Kapitel 20 ❀ problèmes
ALIÉNOR
Aus meiner Konversation mit Rafael wurde im Endeffekt erst einmal noch nichts. Ständig führte ich Gespräche mit Angestellten, Adeligen oder mit meiner Familie. Alle suchten das Gespräch mit der Kaiserin; meine Geschwister wollten so viel Zeit wie möglich mit mir verbringen und mir Bilder, neue Möbelstücke oder Spielzeuge zeigen, die ich aufgrund meiner Abwesenheit noch nicht kannte.
Florentina stellte mir ihre neuen Gemächer, die sich gleich neben denen Briennes und denen meiner Mutter befanden, vor und unterrichtete mich über das Leben in Savoyen-Piemont unter Charles' Führung.
Mein Gemach sah aus wie ich es zurückgelassen hatte. Mein Bett war gemacht wie eh und je, einige meiner alten Kleider hingen sogar noch in meinem Schrank und meine Bücher lagen noch genauso kreuz und quer auf meinem Schreibtisch herum.
Was meine ältere Schwester betraf, hatte ich nach unserem ersten Treffen etwas Angst, ihr über den Weg zu laufen. Ihr ging es gesundheitlich etwas besser und die Ärzte waren der Meinung, dass sie in einigen Tagen wissen würden, wie es nun vollständig um Ihre Hoheit stand. Bloß saß sie meiste Zeit lang alleine in ihren Zimmer. Gäste begrüßte sie nur selten.
Ihr Verhalten mir gegenüber war neutral und höflich. Jedoch war von unserer damaligen inneren Bindung nichts mehr übrig. Ihre Blicke sprachen Bände.
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Irgendwann stand der Tag der Abreise vor Tür. Das Schloss war erneut in heller Aufregung. Gepäck wurde hin und her getragen, alte Lacken abgezogen und Proviant für die Reise zubereitet und eingepackt.
Zum Schluss hatte ich einen Korb voller frischer Blumen aus unserem Garten überreicht bekommen. Da es noch kein Sommer war, konnten wir diese problemlos über die Stunden bis nach Paris transportieren, ohne dass sie vertrockneten.
Vor den Türen meines alten Zuhauses wanderten meine Augen zu Rafael, der mir in den letzten Tagen einige sehnsuchtsvolle Blicke zugeworfen hatte.
Mir fiel auf, dass ich vollkommen vergessen hatte, eine freie Minute zu finden, um mit ihm zu reden, obwohl diese Angelegenheit stets in meinen Gedanken präsent gewesen war. Ich wollte mich bereits dazu aufmachen, auf ihn zuzugehen, als meine Mutter in diesem Moment die Treppen zu der Empore hochkam. „Geht es dir gut, ma belle?"
„Es ist alles in Ordnung, Maman. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unglaublich gut es getan, wieder hier gewesen zu sein", erwiderte ich bloß und wandte meinen Blick ab, um einige Tränen hinfort zu blinzeln. Maman hatte jedoch unseren Augenkontakt bemerkt. „Ihr habt noch nicht miteinander geredet..."
„Ich bin nicht dazu gekommen. Hoffentlich haben wir in Versailles die Zeit dazu", entgegnete ich seufzend, ehe meine Hofdame hinter mir auftauchte und in einem Hofknicks versank. „Majestät, die Kutsche ist bereit zur Abfahrt. Die Lakaien stehen Euch zur Verfügung."
Mein Blick wanderte zu der Brünetten, die Ihren gesenkt ließ. „Ich danke Euch..."
Dann sah ich erneut an den steinernen Mauern des Schlosses hinauf und unterdrückte ein Schluchzen. Erneut war es ein Abschied für eine lange Zeit.
LILIETTE
Während der gesamten Fahrt ging es mir schlechter denn je. Aliénor behandelte mich mehr als eine Schwester und sehr gute Freundin als eine bloße Hofdame oder einen Bastard, wie ich von den meisten Menschen angesehen wurde.
Sie fragte mich nach meinem Befinden, nach meiner Meinung zu bestimmten Dingen und wie ich mich im Kreise ihrer Familie in der letzten Woche gefühlt hatte. Oft erschien sie mir so, als sei sie nur kleine Augenblicke davon entfernt, mir von ihrer Affäre mit Rafael Álvarez zu berichten.
Manchmal malte ich mir meine Reaktion diesbezüglich aus. Da ich über die Beziehungsprobleme der Kaiserin bereits Bescheid wusste, würde ich nicht so geschockt reagieren, aber definitiv versuchen, mich zu bemühen, so zu wirken.
