Kapitel 09 ❀ rêvereuse


ALIÉNOR

Nachdem ich die rote Rose vorsichtig in eine kleine, schlichte Porzellanvase gesteckt und noch einmal ihren unbeschreiblichen Duft eingeatmet hatte, ließ ich mich zurück in die Kissen meines Himmelbetts sinken und schloss meine Augen.

Geschafft. Ich hatte es tatsächlich geschafft, unentdeckt erneut über meinen Balkon zurück in meine Räumlichkeiten zu gelangen. Heute hatte ich echt ein unglaubliches Glück gehabt - abgesehen davon, dass Brienne mich eingeschlossen hatte.

„Ich würde auch gerne länger mit Euch hier sitzen, aber auch ich muss fort", hatte er mir erklärt und seine Handschuhe übergestrichen, nachdem ich zu dem Schluss gekommen war, dass es nun wieder Zeit war, mich auf dem Weg zurück nach Valençay zu machen.

„Aber wir sehen uns morgen Abend auf dem Ball, nicht?", hatte ich hoffnungsvoll entgegnet. Ich lauschte seinem gleichmäßigen Atem und den zwitschernden Vögeln, während er nach wie vor ins Tal blickte: „Selbstverständlich."

Für die Zeit darauf war es mir so vorgekommen, als hätte ihm etwas auf dem Herzen gelegen. Wir hatten uns formal verabschiedet und ich hatte den Weg zum Schloss allein eingeschlagen, auch wenn Comte Lorenzo etwas mulmige zumute sein schien, dass ich alleine das Dorf, das an unsere Anlage grenzte, passieren würde.

Doch wie ich ihm prophezeit hatte, verließ alles auf meinem Weg glatt. Ich kannte einige der Bauern, grüßte sie freundlich und half einem kleinen Jungen sogar dabei, ein ausgebüxtes Ferkel einzufangen.

Ich lächelte, als ich daran dachte, wie flink dieses kleine Tier gewesen war. Träumerisch sah ich mich etwas in meinem Zimmer um und saß plötzlich kerzengerade in meinem Bett, als mein Blick auf die goldene Standuhr auf meinem Nachttisch fiel.

Es war Fünfzehn Uhr 51. In neun Minuten sollten der Kaiser und seine Familie eintreffen, und meine Haare waren nicht zusammengesteckt, ich trug nur ein einfaches Kleid und kaum Schmuck am Leibe.

Einen deutsches Schimpfwort fluchend erhob ich mich und begann mich in Windelseile auszuziehen. Da ich mein Korsett bereits trug, war es ein Leichtes ein Kleid allein überzuziehen, doch zum Schließen brauchte ich Hilfe...

Meine Haare versuchte ich hingegen zu bändigen, indem ich die durch den Wind noch zerzausteren Locken kämmte und sie anschließend zu einem einfachen Dutt zusammenband. Um die Frisur etwas origineller aussehen zu lassen, befestigte ich einige Blümchen im Haar.
Zum Schluss legte ich mir das Diamanten-Kollier meiner Urgroßmutter um, tupfte etwas rosafarbene Farbe auf meine Lippen und sprintete - soweit es mit diesem weiten und aufwendig geschneiderten Kleid möglich war - zur Tür.

Keuchend hechtete ich durch die Gänge des Schlosses und hörte schon wie die Gäste angekündigt wurden: „Ihre kaiserliche Hoheit, Madame Marie-Thérèse von Frankreich."

Nein, nein, nein. Meine Tante war bereits da und ich war zu spät. Meine Mutter würde mir den Kopf abreißen. Ich durchquerte den Salon meiner Eltern, indem ich zum Glück eine Zofe meiner jüngeren Schwester auffand. „Bitte...", stammelte ich leise und deutete auf meinen Rücken. „Könnten Sie mir mein Kleid verschließen?"

„N-Natürlich, Hoheit", entgegnete die Bedienstete überrascht und knöpfte mir eilig das Gewand zu, sodass ich - ganze acht Minuten zu spät - völlig aus der Puste im Gartensaal ankam, worauf sich alle zu mir umdrehten. Sofort stellte ich mich ordentlich hin, strich kurz mein Kleid glatt und eine Strähne aus dem Gesicht.

„V-Verzeihung", sagte ich schweratmend und schaute in die vielen bekannten, aber auch unbekannten Gesichter.
Meine Mutter schien fast in Ohnmacht zu fallen, mein Vater gluckste, Brienne schloss ungläubig die Augen, Charles schmunzelte, und Tante Marie-Thérèse stand zusammen mit einigen Ihrer Hofdamen bloß daneben und schüttelte enttäuschst mit dem Kopf.

Nachdem erst nichts geschah, versank ich schnell in einem tiefen Hofknicks. „Tante Marie-Thérèse."

Mon dieu, Liebes, kommst du immer zu spät?", wollte meine Tante zweiten Gerades wissen, und zeigte mir mit einer einfachen Handbewegung, dass ich mich wieder aufrichten könne. Ihre rotbraunen Haare, die gut zu ihren rotgrünen Augen passten, waren streng zu einem Dutt gebunden und ihre definierten Gesichtszüge ließen sie irgendwie bedrohlich wirken.

„Ähm...", stotterte ich und schaute irritiert zu meinen Vater, der bloß mit den Schultern zuckte. „Ab und zu."

„Als Prinzessin sollte man niemals, aber wirklich niemals unpünktlich sein", erwiderte sie unterkühlt und hielt sich ihren Fächer anmutig vor die Brust, um mir zu zeigen, dass sie im Gegensatz zu mir eine vorzügliche Prinzessin verkörperte.

