Donnerwetter
Noch bevor Emilia am Morgen die Augen aufgeschlagen hatte, erinnerte sie sich an das Gespräch des gestrigen Abends. Dies genügte, um augenblicklich aufrecht im Bett zu sitzen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht!
War es denn nicht ihr sehnlichster Wunsch gewesen, nach Hause zu gelangen, zurück zu ihrer Familie und ihren Freunden?
Und jetzt hatte sie trotz Herrn Elronds Einwände, Gandalfs waghalsigen Bitte zugestimmt, die Gemeinschaft um Thorin Eichenschild weiterhin zu begleiten. Womöglich war ihr das zweite Glas Wein etwas zu Kopfe gestiegen?
Seitdem sie zum ersten Mal auf die Zwerge getroffen war, waren bereits zwei Monate vergangen, von denen sie nun knapp drei Wochen in Bruchtal verbrachte. Doch bisher hatte niemand eine Lösung gefunden, die es ihr ermöglichte, wieder in ihre Heimat zu gelangen. Und auch die Halskette ihres Bruders, von der sie glaubte Schuld an ihrer Situation zu haben, brachte keine weiteren Hinweise ein. Wenn sie doch nur wüsste, was es mit der seltsamen Inschrift auf sich hätte ...
Mittlerweile hegte sie sogar die Befürchtung, auf ewig in Mittelerde bleiben zu müssen, welche sich mit jedem weiteren vergangenen Tag in Bruchtal in ihr befestigte.
Herr Elrond hatte ihr deshalb versichert, auch wenn sie keine Möglichkeit fänden, sei sie in seinem Hause zu jeder Zeit herzlich willkommen und dürfe dort so lange verweilen, wie es ihr beliebe. Doch auch wenn sie bereits durchaus einige der Elben, wie Nemiriél, die Heilerschülerin oder die Zwillinge Elladan und Elrohir als Freunde bezeichnen konnte und Imladris ein wunderschöner Ort zum Leben war, hatte sie nicht das Gefühl hier herzugehören oder zumindest hier bleiben zu können.
Aber was würde sie erwarten, wenn sie weiter mit den Zwergen reiste?
Die Gemeinschaft war ganz sicher nicht auf Besuch zu Verwandte in die weit entfernten Eisenberge, wie Balin ihr auf einem Spaziergang erzählt hatte, sondern auf irgendeiner Mission. Hatte Bofur nicht vor kurzem erst von Drachen gesprochen? Wofür sollte man den sonst in der Begleitung eines Zauberers sein?
Waren die Zwerge überhaupt bereit, sie mitzunehmen? Verstand sie sich mit dem Großteil der Gruppe doch in den letzten Tagen ganz gut, war Thorin ihr Gegenüber noch immer misstrauisch und hatte einmal sogar versucht, seine Neffen Fíli und Kíli davon abzuhalten, mit der jungen Hexe zu reden.
Sie musste ihr Gewissen beruhigen und noch einmal mit dem Zauberer sprechen!
Beim Frühstück hatte sie Gandalf nicht angetroffen, also vermutete die Hexe ihn in den weitläufigen Kräutergärten, wo sich der Zauberer gerne mal die Beine vertrat. Sie selbst war ebenso sehr von den bunt angelegten Gärten Bruchtals begeistert, weshalb sie nicht selten mit ihrem Kräuterkundebuch aus der Schule zwischen den Beeten umherstreifte und die einzelnen Pflanzen mit den Abbildungen darin verglich. Zudem hatte sie viel Zeit mit Nemiriél verbracht, die bereitwillig ihr Wissen über Heilkräuter mit Emilia teilte. Und auch die Hexe freute sich, wenn sie der Elbin, trotz ihrer mangelnden Heilkenntnisse, etwas über die magischen Pflanzen beibringen konnte, die in Bruchtals Gärten teilweise eben so zahlreich wuchsen, wie in ihrer Heimat, nur eben von den Elben für andere Zwecke genutzt wurden.
Tatsächlich brauchte Emilia nicht lange zu suchen, da der graue Zauberer ihr geradewegs entgegenkam, seinen großen Stab in der einen und die lange Pfeife in der anderen Hand. »Guten Morgen, Emilia. Seid Ihr hier, um den Seidenmohn zu betrachten, der heute besonders farbenreich zu leuchten scheint?« Auf seinem Gesicht lag ein amüsierter, fast schon unschuldiger Ausdruck, als er auf das Blumenbeet zu seiner Rechten deutete.
