Kapitel 19 ❀ à la maison


ALIÉNOR

Die Kutsche ruckelte, als wir auf dem Vorhof des Schlosses Valençay hielten. Aufgeregt stieg ich als erste Person aus dem Wagen, nahm dankend die Hand des Lakai entgegen und atmete die frische Landluft ein.

„Man spürt augenblicklich die Luftveränderung, findest du nicht?", bemerkte Charles, der Florentina und anschließend Liliette aus der Kutsche half.
„Was du nicht sagst." Mein Blick wanderte über die große, durch den Frühling blühende Landschaft, die so weit und endlos wirkte, hin zu dem romantischen Schloss, dessen Bauweise eine Mischung aus Renaissance und Barock bildete. Ich merkte jetzt erst, wie sehr ich diese Szenerie vermisst hatte.

„Majestät." Rafaels Stimme ließ mich aus meinen Kindheitserinnerungen erwachen und ich blickte zum Eingang meines alten Zuhauses.
Dort erwarteten mich meine jüngeren Geschwister, niedrige Adelige, die für die Erziehung dieser verantwortlich waren und viele der Angestellten, die hier oder im naheliegenden Dorf zuhause waren.

Freudestrahlend lief ich zuerst auf meine kleinen Brüder und Schwestern zu. „Laurent, Louis, Pauline, Mariechen... oh, du kannst ja schon laufen!"

„Seit einem halben Jahr schon", erklärte mir meine inzwischen 8-jährige Schwester Pauline stolz. „Sie kann sogar bereits etwas sprechen."

Träumerisch blickte ich die 3-jährige an, die mich mit großen, hellblauen Augen anschaute. Alle anwesenden Bediensteten verbeugten sich zudem vor Flora, Charles und Liliette, ehe wir herzlichst empfangen wurden. Ich begrüßte noch Alexandre Fournier, unseren Hauptdiener und den ehemaligen Geliebten meiner Schwester, Jaques, meinen alten Freund, der stets bei meinen geheimen Ausflügen in den Wald ein Auge zugedrückt hatte und meine persönliche Baronin, die nun den Platz als Floras Gehilfin eingenommen hatte.

„Wo ist Maman?", wollte ich schließlich wissen und gab den Angestellten ein Zeichen, sodass sie sich wieder erheben konnten.

„Bei Papa", beantwortete Mariechen mit piepsiger Stimme meine Frage. „Du musst in den Wald gehen, grand sœur, da sind die beiden."

„Danke, mon ange", flüsterte ich schmunzelnd und beugte mich zu ihr hinunter, ehe ich ihr einen Kuss auf die Stirn drückte, um mich daraufhin wieder zu erheben. „Ich werde in den Wald zu meiner Mutter, Marie-Louise, gehen, um diese aufzusuchen. Allein."

Meine persönlichen Soldaten machen Anstalten mitzugehen, doch ich hob eine Hand in die Höhe, um ihnen Einhalt zu bieten. „Ganz allein."

Meine Leibgarde konnte gegen meine Worte nicht ankommen, da wir uns immerhin in meiner Heimat und in einem anderem Land aufhielten. Dadurch waren sie vorerst den Befehlen Charles' ausgesetzt, der mir nickend zustimmte. „Dann bis später. Ihr findet uns im Wintergarten."

~*~


Langsam schritt ich auf das Grab meines Vaters zu. Daneben stand mein Mutter bereits in einem braunen Samtkleid, die Hände ineinander verschränkt und betete leise vor sich hin. Sie dankte Gott für seine Gaben und bat darum, auf ihren Mann Acht zu geben.

„Maman?", wisperte ich leise, um sie nicht allzu sehr zu erschrecken. Wie ich jedoch erwartet hatte, zuckte sie bei meinen Worten trotzdem zusammen. Dann lächelte sie ebenso, als sie mich erblickte. „Ma belle."

