3. Ein Grab unter einer Weide

Ginny lag noch neben ihr, als Hermine am nächsten Morgen erwachte. Sie schlief noch tief und fest und hielt ihre Hand. Unwillkürlich schlich sich ein kleines Lächeln auf Hermines Gesicht. Dieses Lächeln fühlte sich fremd an, als hätte sie längst vergessen, wie sich das anfühlte. Aber sie hatte eine Nacht durchgeschlafen und war nicht schreiend und schweißgebadet aufgewacht und sie fragte sich, ob es daran lag, dass Ginny bei ihr gewesen war, oder daran, dass sie ihr den Grund für ihre Trauer anvertraut hatte. So oder so, tat es gut, ausgeruht zu erwachen. Vielleicht wurde es jetzt besser. Vielleicht war jetzt die Zeit gekommen, da sie anfangen konnte, es zu verarbeiten. Wie sie das dachte, schoben sich die Bilder ihres Traumes wieder vor ihr inneres Auge und sofort fühlte sie sich wieder den Tränen nahe. Sie würde diese Worte nie wieder von ihm hören, sie würde niemals wieder seine Lippen auf ihren spüren. Es waren erst sechs Tage, seit er fort war und sie vermisste ihn so schrecklich, dass sie das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr Brustkorb fühlte sich eng an, als lägen Ketten um ihn herum, die sich immer weiter zuzogen. Und wieder sah sie den Moment vor sich, als alles Leben aus seinem Körper gewichen war und das Feuer in seinen Augen erloschen war. Nein, es war noch lange nicht vorbei und sie schämte sich für einen Moment, das überhaupt erwartet zu haben. Sie würde niemals aufhören ihn zu lieben, niemals aufhören ihn zu vermissen und im Moment fühlte es sich auch so an, als ob der Schmerz für immer bleiben würde. Sie war erst achtzehn Jahre alt. Wer fand schon seine große Liebe mit achtzehn Jahren, wenn er als Hexe oder Zauberer eine Lebenserwartung von weit über hundert Jahren hatte? Es kam ihr dennoch falsch vor, Severus als etwas anderes zu sehen, als die tragische große Liebe ihres Lebens. Vielleicht hätte ihre Liebe nach dem Krieg auch gar nicht gehalten, aber das würden sie nun niemals herausfinden und sie wehrte sich gegen diesen Gedanken. Wenn er bei ihr war, dann war sie sich so sicher gewesen, dass er der Eine für sie war und es immer sein würde. Aber er hatte sie verlassen, war gestorben und hatte sie zurückgelassen. Er hatte ihr ein Versprechen gegeben, dass er überleben würde und obwohl Hermine klar war, dass es unfair war, warf sie ihm vor, es gebrochen zu haben. Es war nicht seine Schuld gewesen und dennoch konnte sie nicht aufhören, daran zu denken, dass er es ihr versprochen hatte.

Langsam erwachte Ginny, sah in das von Schmerz gequälte Gesicht ihrer besten Freundin und es zerriss ihr das Herz. Hermine hatte diesen Schmerz nicht verdient. Sie hatte schon ihre Eltern verloren, sie sollte nicht auch noch ihn verlieren, auch wenn sie nicht verstand, wie die beiden je hatten zusammenfinden können, aber ihre beste Freundin hatte das Glück verdient, egal wer es ihr schenkte. Auch wenn Snape, den sie selbst moralisch eher im Graubereich einordnete, es war. Wenn Hermine ihn für würdig hielt, dann musste er es auch sein, dachte sie im nächsten Moment. Sie musste etwas gesehen haben, was ihnen allen verborgen geblieben war. Mehr noch, als Harry ihnen nach der Schlacht über ihn eröffnet hatte, nämlich dass Lily Potter seine beste Freundin war und er alles nur aus Liebe für sie getan hatte. Er mochte häufig ein Arschloch gewesen sein, aber offensichtlich war das nicht alles, offensichtlich steckte mehr dahinter. Sie würde es so gerne verstehen.
Ginny strich leicht über Hermines Hand, die sie noch immer hielt und sah sie besorgt an. "Ich werde nicht fragen", versprach sie ihr, "und ich werde auch Harry und Ron nichts sagen, solange du das nicht möchtest, aber lass mich für dich da sein."