»Guten Morgen, ich bin froh Euch schon so früh anzutreffen, Herr Gandalf! Der Mohn ist heute durchaus schön anzusehen, jedoch habe ich unsere Unterhaltung vom Vorabend noch einmal überdacht und es sind noch eine paar dringende Fragen aufgekommen, die Ihr mir hoffentlich beantworten könnt.«
Manchmal glaubte die Hexe, dass der alte Mann oft doch mehr wusste, als er es wirklich zugab oder zeigte, denn er schien nicht sonderlich überrascht von ihrer Ankündigung und bat sie, ein paar Schritte mit ihm zu gehen.
»Nun ... Warum nehmt Ihr diese beschwerliche Reise auf Euch und weshalb ist dafür eine Hexe vonnöten, die sich mit den Gefahren dieser Welt noch nicht einmal auskennt? Wenn Ihr es wichtig findet, dass ich Euch begleite, würde ich schon gerne den Grund dafür erfahren«, setzte Emilia an, woraufhin Gandalf verständnisvoll den Kopf senkte. »Darauf habt Ihr natürlich ein Anrecht, Emilia. Ich kann Euch nicht alles erzählen, das ist Thorins Angelegenheit, aber was ich Euch anvertraue, darüber dürft Ihr vorläufig mit niemandem sprechen ...«
Emilia nickte bestimmt, zum Zeichen, dass sie einverstanden war. Was auch immer dies sein sollte, sie würde es für sich behalten. »Weit im Osten gibt es einen einsamen Berg, den Erebor genannt. Es ist die Heimat eines Zwergenvolkes und zugleich das mächtige Königreich der Nachkommen Durins. Dies war er zumindest, bis zu dem Tag, an dem sein Reichtum einen leibhaftigen Feuerdrachen, namens Smaug, angelockt hatte. Er zerstörte Thal, eine Menschenstadt vor den Toren des Erebor, bevor er in den Berg eindrang. Die Wenigen, die seinem Wüten entkommen konnten, haben an diesem Tag ihre Heimat verloren. Und noch heute hält Smaug den Berg besetzt.«
»Ihr habt aber nicht etwa vor, besagten Smaug, der mutmaßlich immer noch in dieser Zwergenfestung sitzen soll, aus dem Berg zu locken? Mit nur vierzehn Männern? Um was mit ihm zu tun?« Emilia bereute es fast schon nachgefragt zu haben und auch der Zauberer schien sich dabei nicht ganz so wohl zu fühlen. »Es läuft eher darauf hinaus, dass wir in Erfahrung bringen, ob wir überhaupt etwas ausrichten können«, begann er vorsichtig, »und sollte das der Fall sein, werden wir in der Tat Unterstützung benötigen.« Entgeistert blieb die junge Frau stehen. Was bei Merlin's Bart hatte sie sich nur dabei gedacht? In ihrer Heimat brauchte es mehrere speziell ausgebildete Zauberer, um einen Drachen im Zaun zu halten! Was um Himmels willen sollten also eine Handvoll kleiner, magieloser Männer ausrichten, ganz zu schweigen sie selbst?
Gandalf bemühte sich eilig, sie zu beruhigen. »Oh nein, der Drache ist natürlich nicht Euch zugedacht! Eure Aufgabe, wenn Ihr uns denn noch immer helfen wollt, würde darin bestehen, die Zwerge einen großen Teil des Weges zu begleiten, bis ich wieder zu Euch stoße ... nachdem ich mich um ein Problem gekümmert habe, das unerwartet aufgetreten ist.« Der letzte Satz war eher an sich selbst gerichtet, doch Emilia sah ihn durchdringend an, wollte wissen, um was für ein Problem es sich handelte und wofür er sie mit den Zwergen alleine reisen ließ. »Also gut. Nachdem ich einem dringenden Verdacht nachgegangen bin.«
Er holte tief Luft. »Emilia, wisst Ihr, wer Sauron ist?«
Die Hexe nickte bedächtig. Sie hatte in der Bibliothek zwar bedauerlicherweise nichts über ihre Halskette herausfinden können, doch dank der Hilfe Erestors und der Zwillinge wusste sie nun ein wenig mehr über Mittelerde. Und sie musste sagen, dass dieser Geschichtsunterricht bei weitem interessanter war, als bei Professor Binns, der vor seinem Geisterdasein wahrscheinlich eine genauso einschläfernde Wirkung auf die Hogwarts Schüler hatte.