„I-Ich weiß", teilte ich ihr mit und nickte kurz, ehe meine Mutter einsprang und schnell das Thema wechselte: „Wollen wir uns nicht etwas auf unsere Terrasse setzen, während wir auf den Kaiser warten?"

„Der Kaiser wird diesen Tag nicht mehr eintreffen", antwortete sie auf die Frage ihrer Cousine und ich fragte mich, warum sie ihren Sohn nicht per Vornamen ansprach.

„Er kommt nicht?", unterbrach ich die beiden interessiert.
Madame Marie-Thérèse wandte sich erneut zu mir: „Nein, er wird heute Nachmittag nicht mehr eintreffen. Seine Majestät hält sich noch in Turin auf und wird erst übermorgen zum Ball erscheinen, da sich hier in Savoyen einige Unannehmlichkeiten ergeben haben, die er noch zu klären hat."

Erst jetzt bemerkte ich auch, dass der Kaiser gar nicht unter uns verweilte. Zuvor war ich zu sehr durch Wind gewesen, um alle Personen richtig wahrzunehmen.

Mit einem letzten kalten und leicht abschätzigen Blick, drehte meine Tante sich zu meiner älteren Schwester und nahm sie am Arm, um sie lächelnd durch die bereits offene Terassentür nach draußen zu begleiten.

Seufzend wartete ich, bis der Rest des französischen Hofstaats sich draußen befanden, bevor ich der Gesellschaft folgen wollte.
Jedoch stellten sich mir meine Eltern - meine Mutter mit verschränkten Armen und vor Erschöpfung und Wut angespannten Gesicht, und mein Vater mit einer bemüht wütenden Miene, die eher aussah, als würde er mich gleich wieder in die Arme nehmen - in den Weg.

Und auch wenn ich normalerweise in solchen Momenten aufgrund meines Papas geschmunzelt hätte, schaute ich beschämt zu Boden, wissend, was mich nun erwarten würde.

~*~

RAFAEL

Blinzelnd sah ich an den steinernen Palais royal der Hauptstadt des Herzogtums herauf und wartete darauf, dass der Kaiser von Frankreich zu seiner Kutschte bewegen würde. Normalerweise war dieses Schloss, in dem wir uns befanden, die Hauptresidenz des Herrschers. Jedoch zog es Herzog Louis II. vor, mit seiner Familie in einem romantischen Schlösschen in der Natur zu leben.

Nun beherbergte es einen noch mächtigeren Mann, der Mann, der aus einem Grund, den niemand recht wusste, immer noch in der Hauptstadt blieb, stattdessen sich mit seiner Mutter zu seiner Verwandtschaft zu begeben.

Und dabei war dies der Moment gewesen, auf den ich schon lange gewartet hatte. Endlich wieder Valençay und vor allem sie wiederzusehen.

Mein Herz vor Aufregung pochend fühlte ich in meiner Brusttasche, ob der Brief, den ich ihr geschrieben hatte, sich auch ja am richtigen Platz befand. Wahrscheinlich hatte sie mich schon längst vergessen - was ich ihr natürlich nicht übel nahm. Vielleicht planten ihre Eltern schon eine Vermählung mit irgendeinem Adeligen oder sie hatte sich selbst einen Ehegatten ausgesucht.

Selbst heute erinnerte ich mich noch an die eigenständigen Worte, die sie ihren jüngeren Schwestern erzählt hatte: „Wenn euch jemand zu etwas zwingen möchte, was euch - egal wie, aber glasklar - verletzen wird, dann müsst Ihr euch immer wehren."

Ich blickte auf, als die mächtige Eingangstür geöffnet wurde und ein Bote herauskam, der sich geradewegs zu den Ställen aufmachen wollte. Versuch es doch einfach, sprach ich mir selbst Mut zu, und so folgte ich dem jungen Mann, der etwa in meinem Alter sein sollte. „Ähm, warten Sie... reiten Sie zum Schloss Valençay?"

Er drehte sich um und erschrak beinahe, als er mich erblickte. Wahrscheinlich hatte ich wieder etwas zu euphorisch gewirkt. „J-Ja, Monsieur, weshalb?"

„Ich... Moment..." Ich kramte den kleinen Brief heraus, der bereits an Aliénor adressiert war, und reichte diesen ihm. Er las sich ihren Namen auf dem Covert durch. „Wenn Ihre Hoheit nicht da sein sollte, geben Sie ihm am besten Ihrer Schwester, der Prinzessin Marie-Brienne", erklärte ich ihm hastig, als ich seinen irritieren Blick bemerkte. „Es ist bloß ein Schreiben von einem alten Bekannten."

„Und wieso sollte ich das abgeben?", fragte der Bote plötzlich schroff und hielt mir das Schreiben wieder hin. Kurz sah ich ihn ungläubig an, bemerkte dann aber, dass wohl oft Briefe an die hohen Adeligen geschrieben wurden und natürlich nicht jede Kleinigkeit bei diesen ankam.

„Nun gut." Ein Seufzer verließ meine Lippen und ich holte die zwei Livres heraus, die sich noch in meinen Taschen befanden. Prüfend sah der Bote auf die Münzen herab und nickte schließlich: „Gut, ich mache es."

„Ich danke Ihnen", erwiderte ich tatsächlich ehrlich und lief zurück zu meiner Position, ehe ich mich wieder aufrecht hinstellte. Zwar war das Geld für mein Mittagsmenü nun nicht mehr vorhanden, doch wenigstens würde der Brief bei Aliénor ankommen.
Er musste es einfach. Ohne diesen bestand nämlich keine Möglichkeit sie zu treffen.






♔ . ♔ . ♔

Was haltet ihr von Aliénors Tante?



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Übersetzungen

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( TITEL ) Verträumt
( mon dieu! ) Mein Gott!
( Livre ) Währung, 1 Livre entspricht etwa 10€

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