Kapitel 23 ❀ notre marguerite


ALIÉNOR

Zwei meiner Finger strichen zaghaft über die weiche Wange meines Kindes. Ihre großen hellblauen Augen schauten mich ehrfürchtig an, während ich sie sanft in meinem Arm wog. Ich konnte kaum glauben, dass ich mein Kind sachte an meinen Körper drückte. Ein Kind, welchem ich das Leben geschenkt hatte.

„Diese niedliche Stupsnase kriegt mich immer wieder", gab eine meiner Dienerinnen zu, während sie einige benutzte Tücher einsammelte und verträumt zu der Kleinen schaute. Es war eine junge Frau, die ich sehr mochte. Nicht zuletzt, weil sie so offenherzig war.

„So ein hübsches Mädchen. Sie ist Euch wie aus dem Gesicht geschnitten, Majestät. Nur welche Haarfarbe Ihre Kaiserliche Hoheit einmal bekommen wird und ob Ihre Augenfarbe bleibt, wird sich zeigen."

„Danke, Madame", erwiderte ich schmunzelnd „Sie sind einige der wenigen, die sich an ihr erfreuen. Der Rest des Hofstaates hätte sich wohl lieber einen Jungen gewünscht."
Ich stieß einen Seufzer aus, als die Dienerin mitfühlend den Kopf senkte. „Das tut mir leid, Euer Majestät."

„Ach, macht Euch keine Sorgen. Ihr könnt ja wohl am wenigsten etwas dafür..." Daraufhin legte ich mein Kind vorsichtig zurück in ihre kuscheligen Kissen. „Sie dürfen gehen, Madame. Und bitten Sie doch am besten meine Hofdame Liliette herein", bat ich sie, woraufhin die Brünette sich verbeugte und abtrat.

Erneut drehte ich zu meiner Tochter. Schläfrig schloss sie die Augen und ich schmunzelte schwach. Ich liebte sie so sehr. Es spielte keine Rolle, wer ihr Vater war oder was der Hofstaat zu ihr sagte. Es war mein Kind, mein Mädchen.

„Na, wo ist denn meine Enkelin?", ertönte eine nur zu bekannte Stimme vom Eingang des Kinderzimmer. Tante Marie-Thérèse stand auf der Türschwelle, den Fächer wie immer stolz vor der Brust aufgeschlagen.

„Sie schläft", erwiderte ich träumerisch und ließ meine Finger über das Holz der mit Spitze verzierten Wiege fahren. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich kaum bemerkte, dass Liliette gar nicht eingetreten war.

Die Madame von Frankreich trat etwas näher heran und beugte ihren Kopf über das Kinderbett. „Ein hübsches, kleines Kind. Hoffen wir aber, dass es beim nächsten Versuch klappt."

Mein Lächeln verblasste. „Klappt? Ich verstehe nicht ganz, Hoheit-" Ich verstummte augenblicklich in meiner Erwiderung. Nun verstand ich es.

„Ich spreche von einem Dauphin. Sie ist zwar eine bourbonische Prinzessin, wird jedoch niemals herrschen. Frankreich ist nicht England. Wenn es nur weibliche Nachfolger gibt, lässt dies Frankreich und die Dynastie schwach aussehen. Wir müssen bloß hoffen, dass der Kaiser bald zurückkehrt", erwiderte sie unbefangen und ihre Lippen kräuselten sich. „Zumindest ist sie gesund."

„Was Ihr nicht sagt", erwiderte ich mit knirschenden Zähnen. Wahrscheinlich hatte meine Schwiegermutter schon Heiratspläne im Kopf. „Wo wir bei Ihrer Majestät sind... gibt es Neuigkeiten von meinem Gemahl?"

„Leider nicht", seufzte sie und ihr Mundwinkel zuckte leicht, als meine Tochter im Schlaf hustete. Jedoch konnte ich an ihren Augen sehen, dass es sie nicht im Geringsten berührte oder interessierte.
Obwohl es ihre Enkelin und ein Lebewesen von ihrem Blut war - wenn sie Louis-Antoines Tochter sein sollte - kümmerte sie es nicht. Das Kind war in ihren Augen nur ein Mädchen, ein Fehlversuch.

„Keine Nachricht von ihm. Schon seit über einer Woche sind keine Neuigkeiten an die Öffentlichkeit gelangt."

Ich nickte, während ich die Wiege vorsichtig hin und her schaukeln ließ. Durch die anherrschende Stille hatte ich gehofft, dass sie nun endlich gehen wollte; jedoch setzte sie erneut an: „Dass der Kaiser Euch die Entscheidung über den Namen des Kindes überlassen hat, überrascht mich nach wie vor."

„Wir hatten uns geeinigt, wenn es ein Junge werden sollte, das Kind Louis-François - sodass er als Louis XVIII. in die Geschichte eingehen würde - heißen sollte. Wenn es ein Mädchen werden würde, sollte die Wahl bei mir liegen... so sagte er", erklärte ich ihr mit ruhiger Stimme.

