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Kassel, 03.05.2015
Lieber Paul.
Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Es ist alles noch so schrecklich und ich hätte nie gedacht, dass es dir jemals passiert. Bis zu diesem Zeitpunkt dachte ich, du wärst unsterblich und ich würde dich immer und immer wieder sehen. Unsere Beziehung war nicht die beste, das weiß ich. Wir haben uns oft gestritten und an manchen Tagen hätte ich dir am liebsten eine geklatscht. Trotzdem habe ich dich unglaublich lieb. Ich hatte dich nicht lieb, ich habe dich immernoch lieb. Meinetwegen kannst du tausend Jahre in deinem Grab versauern, es wird sich daran nichts ändern. Als ich deinen Todesgrund erfahren habe, erinnerte ich mich wieder an die Frage, die du mir damals stelltest.
Was ist der Sinn deines Lebens?
Zu diesem Zeitpunkt konnte ich dir keine Antwort auf diese Frage geben, weil ich einfach nie darüber nachgedacht habe. Leben war für mich etwas ganz Normales, Alltägliches. Für mich gab es keinen Sinn, aber jetzt habe ich einen gefunden. Egal, was du dir dabei denken wirst, dies ist mein Sinn und ich bin stolz darauf, dass ich einen habe, im Gegensatz zu vielen. Mein Sinn besteht vielleicht nicht aus viel oder ist komplex. Er ist so simple, dass ich ihn eigentlich viel früher hätte bemerken sollen. Aber ich tat es nicht und das tut mir leid. Ich bin so dumm wie jeder andere auf diesem Planeten auch. Niemand sieht, dass der Sinn so nahe liegt. In der Familie, die immer für dich da ist. Wenn man denkt, niemand würde einen vermissen, dann hast du die Person vergessen, die dich lieben. Auch wenn sie nicht immer für mich da waren, würden sie mich vermissen. Ja, mein Vater schrieb mir, er wolle mich nicht mehr sehen, er liebt mich trotzdem. Meine Mutter hat kaum Zeit für mich und liebt mich. Ich habe diese Liebe nie wirklich gesehen, sie war immer da, lag in der Luft. Ungesehen, unbeachtet. Ich liebe sie auch total, sage es ihnen viel zu selten. Vielleicht sollte es mir nicht mehr peinlich sein sie in der Öffentlichkeit zu umarmen oder zu küssen. Als ich ein Teenager wurde, wurden beide mir peinlich, obwohl sie mir so wichtig sind. Ich kann es kaum glauben und es zerfetzt mein Herz nun. Sie haben alles ausgehalten, mir immer Liebe gezeigt. Sie standen immer hinter mir!
Ich kann gar nicht in Worten ausdrücken, wie sehr ich sie liebe und brauche. Denn ich brauche sie, um zu leben und mein Leben zu überstehen. Ohne sie wäre ich da, wo du jetzt bist- unter der Erde.
Vielleicht sollte ich jetzt zu meinen Eltern gehen, ihnen sagen, dass ich sie liebe, und etwas mit ihnen unternehmen und sei es nur ein Spaziergang. Dann können wir reden, lachen, in alten Zeiten schwelgen und nachdenklich sein. Ich vermisse sie, obwohl ich sie erst letzte Woche Mittwoch gesehen habe, das ist nicht so lange her.
Hoffentlich hast du was gefunden, was du vermissen kannst, wo auch immer du bist.
Alles Liebe aus der Welt der Sterblichen,
Luisa
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