»Man erzählte mir, dass Sauron vor zwei Zeitaltern als mächtigster Diener Morgoths auf den Plan trat. Nachdem dieser endgültig unschädlich gemacht und aus seine Festung Angband geschleift wurde, gelang es seinem Diener, sich abzusetzen und die Elben von Eriador zu überlisten. Sie schmiedeten für ihn die Ringe der Macht, deren Träger – Menschen-, Elben- und Zwergenfürsten – damit unter den Bann des einen, seines eigenen Ringes gerieten. Die Menschen konnten sich dessen Einfluss nicht entziehen und wurden zu den Ringgeistern, die ihrem Herrn unbedingten Gehorsam leisteten. Saurons Reich war das "Schwarze Land", Mordor, von wo aus er mit Heerscharen von Orks die Macht über die ganze Welt zu erlangen trachtete. In der Schlacht um die Belagerung von Barad dur gelang es Isildur, dem Sohn des damaligen Königs von Gondor, den Ring von Saurons Hand zu schneiden. Der Ring soll verloren gegangen sein, aber der Dunkle Herrscher wurde vernichtet.«
Dieser Sauron erinnerte Emilia ein wenig an Lord Voldemort. Er, dessen Namen am besten unausgesprochen blieb, und seine Anhänger, die sogenannten Todesser, kämpften mörderisch mit allen Mitteln der schwarzen Magie für die Reinhaltung der Zaubererrasse und die Ausrottung der für ihn minderwertigen muggelstämmigen Zauberer und Hexen. Viele seiner Gegner, die im Geheimen versucht hatten sein Handwerk zu legen, bezahlten dafür im ersten Zauberer Krieg mit ihrem Leben. Es trieb Emilia jedes Mal einen Kloß in den Hals, wenn sie daran dachte, dass ihr Vater noch leben könnte, hätten sich ihre Eltern nicht so offensichtlich für die Rebellion eingesetzt. Insgeheim war sie aber dennoch stolz auf den Mann, den sie, im Gegensatz zu ihrem Bruder Benedict, leider nie richtig kennengelernt hatte.
Voldemorts Schreckensherrschaft endete schlussendlich bei dem Versuch, Harry Potter zu töten, denn der Zauber prallte überraschender Weise an dem damals kleinen Jungen ab und traf stattdessen den dunklen Lord selbst. Seither hielt jeder in ihrer Heimat an dem Glauben fest, dass er auch wirklich in jener Nacht vernichtet wurde, während der kleine Potter zur Berühmtheit wurde.
Sie stutzte, als Gandalf ihren letzten Satz mit einem leisen Schnauben quittierte und fühlte sich sogleich verunsichert. »So viel ich weiß, wurde er doch vernichtet, oder?«
Der alte Mann schien sich nicht ganz schlüssig, was er antworten sollte. »Es ist bezeugt, dass sein Körper zu Asche und Staub zerfiel.«
»Aber Ihr habt Zweifel?«, tippte die junge Frau als Antwort, woraufhin Gandalf kaum merklich nickte.
»Die Wahrheit ist, dass ich verunsichert bin. Am Rand des östlichen Düsterwaldes liegt seit tausenden Jahren eine Festung, die Dol Guldur genannt wird, der "Hügel der Magie". Dort hausen Orks und ihre Untiere. Sie sollen einem Hexenmeister dienen, einem Nekromanten.«
Ein Schauder überfiel die junge Hexe und sie vermochte kaum ihre Frage zu stellen. »Seht Ihr irgendeine Verbindung zwischen dem Dunklen Herrscher und dem Nekromanten?«
Gandalf schien die junge Frau aufmerksam zu betrachten. Er wusste, dass sie ihre Zusage nicht zurücknehmen würde, war sie nicht nur brillant, sondern auch mutig. »Ich sehe, dass etwas Böses, viel machtvoller als ein menschlicher Hexenmeister es jemals sein könnte, zunehmend an Einfluss gewinnt. Wir wurden auf unserem Weg von einer Orkhorde auf Wargen verfolgt, vermutlich aus Dol Guldur, die mit klarem Ziel auf der Jagd nach unserer Gemeinschaft waren. Der Erebor ...«, fuhr der graue Zauberer fort, »ist eine fast uneinnehmbare Festung in strategisch perfekter Lage, um den gesamten Osten zu beherrschen. Ich befürchte, wir werden nicht die einzigen bleiben, die ein Auge auf den einsamen Berg geworfen haben.«