Jetzt liefen Hermine die Tränen in Strömen über die Wangen und Ginny wischte jede einzelne von ihnen sanft fort. "Ich bin hier", versicherte sie ihr erneut und nahm sie fest in die Arme, "Immer."

*

"Möchtest du später mit uns zu meinen Eltern kommen?", fragte Ginny sie beim Frühstück und riss Hermine aus ihren Gedanken. Sie hatte es erneut getan, fiel ihr dabei auf. Sie hatte die letzten Minuten wieder nur ausdruckslos vor sich hin gestarrt. Es war in den letzten Monaten besser geworden, nur noch selten verlor sie tagsüber den Fokus und driftete ab in Gedanken und Erinnerungen, die wieder die Wunden in ihrem Herzen aufrissen, die den Teil schmerzen ließen, der eigentlich nicht mehr da sein sollte, weil er mit Severus gestorben war. Noch jede Nacht sah sie ihn, berührte ihn, sagte ihm all das, was sie nie wieder sagen können würde, nur um am Morgen, unter der Erkenntnis, dass er fort war, wieder zu zerbrechen. Dann sammelte sie die Scherben auf und setzte für ihre Freunde eine Maske der Gleichgültigkeit und ein leichtes Lächeln auf, um sie nicht immer wieder zu verletzen. Sie wussten, dass sie noch immer kämpfte, aber sie ließ sie dennoch nur die Spitze des Eisbergs sehen, das große gefährliche Ungetüm lauerte immer unter der Oberfläche und sie bemühte sich nach Kräften, es vor ihren Freunden dort verborgen zu halten. "Hermine?", fragte nun Ron und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Ihr Kopf fuhr ruckartig zu ihm herum. "Ich war in Gedanken", entschuldigte sie sich. "Wie immer", seufzte Ron, "Ginny fragt, ob du nachher mit zu Mum und Dad kommen möchtest. Andromeda und Teddy werden auch da sein."
"Ich würde gerne, aber ich habe etwas vor", entschuldigte sie sich halbherzig. Natürlich würde sie Teddy gerne sehen, er war trotz allem so ein fröhliches Kind, aber sie war momentan für niemanden eine gute Gesellschaft und schon gar nicht für ihn. Zudem hatte sie wirklich etwas vor. Die Zusage von Minerva kam bereits vorgestern, dass sie im Schloss und auf den Ländereien immer willkommen war und genau dort würde sie heute hinreisen: Nach Hogwarts. An den Ort, an dem sie so glücklich war, aber an dem man ihr auch zuletzt alles Glück genommen hatte; und es musste heute sein, am siebenundzwanzigsten September. "Was hast du denn vor?", fragte Harry interessiert.
"Ich habe eine Verabredung mit McGonagall", log sie ohne mit der Wimper zu zucken und sie konnte aus dem Augenwinkel sehen, dass Ginny die Stirn runzelte. Sie wusste, dass ihre beste Freundin ihre Lüge durchschaute und sicher reimte sie sich auch gerade zusammen, warum sie wirklich nach Hogwarts wollte. Auch wenn sie ihr nur wenig über das erzählt hatte, was zwischen ihr und Severus war und sie auch ihr Versprechen hielt, keine Fragen zu stellen und den Jungs nichts davon zu verraten, wusste Hermine, dass Ginny es verstand und auch wusste, warum es gerade heute sein musste. "Denkst du etwa doch darüber nach, den Abschluss nachzuholen?", fragte Harry enthusiastisch, ein wenig zu enthusiastisch für Hermines Geschmack. Für ihn würde das bedeuten, dass sie wieder die Alte wäre, aber das war sie nicht, nicht einmal annähernd. "Dann ist sie aber spät dran", bemerkte Ron kauend. "Du liebe Güte, du hast den Brief nicht einmal gelesen, oder?", fragte Ginny und verdrehte die Augen. "Welchen Brief?"