„Und wieso habt Ihr sie noch gleich Marguerite genannt?", wollte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue wissen.

„Ich habe mich in letzter Zeit viel mit diesen Blumen - also mit Margeriten und Gänseblümchen - befasst. Schon damals habe ich sie, bevor ich wusste, dass ich schwanger war, überall passend zum Frühling als Dekoration verwendet. Als ich Marguerite das erste Mal in den Armen hielt, erinnerte sie mich stark an ein kleines Gänseblümchen. So zart, zerbrechlich und..."

„Gewöhnlich?", beendete Tante Marie-Thérèse meinen Satz erwartungsvoll, woraufhin ich ihr einen irritieren Blick zuwarf. „Gänseblümchen wachsen überall. Für mich sind sie eher etwas langweiliges, bäuerliches. Nun gut, das passt ja zu Euch."

Obwohl ihre Worte alles andere als respektvoll oder freundlich waren, musste ich bei dieser Bemerkung kurz auflachen. Sie würde wohl niemals aufhören können, mich für jede Kleinigkeit zu kritisieren. „Wenn Ihr das sagt, muss das ja stimmen."

„Hm." Sie rümpfte ihre Nase noch ein letztes Mal, schlug ihren Fächer zusammen und schritt daraufhin ohne eine Verabschiedung aus meinem Gemächern.

Belustigt schüttelte ich glucksend mit dem Kopf, bevor ich mich erneut an meine Kleine wandte und dieser über die Wange strich. Friedlich döste sie vor sich hin.

Auch wenn sie noch zu klein und jung war, um mich verstehen zu können, beugte ich mir zu ihr hinunter und wisperte leise: „Lass' dir niemals von irgendwem einreden, dass du nicht genauso viel wert bist wie jeder andere Mensch auf dieser Welt. Ich liebe dich, Marguerite Louise Marie Élisabeth Sophie. Nur dies ist wichtig. Mein kleines Gänseblümchen... Du bist zart, zerbrechlich und doch so erfrischend. Und nichts anderes."

━━

„Majestät? Eine Nachricht, was den Krieg betrifft, ist eingetroffen..." Ein Dienstbote kam keuchend durch eine Nebentür hineingestürmt. Er hatte nicht geklopft, doch das störte mich aufgrund seiner Worte recht wenig. Schnell nahm ich ihm das Schreiben aus der Hand und überflog es, ehe sich meine Augen weiteten.

„Holen Sie die Comtesse und die Baronesse aus dem Nebenzimmer, sodass sie sich um die Prinzessin kümmern können... i-ich muss unverzüglich fort."

Ich wartete gar nicht erst auf eine Antwort seinerseits, sondern hob mein Kleid leicht an, um, so schnell ich in meinem Zustand konnte, aus dem Kinderzimmer auf den Flur zu laufen. Die ersten Tränen hatten sich bereits in meinen Augen gebildet und meine Kehle schien sich zuzuschnüren.

Liliette, die gerade auf dem Weg zu mir gewesen war, tauchte hinter mir auf. „Majestät? Was ist mit Euch?"

Kurz schnappte ich nach Luft, als ich sie erblickte, um keine zwei Sekunden später in ihre Arme zu fallen.
„Majestät!", bemerkte sie überfordert. Schluchzend vergrub ich mein Gesicht in ihrer Halsbeuge, während sie erst wie versteinert in ihrer Position verharrte, bevor sie schließlich behutsam über meinen Rücken strich.

„Was ist geschehen, Majestät?"
Ich blinzelte mir eine Träne aus dem Augenwinkel und holte tief Luft, bevor ich in ihr besorgtes Gesicht blickte.

~*~


Ich wusste nicht, wie lange ich bereits auf dem großen Balkon des Palastes von Versailles gesessen hatte, und wie lange ich auf den breiten Weg, der aus Paris hinaus in Richtung Süden führte, geschaut hatte.

Die französischen Truppen hatten verloren. Wir waren in einen Hinterhalt gelockt worden, woraufhin die spanischen Soldaten die meisten unserer Männer niedergemetzelt hatten. Ob Louis-Antoine auch unter den Opfern war, wusste niemand. Vor Angst um ihn konnte ich kaum einen klaren Gedanken fassen.

Halb Frankreich war seit der Niederlage in Aufruhr, der Hof besorgter denn je. Wenn Louis-Antoine von dieser Welt gegangen war, würde das eintreffen, was die Madame prophezeit hatte.
Da er keine männlichen Geschwister und Nachkommen hatte, würde schlimmstenfalls ein Erbfolgekrieg folgen. Antoines männliche Verwandte würden sich um den Thron streiten und Frankreich erneut in einen Krieg verwickeln, der dieses Mal aber landesübergreifend ausfiel.