Ein Seufzer verließ meine Lippen, als ich sie in eine Umarmung zog und atmete ihren vertrauten Geruch einatmete. „Wie geht es dir, Aliénor? Verzeih mir, dass ich eure Ankunft und die Begrüßung vollkommen verpeilt habe...", entschuldigte sie sich mit leiser Stimme und blickte zu Papas Grab.

LOUIS II.
Herzog von Savoyen - Piemont
* 29. 05 . 1779
† 30 . 01 . 1818

stand auf dem Grabstein. Rote Rosen, blaue Tulpen, Narzissen - die Lieblingsblumen meiner Eltern - und viele gepflückte Wildblumen, die wahrscheinlich von meinen kleineren Geschwistern ausgesucht worden waren, waren fein säuberlich auf dem Grab verteilt.

„Ich wollte euch einfach besuchen und zurück nach Hause kehren", erklärte ich ihr anschließend und legte meinen Kopf auf ihrer Schulter ab. „Zudem hast du große Angst um Brienne... und ich ebenso."

Zaghaft blickte zu ihr auf. Ihre Augen waren bereits etwas wässrig, als sie einen Seufzer ausstieß und mit heiserer Stimme begann zu sprechen: „Sie ist noch so jung... ich habe schon deinen Vater verloren... du, Charles, Marie Brienne, Pauline, Laurent, Louis und Mariechen seid alles, was ich habe. Ich bin nicht mehr länger die Herzogin des Landes, das mir so sehr am Herzen liegt, nun wo Louis nicht mehr unter uns verweilt..."

„Sie wird es überstehen...", entgegnete ich sanft und nahm mir vor, meine ältere Schwester gleich nach unserer Rückkehr zum Schloss unbedingt aufzusuchen. „Das verspreche ich dir, Maman."

„Aliénor", sagte sie plötzlich, dass nun ich zusammenzuckte. „Große Güte, ich habe dich gar nicht gefragt, wie es dir durch deine Schwangerschaft geht. Ich bin ganz überrascht, dass meine Cousine dich überhaupt reisen ließ."

Etwas verklemmt presste ich die Lippen aufeinander. Es war ungewohnt, vor meine Mutter Probleme zu haben, mich zu öffnen.
„Deshalb bist du hierher gereist, oder irre ich mich?", wollte Maman wissen und schaute mich schmunzelnd an, ehe sie sich eine Träne aus dem Gesicht wischte. „Du machst dir Sorgen wegen des Kindes? Oder aufgrund von Rafael?"

„Rafael?", wiederholte ich und klang dabei viel zu entsetzt, als dass es sich bei ihm nur um einen alten Bekannten handeln könnte. „Also?" Meine Mutter hob eine Augenbraue in die Höhe.

Ich vergrub das Gesicht in den Händen, ehe ich mit diesen meine hellblonden Strähnen zurückwarf. „Maman... ich habe einen so großen Fehler begannen. Beziehungsweise ich führe ihn nach wie vor aus... und ich bin mir nicht sicher, ob es ein Fehler war oder nicht... ach, es ist so kompliziert.."

Ma belle..." Schützend legte sie einen Arm um mich und zog mich erneut in eine feste Umarmung, die mir Halt schenkte. „Ich verstehe dich."

„Du weißt doch noch gar nicht, was geschehen-" begann ich, bevor sie mir ins Wort fiel: „Ich weiß sogar sehr gut Bescheid. Während der Zeit, als ich in Versailles war, habe die Blicke zwischen ihm und dir bemerkt. Mir war sofort klar, dass euch ein Geheimnis verbinden musste. Aufgrund eurer Vergangenheit konnte es sich nur um eine wieder eingeleitete Liaison handeln..."