"Den von McGonagall, bezüglich des neuen Schuljahres", meinte Harry grinsend und er wusste genau, dass Ron ihn nicht gelesen hatte. Immerhin hatte nach dem Angebot von Kingsley, der neuer Zaubereiminister geworden war, und in dem Zuge jedem von ihnen eine Stellung im Ministerium angeboten hatte - auch ohne Abschluss - für Ron sofort festgestanden, dass er dieses Angebot annehmen würde. Dennoch hätte Ron auffallen müssen, dass auch Ginny noch nicht nach Hogwarts zurückgekehrt war, dies aber fest vorgehabt hatte. Hermine fragte sich daher, wie er davon nichts gewusst hatte.
"Das Schuljahr startet für die oberen beiden Jahrgänge erst wieder zum neuen Halbjahr, immerhin ist bis dahin der Unterricht in den meisten Fächern halbwegs ordentlich vonstatten gegangen und außerdem sucht sie noch händeringend Lehrer für einige Stellen, sodass sie Probleme hat, alle Schüler im Unterricht unterzubringen", erklärte Ginny. "Den höheren Jahrgängen traut man zu, dass wir in Eigenleistung vieles Aufarbeiten."
"Oh! Nein, den habe ich nicht gelesen", räumte er ein. "Und den Tagespropheten, abgesehen vom Sportteil, seit einiger Zeit offensichtlich auch nicht mehr", warf Hermine ein und Harry sah sie belustigt und mit leuchtenden Augen an. Ihr erster halbherziger Witz seit fünf Monaten, sicher würde er sich das Rot im Kalender anstreichen. "Wir drei haben immerhin das komplette Schuljahr verpasst, also hätten wir entweder in Eigenregie das Versäumte lernen oder Aufbaukurse nach Schulschluss besuchen können. Nach einer Prüfung im Januar hätten wir dann wieder das siebte Schuljahr besuchen können oder komplett wiederholen müssen. Aber da wir hier von Hermine reden, wissen wir, dass sie beides nicht braucht, da sie die Prüfung auch so bestehen würde", warf Harry erklärend ein.
"Außerdem, hast du dich gar nicht gefragt, warum ich hier übernachte und Zeit habe, mit euch zu frühstücken, wenn die Schule vor vier Wochen tatsächlich wieder losgegangen wäre?", fragte Ginny kopfschüttelnd. "Du hattest etwas von einer Freistellung und Eigenstudium erwähnt, ich dachte..", begann Ron und brach dann aber mitten im Satz ab und schien dabei selbst zu merken, dass er sich nicht sicher war und die Erklärung doch etwas dürftig, als dass er sie einfach so für sich hätte hinnehmen sollen. "Ehrlich gesagt, ich habe bis eben überhaupt nicht darüber nachgedacht und ich habe auch manchmal keine Ahnung, welches Datum wir überhaupt haben. Seit wir für Kingsley arbeiten, ist in meinem Kopf kein Platz mehr dafür."
"Du lagst damit immerhin nicht ganz falsch", meinte Harry und klopfte ihm auf die Schulter.
"Die Freistellung, die du meinst, bezog sich auf das Angebot der Holyhead Harpies, dass ich ihrer Mannschaft nach dem Abschluss beitrete. Sie wollen dann aber, dass ich ab Januar vorher schon zwei Mal die Woche am Training teilnehme, das nun mal vormittags ist. Dafür hat McGonagall erlaubt, dem Unterricht fernbleiben zu dürfen und alles selbst nachzuarbeiten. Jedenfalls wenn ich das Angebot annehmen möchte."
Hermine sah Ginny überrascht und schuldbewusst an. Sie hatte von diesem Angebot nichts gewusst. Ginny musste überglücklich sein, sie wollte schon immer Profi-Spielerin werden. Warum hatte Ginny ihr das nicht erzählt? Hatte sie das Gefühl gehabt, sie könnte es ihr nicht erzählen? Es wäre so schön gewesen, sich für sie freuen zu können, statt immer nur in ihrer Trauer zu versinken.
"Hast du das gar nicht gewusst?", fragte Ron verdutzt, als er ihre Reaktion bemerkte.
"Nein, ich hatte keine Ahnung", sagte sie an Ron gewandt, bevor sie ihren Blick wieder auf Ginny richtete und ein ehrliches Lächeln auf ihren Zügen erschien. "Ginny, das ist großartig, ich freue mich sehr für dich." Ginny hingegen wirkte nun verlegen. "Entschuldige, dass ich es dir nicht gesagt habe. Die Einladung kam, als.. Nun ja.."