An anderen Tagen hatte ich überlegt, ihr einfach zu berichten, dass ich schon längere Zeit eine Ahnung über ihre Liaison gehabt hatte. Ob sie wohl vermuten würde, dass ich als Spionin agierte und für den König von Spanien arbeitete, nur sodass er mich einmal in meinem Leben wertschätzen würde?
Ich war ein bemitleidenswertes Wrack, das wusste ich. Noch schlimmer war, dass ich mich für keine Seite entscheiden konnte. Der Brief, in dem ich meinen Vater über ihre Affäre mit Álvarez berichten wollte, lag nach wie vor fest verschlossen in einer Seitentasche meines Koffers.
Ob ich ihn jemals einem Boten mitschicken würde? Wahrscheinlich war ich am Ende zu feige, es zu tun, weil mein schlechtes Gewissen Kaiserin Aliénor gegenüber einfach zu groß war.
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RAFAEL
Es war bereits später Abend, als wir in Versailles angekommen waren. Inzwischen wartete ich schweigend mit meinem Kollegen vor den Gemächern Aliénors. Der Mond schien durch die großen Fenster über die edlen Fliesen und erleuchtete dadurch den abgelegenen Flur. Der Soldat rechts neben mir war bereits eingenickt und schreckte hoch, als wir ein Stimmengewirr vernahmen.
Aliénor und ihre Hofdame Liliette kamen lachend und tratschend um die Ecke. Mein Mundwinkel zuckte leicht in die Höhe. Es war jedes Mal schön, sie lachen zu sehen.
Sie verstummte, als sie mich erblickte und wechselte einige für mich unverständliche Worte mit dem spanischen Mädchen, bevor diese verschwand. Wie immer legte ich meine Augen auf kein bestimmtes Ziel und schaute starr nach vorne, bis sie vor mir halt machte.
„Ich wünsche Sie zu sprechen, Álvarez", sprach sie mich ernst an. In Gedanken fluchte ich auf, obwohl ich wusste, dass die Zeit längst dafür gekommen war. Ich war ihr wie ein Feigling aus Angst aus dem Weg gegangen.
Als Antwort nickte ich und folgte ihr anschließend in ihren Salon. Dieser war von Kerzen erleuchtet, die auf einem goldenen Kronleuchter verteilt waren.
Schließlich drehte sie sich zu mir um. Nervös verschränkte sie die Hände einander und schaute mit ihren eisblauen Augen zu mir auf. „Ich muss mit dir reden."
„Ich ebenfalls", entgegnete ich und presste daraufhin die Lippen aufeinander. „Ich würde mich gerne entschuldigen, dass ich mich vor dir entfernt habe. Lass mich bitte erklären, wie es dazu kam."
„Das ist nicht nötig", erwiderte sie zu meiner Überraschung und lächelte sanft. „Du hattest Angst vor unserer Zukunft und glaubtest, dass du vor deinen Problemen hinfort laufen könntest. Aber das kannst du nicht."
Um ehrlich zu sein war mir nicht ganz sicher, ob ihre Antwort nun etwas Gutes oder etwas Schlechtes verhieß. War sie sauer und enttäuscht? Hielt sie mich für ein Weichei? Oder zeigte sie Verständnis?
„Wir sind in einer schwierigen Situation, da ich schwanger bin", sprach sie weiter. „Deshalb möchte ich nur eins wissen."
Aliénor machte einen Schritt auf mich zu, sodass unsere Gesichter so nah beieinander waren, um Herzbeben bei mir auszulösen. Es war unfassbar, wie stark ihre Gegenwart sich auf meine Gefühlslage auswirkte. Dabei waren wir schon miteinander verlobt gewesen, hatten mehrere Male das Bett geteilt und führten eine Affäre zusammen.
„Ich weiß nicht, wer der Vater meines Kind ist beziehungsweise sein wird", gestand sie mir, sodass ich überrascht die Augen aufriss.
Meiner Verwirrung brachte diese Tatsache nicht gerade weiter. War ich nun glücklich oder nicht? Ich liebte Aliénor und ein Kind mit ihr wäre mein Herzenswunsch. Aber genau dieser Wunsch wäre ebenso mein und ihr Todesurteil, wenn es jemand erfuhr.
„Du bist ein Spanier... ich nun eine Französin. Unsere Länder stehen im Krieg zueinander. Wahrscheinlich muss ich dich gar nicht darüber aufklären, was passieren könnte, wenn an die Öffentlichkeit gerät, dass wir beide intim miteinander waren und dass du der Vater meines Kindes sein könntest..."
Ich spürte ihren Atem auf meinen Lippen und sah in Gedanken versunken auf diese hinab. „Ich muss nur eine Sache wissen... also sei bitte ehrlich mit mir: Was empfindest du für mich?"
