ALIÉNOR
Verzweifelt fuhr ich mir durch die Haare. Nicht nur, dass ich höchstwahrscheinlich zu spät oder gar nicht zu dem Treffen mit dem mysteriösen Comte erscheinen würde, machte mir Sorgen - auch noch die Folge, dass ich hier drin gefangen war, machte mir zu schaffen. Ich hasste es eingeschlossen zu sein.
Jedoch besaß nun Brienne den einzigen Schlüssel für meine Zimmertür, weshalb der Ausbruch durch den normalen Eingang schonmal wegfiel. Nach kurzer Überlegung, fiel mir somit nur ein Weg ein: Der Balkon.
Schluckend drückte ich die vergoldete Klinke zu diesem herunter und öffnete somit die Glastür. Nach ein paar Schritten war ich am Geländer angekommen und schloss schweratmend meine Finger um das edle Geländer. Da mein Zimmer im ersten Stock war, konnte ich problemlos vom Balkon steigen, jedoch musste ich auf die Erhöhung darunter klettern und daraufhin auf den Pflasterstein springen.
Normalerweise würde selbst ich so etwas nicht tun, doch ich brach niemals meine Versprechen - schon gar nicht, wenn man es vermeiden könnte.
Schnell schlüpfte ich noch in den rechten Ärmel meinen Kleides und überprüfte, ob alles saß. Zuletzt atmete ich nochmal schnell ein und aus, ehe ich ein Bein über das Geländer setzte. Das zweite folgte.
Anschließend hielt ich mich mit den Händen an den Steinsäulen des Geländers fest und setzte vorsichtig meine Füße auf die Erhöhung.
„Puh", atmete ich erleichtert auf. Um einmal kurz zu kontrollieren, dass mich auch ja niemand beobachtete, schaute ich mich prüfend um. Doch alle Wachen in den Nähe waren mit dem Rücken zu mir gedreht und meine Familie saß wahrscheinlich im Garten und plante den Geburtstag meiner Schwester.
Mit pochendem Herzen nahm ich letztendlich meinen ganzen Mut zusammen und sprang.
~*~
LOUIS - ANTOINE
Mit geschlossenen Augen saß ich unter einer Eiche und spielte ein paar Melodien auf meiner Mandoline, während mein Pferd auf einer Wiese graste. Die Sonne schien über meinem Kopf und die frische Waldluft war unglaublich angenehm.
Ich liebte es - wenn ich nicht gerade mit Regieren, Unterhaltungen mit Staatsmännern oder Lesen von Dokumenten, Anzeigen oder Büchern beschäftigt war - in meiner Freizeit auf dem altertümlichen Zupfinstrument zu spielen. So eine Art von Ablenkung hielt meine Mutter, die Madame von Frankreich, zwar für eine etwas zu feminine Beschäftigung, doch mein Selbstbewusstsein war groß genug, diese Bezeichnung mir nicht zu Herzen zu nehmen.
„Ihr spielt Mandoline?"
Die engelsgleiche Stimme meiner Cousine ließ mich zusammenzucken, sodass ich mein Instrument zur Seite legte und mich augenblicklich aufrichtete.
„Prinzessin Aliénor", stellte ich, obwohl ich ihre Ankunft erwartet hatte, etwas zu aufgeregt fest, verbeugte mich und berührte mit meinen Lippen kurz ihre ausgestreckte Hand.
„Es tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin. Es gab... Unangenehmlichkeiten", teilte sie mir lächelnd mit und überrascht musste ich feststellen, dass sie ihre Haare vollkommen offen trug.
Mein Blick schien ihr aufzufallen, sodass sie sogar etwas beschämt eine hellblonde Strähne hinter ihr Ohr steckte: „Ich hatte leider wenig Zeit, meine Haare herzurichten."
Bevor ich etwas erwidern konnte, begann sie jedoch über sich selbst zu lachen: „Was Sie wohl von mir denken müssen... erst reite ich allein aus und jetzt trage ich meine Haare offen, als gehören Sie zu meiner engsten Familie."
Oder als wäret Ihr meine Gemahlin..., kam es mir in den Sinn. Obwohl unsere Verwandtschaft gar nicht so eng verlief, wurde mein Mund bei ihrem Vergleich etwas trocken.
Bei adeligen oder aristokratischen Mädchen und Frauen gehörte es sich auf keinen Fall, dass man die Haare lang und offen trug. Sie mussten stets hochgesteckt sein, schon gar nicht aber sollte ein anderer Mann außer der Gemahl des Mädchens, und vielleicht nahe männliche Verwandte wie Brüder oder Väter, die Haarpracht einer Dame bewundern dürfen.
„Ohne Euch zu nahe zu treten, finde ich jedoch, dass Ihr sehr hübsch ausseht", erwiderte ich fasziniert von ihrer heiteren Art.
„Wollen wir etwas herumgehen?", fragte sie schließlich etwas schüchtern lächelnd. „Sehr gerne", entgegnete ich und verschränkte meine Arme hinter dem Rücken, bevor wir den Weg in Richtung Südwald zusteuerten.
„Ihr spielt also sehr gern?", fragte sie nach einem kurzen Schweigen interessiert nach und ich nickte. „Immer, wenn es sich anbietet. Jedoch bin nicht sonderlich talentiert, Hoheit", erwiderte ich bescheiden.
