Der Hunger

Rick lehnte an die Backsteinmauer und rauchte eine Zigarette, während ich die Hintertür abschloss. Ich hatte ihm bereits dreimal gesagt, dass er nicht auf mich warten brauchte, doch er ließ sich nicht davon abhalten. Ich wollte mich gerade verabschieden und mich zum Gehen wenden, als er sich von der Mauer abstieß. Er schmiss seine Zigarette auf den Boden und drückte die glühende Asche mit seinem Schuh aus.

„Ich bring' dich nach Hause, Cat."

Innerlich stöhnte ich auf. Ich wollte nur noch, so schnell es geht in mein eigenes Bett und versuchen meine Bestie zur Ruhe zu bringen, die seit einigen Stunden wieder meine Haut zu zerreißen drohte. Doch wollte ich meinem Arbeitskollegen auch nicht vor dem Kopf stoßen. Ich wusste, dass er es nur gut meinte, und so nickte ich letztendlich doch.

Schweigend gingen wir durch die angenehm kühle Nachtluft und wichen immer wieder mal einem Betrunkenen aus. Als ich jedoch in eine der dunklen Gassen abbiegen wollte, die mir so oft als Abkürzung dienten, hielt Rick mich zurück.

„Du willst doch nicht wirklich durch diese Gegend. Das ist gefährlich, Cat!"

Ich spürte seine Nervosität. Sein Herz schlug schneller und ich konnte seinen Schweiß riechen. Er war erfüllt von Angst. Ja, es stimmte, diese Gassen führten durch eine der übelsten Gegenden in unserer sonst so schönen Stadt. Doch wovor sollte ich mich fürchten. Ich war hier das Raubtier und nicht die kleinkriminellen Gangster der South-Side. Doch konnte ich ihm das natürlich nicht sagen. Weswegen ich unbeholfen vor mich hin stotterte, während meine Jaguarin ihre Zähne bleckte und Rick anfauchte. Mit einem tiefen Atemzug sammelte ich mich wieder und stimmte ihm dann zu.

„Da hast du wohl recht, aber ich bin diesen Weg schon öfters gelaufen."

Energisch schüttelte der einen Kopf größere Mann eben diesen und zog mich weiter. Ich hätte mich mit Leichtigkeit dagegen währen können, von ihm davon gezogen zu werden, doch hätte ich damit auch meine Fassade aufgegeben.

So fand ich mich stattdessen zehn Minuten später im schwach erleuchteten, aber menschenleeren, wenn man von dem einen Obdachlosen absah, der auf der Parkbank schlief, Griffin-Park wieder. Rick schlenderte locker neben mir her und erklärte mir zum wiederholten Mal, wie gefährlich es als junge und hübsche Frau sei. Seine Schwester wäre bereits einmal überfallen worden und er wollte nicht, dass mir dasselbe passiert. Mit jedem Wort über meine Verletzlichkeit und dass ich mich nicht gegen einen Mann zur Wehr setzen könnte, wurde meine animalische Seite wütender. Sie fauchte ihn an und bleckte die Zähne. Am liebsten hätte sie ihm gezeigt, wie gut sie sich wehren könnte und wie einfach es für sie war, einen Mann zu überwältigen. Bis jetzt schaffte ich es jedoch, sie unter Kontrolle zu behalten. Wieder einmal spielte ich den Zirkusdompteur und ließ meine Peitsche knallen, um ihr zu signalisieren, nicht das Publikum zu attackieren.

Plötzlich verlor ich jedoch all meine Macht über mich selbst, als Rick eine Bemerkung machte, die ihm nicht zustand.

„Ich könnte dich zum Beispiel jetzt einfach in dieses Gebüsch ziehen und meinen Spaß mit dir haben!"

Bevor ich auch nur einen weiteren Atemzug machen konnte, spürte ich die sengende Hitze in mir aufsteigen. Mit einem lauten Knacken zersplitterten meine Knochen. Der Schmerz ließ mich laut aufschreien. Rick war natürlich sofort zur Stelle und wollte mich stützen, als ich mich krümmte. Meine Krallen schoben sich bereits aus meinen Nagelbetten und ehe ich mich versah, schwang ich meinen Arm. Das Reißen seiner Haut schalte durch die stille Nacht und wurde von einem Schrei seinerseits gefolgt. Meine Sicht hatte sich mittlerweile so weit verändert, dass ich auch trotz der schwachen Beleuchtung jeden Tropfen Blut sah, der aus der klaffenden Wunde in seinem Gesicht ran. Bei dem metallischen Geruch stellte sich jedes Haar an meinem Körper auf und wie eine Welle breitete sich das golden gefleckte Fell auf mir aus.

Meine Bestie hatte mittlerweile die komplette Kontrolle übernommen und ich war auf den Beifahrersitz verbannt worden. Mir blieb nichts anderes übrig, als mit anzusehen, wie wir uns auf ihn stürzten und unsere Zähne in seine Kehle gruben. Mit einer schnellen Bewegung wurde seine Kehle herausgerissen und das gluckernde, röchelnde Geräusch schickte eine Welle durch mich. Adrenalin flutete meine Adern und benebelte mein Hirn. Es war wie ein Drogenrausch, dem ich erlag, während ich meinen liebsten Arbeitskollegen zerfleischte. Farben flackerten vor meinen Augen und meine Haut kribbelte. Ich fühlte mich gut, hatte mich nie besser gefühlt.