Beschämt nickte ich. „W-Wir haben es zusammen getan. Es war ein Unfall... und nun befürchte ich, dass das kleine Lebewesen, welches ich in mir trage und auf die Welt bringen werde, ein B-Bastard sein wird... Wiederum liebe ich Rafael ebenso... möglicherweise sogar mehr als Louis-Antoine selbst... Dazu kommt unsere Affäre... wir sind seit etwa zwei Wochen heimlich ein Paar. Aber derzeitig scheinen wir uns wieder langsam wieder voneinander zu entfernen..."
Kopfschüttelnd schloss ich die Augen.

„Euch verbindet nunmal nach wie vor Vieles. Eure alte Liebe, viele Charaktereigenschaften, eure Liebe zur Freiheit und Gerechtigkeit... wie viel habt ihr zusammen durchgestanden? Ich kann es gar nicht alles aufzählen. Doch wie steht es um deinen Gemahl? Weiß er davon?"

„Nein... er ist zwar nicht selten misstrauisch, doch hat er zu viel Vertrauen in mich gesetzt. Ich bin zugleich so verwirrt, was meine Empfindungen ihm gegenüber angeht. Mir ist auch bewusst, welcher Gefahr ich uns und dem Kind aussetze... dass ich zuerst an Frankreich und an meine Ehe denken muss...", gab ich ehrlich zu.

„Jedoch weiß ich nicht, wie ich es erklären soll... Antoine war so glücklich über meine Schwangerschaft, da wir allgemein eher wenig Zeit miteinander verbringen..."

„Ich verstehe dich, Aliénor. Und auch, wenn es vielleicht nun etwas vorwurfsvoll klingen mag, hast du vollkommen recht: Louis-Antoine ist dein Gemahl, der Kaiser von Frankreich und du die Kaiserin. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob er dir diese Liaison verziehen wird, da ihr alle euch auf dünnem Eis bewegt. Niemand darf davon erfahren, dass du mit einem anderen Mann und dann auch noch mit einem Spanier geschlafen hast. Sonst würde jeder die Vaterschaft anzweifeln.

Am besten wäre es, dass ihr miteinander sprecht. Vor allem musst du das Gespräch mit Rafael suchen. Aber ich sage dir jetzt schon: Solche Beziehungen standen noch nie unter einem guten Stern. Ihr werdet so oder so niemals zusammen sein können... also müsst Ihr euch über eure Gefühle klar werden. Ein Gespräch mit Louis-Antoine wird dadurch ebenso nicht ausbleiben..."

Maman holte tief Luft. „Versuche nur stets - so gut es geht - auf dein Herz zu hören. Möglicherweise stellte Rafael einfach nur einen glücklichen Ersatz und eine Zuflucht für dich da, da dein Gemahl nicht für dich da sein konnte..."

Zögernd nickte ich. Der Gedanke, mich vollkommen von Rafael lossagen zu müssen, löste ein beklemmendes Gefühl in mir aus. Damals hatte er mich verständlicherweise nicht mehr gewollt. Nun aber wollten wir beide den jeweils anderen... bloß war ich nun verheiratet. Vermählt und doch im Unklaren darüber, ob ich meinen Gemahl wirklich so sehr lieben konnte wie Rafael.
„Danke, Maman. Danke, dass auf dich immer Verlass ist."

Langsam legte sich ein Lächeln auf meine Lippen und ich blickte in ihre Augen. Blau traf auf Blau.
„Das ist doch selbstverständlich, ma belle. Ich werde immer für dich da sein." Sie strich über meinen Oberarm und wir schauten gemeinsam zu Papas Grab.

Hier zuhause hatte ich die schönste Zeit meines Lebens verbracht. Eine freie, unbeschwerte Zeit. Mit meinen Liebsten um mich herum und ohne Sorgen, ohne viele Verpflichtungen. Aber das Leben konnte nunmal nicht immer nur nach dem Friede-Freude-Eierkuchen-Schema verlaufen.






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Übersetzungen

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( TITEL ) Zuhause
( grand sœur ) große Schwester
( mon ange ) mein Engel
( ma belle ) meine Schöne

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