit den Schultern und gab mir einen kleinen Kuss auf die Stirn. „Ich werde einfach sagen, dass es eine gute Möglichkeit sein wird, neue Leute kennenzulernen und dich in die Gesellschaft einzugliedern. Maman und Tante Marie-Thérèse würden es doch am liebsten sehen, wenn du eine gute Partie machen würdest. Und du doch sicherlich auch, oder, ma petite sœur?"

„Ja, schon...", wich ich aus, wobei mir Charles wohl anmerkte, dass ich nicht allzu begeistert war.

„Du musst ja nicht sofort jemanden heiraten. Du weißt doch, dass unsere Eltern uns im Endeffekt viele Freiheiten in dem Punkt geben. Schau dir mich an..." Er zwinkerte mir zu und ich lächelte schwach. „Ja, da hast du recht."

„Na siehst du: Du hast schon wieder ein Lächeln auf den Lippen. Also nehm's nicht so schwer. Auch nicht, was unsere Tante angeht", muntere er mich weiterhin auf.

„Hast du morgen Zeit, mit mir auszureiten, Charles?", fragte ich noch hoffnungsvoll nach, als er sich bereits von mir entfernte. „Morgen noch", rief er mir schmunzelnd zurück. „Aber ab übermorgen ist Florence schon wieder da... da bin ich also leider ausgebucht."
Ein Grinsen zierte meine Lippen, als mir die beiden in den Sinn kamen, und ich winkte ihm nach, bis er hinter der nächsten Ecke verschwunden war.






♔ . ♔ . ♔

Was haltet ihr von Aliénors Tante?



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Übersetzungen

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( TITEL ) Streit
( Ma petite sœur ) Meine kleine Schwester

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