Träge schlich ich davon. Hinein in die Dunkelheit und ließ mein Opfer zurück. Mit einem eleganten Sprung erklomm ich einen Baum und legte mich auf einen der schweren Äste nieder. Mit meiner rauen Zunge leckte ich mir das Fell sauber und beobachtete den Mond, bis mir die Augen einfach zu fielen. Ich hörte noch mein eigenes Schnurren, bevor ich in eine vollkommene Schwärze eintauchte.

Das schrillende Heulen der Sirenen ließ mich aus meinen tiefen Schlaf erwachen und ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, wo ich mich befand. Ich saß unbekleidet auf dem Ast, den mein anderes Ich gestern Nacht erklommen hatte. In der Ferne sah ich eine Menschentraube und dahinter die aufblitzenden Lichter der Polizeiautos. Langsam dämmerte es mir wieder, was gestern Nacht geschehen war, und die Panik kroch in mir hoch, während meine Raubkatze sich regelrecht in ihrem Hoch wälzte und die Ruhe selbst war. Ich hatte keine Ahnung, wie ich an diesem sonnigen Morgen nackt von diesem Baum kommen sollte, ohne dabei Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Besonders, da ich von oben bis unten mit Blutspritzern bekleckert war. Wahrscheinlich würde ich sofort von der Polizei verfolgt werden. Doch ich konnte auch nicht den ganzen Tag auf diesem Baum verbringen, also sah ich mich weiter um. Der Park war abgesperrt worden, nur die Zeugen und Beamten waren noch hier. Meine einzige Chance schien das kleine bewaldete Stück hinter mir zu sein. Langsam raffte ich mich auf und kletterte von Ast zu Ast, bis zur Rückseite des Baums. Noch einen letzten Blick über die Schulter und dann sprang ich in die Tiefe. Ich landete auf allen vieren, stand sofort wieder auf und rannte los, bis ich nichts mehr sah außer Bäume um mich herum. Erst dann erlaubte ich mir eine kleine Pause, um mich erneut zu sammeln, und dann sah ich es. Wieder einmal hatte jemand den kleinen Wald als Mülldeponie missbraucht, doch dies war nun mein Glück. Aus den blauen Müllsäcken quollen Stofffetzen und als ich den ersten von ihnen aufriss, kamen einige alte Kleidungsstücke zum Vorschein. Sie rochen streng, waren klamm und sahen aus, als hätte eine Großmutter unter Geschmacksverirrung gelitten. Doch es nütze nichts und so zog ich ein Kleid hervor, dass wenigstens keine fiesen Flecken aufwies. Schnell stülpte ich es mir über und machte mich dann wieder auf den Weg.

Ich war mir bewusst, wie ich auf die Menschen auf der Straße wirken musste. Meine Haare waren verfilzt, ich trug ein viel zu großes altes Kleid und meine nackten Füße waren schwarz durch die Erde. Trotzdem ignorierte ich die komischen Blicke, die mir die Passanten zu warfen. Ich wollte, nur so schnell es geht nach Hause, eine heiße Dusche nehmen und irgendwie vergessen, was passiert war. Die Tränen, die sich im Inneren anstauten, schluckte ich immer wieder herunter. In meinem Aufzug wollte ich nicht auch noch anfangen zu weinen, sonst würden sie mich noch in eine Psychiatrie einweisen.

Doch als ich endlich zu Hause war und unter der Dusche stand, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich weinte unerbittlich und rutschte in Zeitlupe an der gekachelten Wand runter. Ich zog die Knie an meine Brust und legte meinen Kopf darauf ab. Das warme Wasser prasselte währenddessen auf mich nieder und wusch die salzigen Rinnsale sofort weg. Was hatte ich nur getan? Wie konnte ich nur so die Kontrolle verlieren? Ich hatte keine Antwort darauf, doch meine Jaguarin säuberte sich genüsslich die Krallen und streckte selbstgefällig ihre Gliedmaßen. Ja, ich hatte sie zu lang ignoriert. Doch ich hatte auch alles versucht, ihr gerecht zu werden. Doch ihren Hunger konnte ich mit menschlichen Liebhabern nicht stillen und so hatte ich selbst die Katastrophe heraufbeschworen. Wie ein Film flackerte der Abend vor meinem inneren Auge auf. Rick, der mich lachend begrüßte und Scherze machte, während wir zusammen arbeiten. Der für mich einen Umweg machte, nur damit ich sicher heimkam. Der jetzt in einem Leichensack lag und wahrscheinlich nicht mehr ohne DNA-Test zu identifizieren war. Bei dem Gedanken wurde mir schlecht und ich sprang auf. Tropfend nass hechtete ich aus der Dusche und kniete mich vor meine Toilette. Trocken würgte ich, doch es kam nichts. Erst als der Gedanke daran kam, dass Teile von Rick in meinem Magen verdaut wurden, krampfte dieser so sehr und entleerte sich in die Schüssel.

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