"Als ich noch apathisch an die Wand gestarrt habe", vervollständigte Hermine ihren Satz, "Ist schon in Ordnung. Aber du hättest es mir dennoch sagen können. Egal wie es mir geht, ich werde mich immer über deine Erfolge mit dir freuen." Sie griff über den Tisch nach Ginnys Hand und drückte sie leicht.
"Ich wollte nur einfach deine Gefühle etwas schonen", erklärte Ginny, "Du warst mit deiner Trauer schon so überladen. Und ich weiß, dass du dich für mich freust. Aber noch weiß ich nicht, ob ich annehme."
"Ron, wir müssen los!", erinnerte Harry und nahm den letzten Schluck Tee aus seiner Tasse, "Du kannst ja später nachkommen, wenn es sich ergibt", schlug Harry Hermine vor und kam damit auf das vorige Thema zurück. "Ich bin jedenfalls froh, dass du nach vorn siehst."
Hermine fühlte einen Stich im Herzen. Es tat ihr weh, dass sie ihren Freunden solche Sorgen bereitete, zumal sie nicht einmal den Grund kannten. Aber Ginny musste ganze Arbeit geleistet haben, sie dazu zu bringen, nicht einmal mehr danach zu fragen. Denn seit dem Tag, als sie neben Ginny aufgewacht war, hatten sie darüber kein Wort mehr verloren, auch wenn das Thema immer unsichtbar im Raum gestanden hatte, wenn sie sie ansahen.
"Ja, wenn es passt, dann werde ich nachkommen", stimmte sie zu und wusste schon jetzt, dass sie es nicht tun würde. Wenn sie erst in Hogwarts war, würde es ihr sicher nur noch schlechter gehen, aber sie konnte auch nicht wegbleiben - das war ihr Tag, der Tag, an dem sich vor zwei Jahren alles verändert hatte.

Kaum hatten Harry, der Ginny noch einen kurzen aber liebevollen Kuss auf die Lippen gehaucht hatte und Ron die Küche verlassen, sah Hermine Ginny entschuldigend an. "Es tut mir leid, dass du das Gefühl hattest, du könntest es mir nicht sagen. Und ich freue mich wirklich unglaublich für dich."
"Schon okay", beruhigte Ginny sie und griff nach ihrer Hand, "Ich glaube, hätte ich Harry damals verloren, würde es mir jetzt auch nicht besser gehen. Ich weiß, dass du dich für mich freust, ich wollte nur nicht, dass du dich verurteilst, wenn in der Trauer kein Platz für echte Freude gewesen wäre." Hermine nickte. Offenbar konnte sie den Schmerz doch noch nicht so gut verbergen, wie sie dachte. Jedenfalls nicht vor Ginny, die sie besser kannte, als irgendjemand sonst. Ohne es zu merken, glitt ihre Hand zum Ausschnitt ihres Shirts und sie strich leicht über den Stoff, unter dem sie das Medaillon und den Ring fühlen konnte. Sie hatte beides nicht ein einziges Mal abgenommen, seit der Nacht, die sie auf dem Fußboden in Severus' alten Räumen verbracht hatte. "Wie geht es dir wirklich?", fragte Ginny nun mitfühlend, ihr war der leere Blick nicht entgangen und sie sah ihn leider immer noch viel zu oft an Hermine.
"Ich weiß es nicht", antwortete sie ehrlich, "Ich fühle mich noch immer so leer, als würde ein Teil von mir fehlen."
"Ich habe dich letzte Nacht wieder schreien hören", gestand Ginny ihrer Freundin, "Das ist lange nicht mehr geschehen."
"Das liegt sicher am Datum. Ich träume nicht mehr oft von dieser Nacht. Aber häufig von allem, was ich verloren habe und es fühlt sich an.. Ich weiß auch nicht, als hätte man mir nicht nur ihn, sondern mit ihm auch ein ganzes Leben genommen." Ein trauriger Ausdruck, gepaart mit einem bedauernden Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht und sie schüttelte den Kopf. "Ich weiß einfach nicht, wie ich es akzeptieren soll, wie ich jemals damit leben soll."