„Sagt das nicht, Comte Lorenzo, ich finde, Ihr spielt wunderschön. Zumindest klang das, was ich hörte, sehr angenehm in meinen Ohren", meinte sie und lächelte mich an.
Ich konnte mir gar nicht vorstellen, mich vor zweieinhalb Jahren kaum für sie interessiert zu haben. Nun gut, ich hatte mich für ein anderes Mädchen interessiert und sie war - so weit ich wusste - gerade einmal 13 oder 14 Jahre alt gewesen. Wie aber hatte ich sie so ignorieren können?
„Ich wünschte, ich könnte ein Instrument richtig spielen. Aber ich drücke mich immer vor dem Üben." Ich musste leicht schmunzeln; sah aber zu, dass sie dies nicht sah. „Dankeschön, Prinzessin. Es ist mir eine Ehre, dass Euch meine Musik gefällt. Ich war auch sehr überrascht, dass Euch das Instrument bekannt war. Kaum jemand spielt es heutzutage noch."
„Ich habe es einmal in einem Buch über Louis XIV. von Frankreich gelesen und über seinen Hof in Versailles. Dort wurde es erwähnt. Wart Ihr schon einmal dort?"
„Noch nicht wirklich", wich ich ihrer Frage aus. Nicht, dass ich dort geboren und aufgewachsen bin, die meiste Zeit des Jahres dort residiere und König Louis XIV ein direkter Vorfahre von mir ist....
„Ach, ich wäre so gerne einmal dort. Meine Schwester hat bald die Ehre, dort hinzureisen...", erklärte sie mir zwinkernd und schloss daraufhin die Augen, um die frische Waldluft einzuatmen. „Zumindest, wenn alles so geschieht, wie sie es sich erträumt."
Beklommen antwortete ich nichts auf diese Bemerkung und dachte angestrengt über ein anderes Thema nach, über das wir uns unterhalten konnten und das an etwas, was sie bereits gesagt hatte, anknöpfte. „Und Ihr interessiert Euch für das Leben in vergangenen Zeiten?", kam ich schließlich auf ihre Antwort zurück.
„Oh ja, viel zu viel, glaube ich manchmal. Jedes Mal, wenn ich mit meiner Familie verreise, schaue ich mir so viele Bauwerke, egal ob Ruinen, Kirchen oder Paläste an. Seitdem mein Vater sich mit dem König von Neapel wieder verständigt hat, konnten wir Pompeji besuchen. Das war so interessant! Doch die einzigen, die keine Angst vor den versteinerten Menschen bekamen, waren mein Vater, mein Bruder und ich." Sie kicherte leise.
,Was seid Ihr nur für eine unglaubliche Frau?', hätte ich sie am liebsten gefragt. Tatsächlich kannte ich niemanden an dem strengen Hof in Versailles, der so ausgelassenen war und doch so interessiert an der Welt wirkte.
„Reisen Sie viel?" - „Nur selten komme ich dazu", entgegnete ich ehrlich und ein Seufzer verließ meine Lippen. „Doch, wenn ich könnte, würde ich höchstwahrscheinlich mal in den Norden reisen. Die Nordlichter sollen wunderschön im Winter sein."
„Davon habe ich auch schon gehört!", entgegnete sie. „Meine Großmutter war Schwedin. Sie meinte, dass sie diese einmal in Norwegen gesehen hat."
Peinlich berührt, dass sie mir so viele Einzelheiten über ihren Charakter und Familie anvertraute, schwieg ich erneut, bevor ich - unwissend, was ich sonst von mir geben sollte - bemerkte: „Es ist wirklich nicht sonderlich höflich von mir, Euch nichts über mein Leben zu berichten, da Ihr mir so viel erzählt. Dabei sollte es mir, wie schon gesagt, eine Ehre sein, dass Ihr Euch mit mir unterhaltet."
„Eine Ehre?", wiederholte sie mit einem leichten spöttischen Unterton, der aber nicht böse klang. „Ich bin doch bloß Aliénor. Zwar bin ich eine Prinzessin, aber auch nicht mehr als ein viel zu wagemutiges Kind."
„Ein Kind? Ich bitte Euch untertänigst um Verzeihung, falls ich Euch wiederspreche, aber meiner Meinung nach seid Ihr mehr als das", erklärte ich ihr verblüfft und wartete auf ihre Reaktion. „Es erscheint zwar etwas banal, dass zu sagen - schließlich kennen wir uns kaum -, aber ich finde, dass Ihr ein außergewöhnliches Mädchen seid. Im guten Sinne."
Ich verharrte, doch sie sah nur geradeaus in die Ferne des märchenhaften Waldes: „Ihr müsst nicht um Verzeihung bitten, Comte Lorenzo. Ich bin bloß überrascht. Mir hat schon lange nicht mehr jemand so etwas gesagt."
Schweigend blickte ich in den Himmel, etwas darüber empört, dass ihr anscheinend wirklich kaum jemand Komplimente machte. Wäre sie meine Gemahlin, würde ich ihr aufgrund ihrer Güte jeden Wunsch von den Augen ablesen.
Da ich aber nicht länger auf das Thema eingehen wollte, herrschte kurze Stille, und als wir vor einer Kreuzung stehen blieben, schaute ich zu ihr hinunter, bevor ihre glasklaren Augen die meinen trafen.
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Übersetzungen
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( TITEL ) → Die Flucht
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