Ohne lange zu überlegen sprach ich meine Antwort aus dem Bauch heraus aus: „Ehrlich gesagt verletzt mich, was du über mich denkst. Auch wenn du deine Vermutung nur indirekt ausgesprochen hast."
„Also?" Sie zog eine Augenbraue in die Höhe, woraufhin ich auflachte: „Was glaubst du denn, Aliénor? Ich habe nie aufgehört dich zu lieben. Zwar habe ich versucht, meine Gefühle zu unterdrücken... schließlich hast du mich über Monate hin angelogen, mein Herz gebrochen... doch was tue ich? Ich liebe dich trotzdem so sehr, dass es nicht mehr normal ist."
Gequält schmunzelte sie und blickte etwas beschämt zu unseren Füßen herab, ehe sie sich auf die Unterlippe biss.
„Weißt du, weshalb ich damals, als wir zusammen im Bett lagen und du mir deine Gefühle gestanden hast, geschwiegen habe? Weil ich mir selber nicht sicher war, wie es um meine Empfindungen steht..."
„Und wie sieht es nun aus?", fragte ich bemüht ruhig, und musste mich zurückhalten, sie nicht an mich zu reißen und aus diesem verhassten Palast zu befreien.
Unmittelbar blinzelte sie und ich erkannte in dem Flackern der Kerzen, dass sich in ihren Augen Tränen gebildet hatten. „Wir können nicht zusammen sein, Rafael. Nicht, nachdem ich nun möglicherweise dein Kind in mir trage. Und selbst wenn es nicht von dir ist, könnten Gerüchte bald schon entstehen... Du bist immer in meinem Herzen geblieben, da du meine erste große Liebe warst..." Ihr Lächeln erlosch nach einigen Sekunden.
Irritiert blickte ich sie an. Eigentlich hatte ich erwartet, dass sie mir erklärte, dass unsere Liebe immer stärker gewesen sei, als diese Fassade, die sie mit dem Kaiser verbunden hatte. „Aber du liebst ihn mehr...", stellte ich schließlich tonlos fest.
Sie blieb stumm, und ihre Ruhe sorgte dafür, dass mein Herz voller kleiner Stiche beinahe zerbarst. „Ich verstehe bereits, was du mir sagen willst. Du brauchst nichts weiteres mehr zu sagen."
„Aber... Rafael-", begann sie und ich sah, wie die ersten Tränen den Weg über ihre Wangen fanden.
Ich war wütend. Jedoch rührte diese Wut nicht nur daher, dass sie mir weisgemacht hatte, dass ich stets ihre große Liebe verkörperte, da wir wie der Deckel auf den Topf passten. Sie hatte ihren Ursprung in meiner Leichtgläubigkeit und in meiner Waghalsigkeit, die dazu geführt hatte, sie in dieser Nacht des Maskenballs zu verführen. Ich handelte zu unüberlegt - und liebte sie zum Schluss doch.
„Shhh", unterbrach ich sie, indem ich einen Finger auf ihre fein geschwungenen Lippen legte. „Bitte schweig. Das einzige, was ich mir von dir wünsche, ist ein letzter Kuss, bevor wir es beenden."
Vielleicht machte es keinen Sinn, dass ich freiwillig dem Kaiser den Vortritt ließ, aber so war es nunmal. Ich war in sie verliebt; aber wir mussten unsere Beziehung beenden. Sie hatte Mitleid mit mir, weshalb sie sich wahrscheinlich noch erst dagegen wehren würde. Jedoch dachte sie im Endeffekt doch genauso wie ich.
Vorerst war es das beste für Frankreich, für unsere zwei Völker und für Aliénor selbst. Mein Verlangen nach ihr, dass so groß war, als wäre sie eine Droge für mich, musste ich woanders stillen.
Aliénor blinzelte eine kleine Träne hinfort, sodass ich sie am liebsten in der Arm genommen hätte. „Du bist stets derjenige, der leiden musst. Das ist so ungerecht, Rafael. Du hast es nicht verdient... ich wünschte..."
Ich versiegelte unsere Lippen mit einem innigen Kuss. Wir standen einfach nur da und drückten unsere Lippen aufeinander, ohne uns anderweitig zu berührten. Er war ein zärtlicher Abschiedskuss und hatte etwas gemein mit unserem ersten Kuss damals in Marseille im Frühling 1815, vor vier Jahren.
„Rafael...", krächzte sie hervor und ihre rechte Hand fand zitternd den Weg auf meine Wange, als sie einen Blick über meine Schulter warf und sich ihre Augen weiteten.
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Übersetzungen
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( TITEL ) → Probleme
( ma belle ) → meine Schöne
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