"Ich kann es immer noch nicht glauben, dass er das für dich war", gab Ginny zu, "Versteh mich nicht falsch, du kanntest ihn immerhin besser als ich, aber.. Warum er?", fragte Ginny sie. Für einen Moment wusste Hermine nicht, was sie darauf antworten sollte. Es gab so viele Gründe, warum sie ihn liebte. "Ich meine, ich verstehe schon, dass beispielsweise in Büchern der dunkle missverstandene Prinz interessanter sein kann als der Ritter in strahlender Rüstung, aber für das wahre Leben..", führte Ginny schulterzuckend aus, als Hermine noch immer schwieg.
"Woher willst du das wissen?", stellte Hermine eine Gegenfrage und meinte das nicht angriffslustig oder böse. "Wie du schon sagtest, du kennst ihn nicht - nicht wirklich."
"Aber ich kenne genug von ihm, um mich zu wundern. Ja, er hat zuletzt viel Gutes getan, aber seine früheren Entscheidungen, seine Art und seine Stellung.. Du verstehst sicher, dass ich überrascht bin." Ginny wollte sie nicht zu sehr drängen, aber das war etwas, was sie seit Monaten beschäftigte. Trotz dieses Unverständnisses hatte es für sie nicht zur Debatte gestanden, Hermine in ihrer Trauer beizustehen und sie verstand, wie sehr sie litt, aber warum sie ihn geliebt hatte, das hatte sie nicht verstanden.
"Er hat einige Dinge in seinem Leben getan, die moralisch grau waren, das stimmt, aber ich werfe ihm nichts davon vor. Ich bin auch nicht auf alles stolz, was ich in meinem Leben getan habe. Wichtig ist nur, wie er zuletzt und mir gegenüber war."
"Bis zu einem gewissen Grad stimme ich dir zu, aber zu lügen oder zu foltern und zu töten sind zwei grundlegend verschiedene Dinge", hielt Ginny dagegen, "Und dann noch wie er dich früher manchmal runtergemacht hat."
"Dennoch steht es mir frei, ihm auch das nicht mehr nachzutragen. Stell dir vor, du wärst lange von etwas überzeugt gewesen und dann plötzlich eines Tages geschieht etwas, was diese Überzeugung zunichte macht. Du würdest plötzlich erkennen, was du getan hast, was würdest du dann wollen? Dass man dich für den Irrglauben verurteilt oder honoriert, dass man danach alles getan hat, um dieses Übel, dem man aufgesessen ist, zu bekämpfen? Wir alle können von der falschen Seite verführt werden, ohne es überhaupt zu merken oder zu wollen. Wir alle sind in der passenden Verfassung nicht dagegen immun."
"Dass er damals den Fehler gemacht hat, den falschen Leuten zu vertrauen, möchte ich ihm auch gar nicht nachtragen.. Aber es hinterlässt trotzdem einen Nachgeschmack", erklärte Ginny.
"Ich verstehe was du meinst, ich habe auch so gedacht, bevor ich ihn wirklich kennengelernt habe. Danach hat nichts davon mehr eine Rolle gespielt. Gefühle lassen sich von sowas nicht beeinflussen. Wenn ich bei ihm war, dann war er freundlich und großmütig und.. er tat mir einfach gut." Es war noch so viel mehr gewesen, aber Hermine wusste nicht, wie sie es jemals in Worte fassen sollte, was er für sie war und welche Gefühle er in ihr hervorgerufen hatte, wenn er bei ihr war.
Darauf wusste Ginny keine Antwort mehr, jedenfalls keine, die Hermine von etwas Anderem überzeugt hätte. Und vielleicht, so überlegte sie, hatte Hermine auch recht. Snape war so viel mehr gewesen, als er ihnen allen gezeigt hatte. Die Erinnerungen, die er Harry überlassen hatte, hatten das immerhin schon bewiesen. Da war sicher noch mehr, von dem sie nichts wusste. Zudem war er fort und es würde es für Hermine nicht leichter machen, wenn sie nun anders über ihn denken würde, denn ihre Gefühle würden sich nicht ändern, höchstens würde sie sich nur zusätzlich für sie schämen. Im Nachhinein war es also müßig, das noch zu diskutieren. Egal ob es nun dabei half, dass sie die Gefühle ihrer besten Freundin besser verstand. Es wäre etwas Anderes, hätte er überlebt, aber so wollte sie das Bild, das Hermine von ihm hatte, auch nicht zerstören.