„Majestät, es bringt doch nichts, wenn Ihr hier wartet. Geht wieder hinein in die Wärme, legt euch hin", schlug Liliette besorgt vor und trat einen Schritt auf mich zu. „Ihr holt Euch in dieser Kälte noch den Tod."

„Ich kann so oder so nicht schlafen", murmelte ich vor mir hin. Liliette wusste, weshalb ich hier draußen verweilte und ging somit bibbernd einen Schritt auf den Balkon zu. „Der Kaiser wird wiederkommen, Majestät. Ich bin mir sicher, dass Seine Majestät es geschafft hat."

„Die Nachricht ist schon vor einigen Tage verschickt worden... e-er müsste längst hier sein", entgegnete ich verzweifelt und schloss erschöpft meine Augen. Es war, als würde ich die Kälte um mich herum gar nicht wahrnehmen.

„Majestät..."

„Herr Gott, Liliette. Jetzt hört auf, mich so anzusprechen...", fauchte ich angespannt, sodass sie zusammenzuckte. Dabei wollte ich nicht unbedingt so wütend klingen.

Bloß war mir erst vor einigen Stunden bewusst geworden, wie viel mir eigentlich an Louis-Antoine lag. Nicht an seiner Stellung, nicht an seinem Vermögen. An ihm. An seiner Fürsorge, an seinem Charakter. Wenn ich ihn verlieren würde, wüsste ich nicht, wie ich weiterzuleben hatte.

„Mir ist bewusst, dass Ihr aufgrund Eurer Nationalität und Herkunft gerade jetzt nach dieser Nachricht Angst vor meiner Schwiegermutter, der Madame, haben müsst", sprach ich weiter.
„Aber es spielt keine Rolle, was passieren wird... Euch wird nichts geschehen. Ihr seid meine Freundin. Und somit möchte ich, dass Ihr mich auch bei meinem Vornamen ansprecht. Ihr habt so viel für mich getan... mir so viel geholfen, Liliette!"

Mit offenem Mund starrte sie mich an. Erst glaubte ich, dass ihre Überraschung nur von meiner Rede rührte, ehe ich mich etwas verwirrt umdrehte und in den Sonnenuntergang schaute.

Reiter, mehrere Reiter - ja, eine ganze Schar von ihnen -, waren am Horizont, nahe des Weges nach Versailles zu sehen. Sie kamen auf den Palast zu. Das Wappen der französischen Herrscherfamilie erkannte ich im schwachen Licht der Abendsonne und ich wusste: Dies waren die übrig gebliebenen Soldaten des Krieges.

━━

Schnellen Schrittes lief ich die Marmortreppen hinunter. Einige andere Bewohner und Bedienstete des Palastes hatten die baldige Ankunft der Soldaten ebenso bemerkt und sich bereits auf dem Hof versammelt. Sie verbeugten sich ehrfürchtig, als ich zu ihnen trat, ehe alle Anwesenden für mich Platz machten, sodass ich einige Meter nach vorne treten konnten.

Trotz der Niederlage war zudem ein kleines Orchester eingetroffen, um - je nachdem, welche Personen wiederkamen - die passende Musik zu spielen. Hinter mir befanden sich einige Minister und Madame Marie-Thérèse, die zusammen die Geschäfte während Louis-Antoines Abwesenheit geleitet hatten.

Es dämmerte, weshalb ich nur noch schwach die Gesichter der Reiter, die uns entgegen kamen, erkennen konnte. Das goldene Tor wurde geöffnet und ein Soldat nach dem anderen ritt hinein.
Nur etwa dreißig Männer erreichten uns. Die restlichen Überlebenden waren höchstwahrscheinlich bereits in ihre Heimat zurückgekehrt, um dort versorgt zu werden.

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als die Männer nacheinander von ihren Pferden stiegen. Ich trat einen Schritt auf den Anführer der Schar beziehungsweise auf die Person, die vorneweg geritten war, zu und hielt mir die Hand schützend vors Gesicht.

Bis auf das Hufgetrappel war es totenstill. Schließlich begann der Umriss auf mich zu zugehen - er lief, er rannte auf mich zu.

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, jedoch umschloss mich der Mann mit seinen Armen und ich wurde in eine sehnsuchtsvolle Umarmung gezogen. Sofort erkannte ich, dass es sich nur um eine Person handeln konnte.

Alles schien wie in Zeitlupe zu verlaufen, als er mich stärker an sich drückte und seine Arme weiter um meinen Oberkörper schlang, als hätte er Angst, ich könnte vor seinen Augen verschwinden. Die Welle der Erleichterung erfasste mich, und mir fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen.

Louis-Antoine war hier. Und das wichtigste war: Er lebte.






♔ . ♔ . ♔

Was sagt ihr zu dem Namen der Kleinen?

Wie Louis-Antoine wohl auf das Kind reagieren und wie wird er nun mit der Sache umgehen?


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Übersetzungen

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( TITEL ) Unser Gänseblümchen
( Dauphin ) Titel des französischen
Thronfolgers [wörtl.: Delfin]

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