"Dann war er eben ein dunkler Prinz", räumte Hermine ein und lächelte wehmütig, "Aber er war mein dunkler Prinz." Mit einem Herzen aus purem Gold, der für uns alle bereit war, in den Tod zu gehen, fügte sie in Gedanken an. Wir alle haben Dunkelheit und Dämonen in uns und an manchen Tagen gewinnen sie.

*

Die Vögel sangen und die Sonne fühlte sich noch warm auf ihrer Haut an. Es war friedlich und kaum ein Lüftchen wehte über die grünen Wiesen, als Hermine die Schutzbanne um Hogwarts durchschritt. Das vor ihr aufragende Schloss wirkte so majestätisch und brachte so viele Erinnerungen und Gefühle zurück, dass es ihr fast die Tränen in die Augen trieb. Für sechs Jahre war das hier ihr zweites Zuhause gewesen. Hier hatte sie so viel gelernt, nicht nur an Fähigkeiten, sondern auch über sich selbst, hier hatte sie die besten Freunde gefunden, die man nur haben konnte - eine zweite Familie. Und sie hatte die Liebe gefunden und sie wieder verloren. Sie hatte Freunde sterben und siegen sehen. Hätte sie es nicht noch vor Augen, würde sie nicht glauben, dass diese Wiese noch vor wenigen Monaten ein Schlachtfeld war, besprenkelt mit Blut und übersät von Freunden und Feinden, die ihr Leben lassen mussten, damit das Gute triumphieren konnte. Sie hätte gerne behauptet, dass es das wert war und wenn man sie fragen würde, hätte auch sie ihr Leben für den Sieg gegeben, sie alle waren nicht umsonst gestorben, aber es kam ihr dennoch so falsch vor. Aber sie lebten nicht in einer durch und durch guten und perfekten Welt, wo ein solches Blutvergießen niemals stattgefunden hätte. Sie schämte sich dafür, dass sie der Meinung war, es hätte die Falschen getroffen, denn das Leben und der Tod spielten nicht nach Regeln. Es stand ihr nicht zu, darüber zu urteilen, wer das Leben oder den Tod verdient hatte und das war sicherlich auch besser so. Immerhin waren auch trotz allem noch einige der Meinung, Severus hätte den Tod verdient. Sie holte tief Luft, sog die Gefühle und die milde Luft in sich auf, fühlte, wie ihre Lungenflügel sich dehnten und gegen das Gewicht ankämpften, was sie immer darauf fühlte, seit Severus fort war. Als sie die Luft wieder ausstieß, setzte sie sich langsam in Bewegung und hielt auf den schwarzen See zu, wo die letzten beiden Schulleiter von Hogwarts im Schatten einer riesigen Weide ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Schon von weitem konnte sie das Grabmal für Albus Dumbledore sehen. Es war beeindruckend und der weiße Stein reflektierte die Sonne so stark, dass es ihr in den Augen brannte. Dennoch ging sie gemächlich weiter, zwang sich, nicht stehen zu bleiben. Als sie nur noch zwanzig Meter entfernt war, konnte sie auch endlich das zweite Grabmal sehen, das aus dunklem Granit bestand und neben dem von Dumbledore so winzig, bescheiden und unscheinbar wirkte. Aber Severus hätte es auch nicht anders gewollt. Es war schlicht, trug nur seinen Namen und davor lag ein Kranz aus weißen Rosen. Wer sie dort wohl niedergelegt hatte? Sie sah sein Grab heute zum ersten Mal. Zu seiner Beerdigung hatte sie nicht gehen können, sie hatte nicht die Kraft dazu gehabt und wäre sie doch gekommen, hätte sie auch gleich in die Welt hinausschreien können, dass sie ihn geliebt hatte - denn diese Tatsache wäre sie nicht im Stande gewesen zu verschleiern. Severus hätte nicht gewollt, dass sich die Leute das Maul darüber zerrissen, denn sie hätten zwangsläufig die falschen Schlüsse gezogen und das konnte sie seinem Andenken nicht antun. Niemand hätte ihr geglaubt, wenn sie gesagt hätte, dass er seine Machtposition ihr gegenüber nicht ausgenutzt hatte und sie wollte auch nicht, dass ihre Liebe von solchen Menschen diskutiert wurde. Diese Liebe gehörte nur ihnen. Dennoch hätte er verdient gehabt, dass sie da war, als sein Körper der Erde übergeben wurde.
Sie trat vor den dunklen Stein, der ihr bis zur Hüfte reichte und legte sanft und voller Sehnsucht ihre Hand darauf. "Hallo Sev..", flüsterte sie und ihre Stimme brach. "Es tut mir leid, dass ich nicht da war." Dabei war sie vermutlich die einzige gewesen, die ihn wirklich geliebt hatte. Sie sank auf die Knie und presste vor Anstrengung die Lippen zusammen und schluckte schwer. Sie wollte nicht jetzt schon in Tränen ausbrechen. "Du fehlst mir", flüsterte sie dem Stein zu, "Heute vor zwei Jahren.." Ihre Stimme brach erneut und sie musste sich sammeln und erneut ansetzen. "Heute vor zwei Jahren hast du mich zum Nachsitzen verdonnert, weil ich Neville verteidigt und damit deine Autorität untergraben habe. An diesem Tag hat sich alles verändert." Sie dachte zurück an den Abend, als sie in seinem Büro ihre Strafarbeit verfasste und Dumbledore unangekündigt herein platzte. Sie konnte es noch ganz deutlich vor sich sehen, wie schwach er gewirkt hatte und er hatte sie im ersten Moment nicht einmal wahrgenommen, was nur noch deutlicher gezeigt hatte, wie schlecht es ihm ging. An diesem Abend hatte sie von dem Fluch erfahren, der in seiner Hand steckte und sich ausbreiten würde, obwohl Severus sein Bestes gegeben hatte, um ihn einzuschließen. Auch wusste sie noch, wie besorgt sie gewesen war und dass sie sich auch kaum hatte abschütteln lassen, bis Dumbledore ihr einige Antworten gegeben und sie hinterher hatte schwören lassen, nichts davon Harry oder ihren anderen Freunden zu sagen. An diesem Abend war der Grundstein für die Arbeit mit Severus gelegt worden, die eine Woche später begann und sie nur wenige Monate später dazu brachte, ihm unwiderruflich ihr Herz zu schenken. Heute fragte sie sich, ob das alles wirklich so zufällig geschehen war oder ob Dumbledore das geplant hatte. Nicht, dass sie oder er sich verliebte, sondern dass diese Zeit sie indirekt auf die Zeit nach seinem Tod vorbereitet hatte, als sie monatelang mit Harry und Ron den Seelenatücken von Voldemort nachjagte. Sie fragte sich, wenn es geplant war, ob Severus es gewusst hatte. Denn ihr gegenüber hatte er nichts dergleichen je erwähnt. Und vielleicht ging es dabei auch darum, ihn abzulenken und zu beruhigen. Wer wusste das schon? Dumbledore hatte sich nie in die Karten schauen lassen und seine Pläne waren häufig viel verworrener, als man es sich in seinen wildesten Träumen vorstellen konnte. Die ganze Zeit über, während alle anderen Dame gespielt hatten, hatte er Schach gespielt und am Ende Recht behalten. Er hatte seine Figuren klug platziert und am Ende den Sieg eingefahren - auch wenn er ihn nicht mehr erlebt hatte. Und so ehrenvoll das auch war, konnte sie ihm nicht verzeihen, dass er Severus geopfert hatte. "Komm zurück zu mir..", wimmerte sie und schloss die Augen, lehnte die Stirn an den kalten Stein und weinte still. Eine warme Brise wehte durch ihr Haar, wie eine sanfte Liebkosung und sie weinte nur noch mehr. Dieser Schmerz würde niemals aufhören. "Komm zurück", schluchzte sie erneut, "Ich liebe dich."

Sie hatte sie nicht kommen hören, daher erschrak sie fast zu Tode, als sich ohne Vorwarnung eine warme Hand auf ihre Schulter legte.

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