Emilia atmete tief durch und brauchte einen Moment, um all die Informationen zu verarbeiten. »Das heißt, während Ihr vorübergehend anderweitig dringend beschäftigt seid, wollt Ihr Eure Zwerge und den Hobbit nicht ganz ohne magischen Beistand sich selbst überlassen. Und wenn Eure Nachforschungen nach dem Nekromanten irgendwie schiefgehen sollten«, die junge Frau machte eine bedeutsame Pause, »müssen wir ohne Euch eine Lösung für dieses Drachenproblem finden.«
»Letzteres wird ganz gewiss nicht eintreffen, aber ja, ich bitte Euch, während meiner Abwesenheit ein Auge auf die Zwerge und vor allem auf unseren Hobbit zu haben.«
Emilia fühlte sich innerlich hin- und hergerissen. Einerseits vermisste sie ihre Heimat, ihre Freunde und ihre Familie von ganzem Herzen und begehrte nichts sehnlicher, als einen Weg nach Hause zu finden, aber andererseits war ihr bewusst, dass ihre Situation verzwickter zu sein schien, als zuerst angenommen und so lange sie nicht wusste, wonach sie eigentlich genau zu suchen hatte, würde ihr die Zeit in Bruchtal wahrscheinlich nur mehr Kummer bereiten. Natürlich waren die Zwerge ihr gegenüber anfangs nicht sonderlich wohl gesinnt gewesen und prinzipiell hätte sie auch keinen Grund der Gemeinschaft weiterhin zu folgen, denn auch die Schuld bei Thorin, sie nicht auf der felsigen Ebene zurückgelassen zu haben, war beglichen, als sie seinem Neffen Kíli das Leben gerettet hatte. Die junge Hexe hatte keine Ahnung, was auf sie zukommen mochte, doch ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass es richtig wäre, Gandalfs Bitte nachzugehen, sei es auch nur Bilbos Wegen.
»Also gut. Einverstanden, ich werde Euch begleiten!«
Emilia breitete ihre gesamten Habseligkeiten, die sie besaß, vor sich auf dem Boden des Gästezimmers aus. Neben ihrem Kräuterkunde- und Zaubertränkebuch, ihrer alten Schuluniform, einige auf Pergament geschriebene Notizen über Zauberkunst, ein Fläschchen wasserfeste Tinte plus Gänsefeder und ihrem Zauberstab, lag darüber hinaus nun auch eine wollene Decke sowie ihre Reisekleidung, die aus ihrer Trainingskleidung, einem rotbraunen mantelartigen Umhang und einer wärmeren Tunika für die kalten Tage bestand. Zusammen mit etwas Wechselkleidung waren auch Armstulpen aus fester Wolle beigelegt, die sowohl als Kälteschutz dienten, als auch die schwarze Zeichnung an Emilias Arm vor den neugierigen Augen anderer verbergen sollten, da diese ebenfalls ein Mysterium war, das die Elben nicht zu erklären vermochten und ihr womöglich Misstrauen sowie unangenehme Fragen und Probleme bescheren könnten. Außerdem hatte die junge Hexe festgestellt, dass die engen Stulpen zudem eine gute und sichere Halterung für ihren Zauberstab abgaben, um ihn schnell griffbereit zu haben, ohne wertvolle Zeit zu verschenken. Während sie darüber nachdachte, fiel ihr Blick auf die lederne Scheide, aus der der filigran verzierte Griff eines Dolches herausragte, der dieselbe Größe wie Emilias Unterarm besaß und ein Abschiedsgeschenk Elladans war. »Es ist Brauch, dass der Lehrmeister seinem Schüler die erste Waffe überreicht. Ich ließ sie in den Schmieden für dich fertigen. Möge sie dir in der Not stets treu ergeben sein.«
Die Hexe konnte sich nicht vorstellen, diese Klinge je tatsächlich zu gebrauchen, war der Umgang mit ihr doch noch immer unsicher und die Zeit, die sie für das Training hatte, viel zu kurz. Doch Fíli, der zusammen mit seinem Bruder immer öfter dem Unterricht der jungen Frau und des Hobbits beigewohnt hatte, mit der Begründung, sie würden nur sicher gehen wollen, dass die Elben ihnen auch tatsächlich das Kämpfen und nicht das Tanzen beibringen würden, hatte ihr versprochen, weiterhin mit ihr zu üben, sofern sie die Zwerge begleitete. Zumindest versprach ihr das einen kleinen Trost, auch wenn sie nicht wusste, wie es war, gegen einen Zwerg zu kämpfen.
Der Tag des Mittsommers war noch nicht ganz angebrochen und seichte Nebelschwaden lagen über dem Tal der Elben, als die junge Frau ein letztes Mal ihrem Zimmer in Imladris den Rücken kehrte und sich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt machte, von wo aus sie mit Gandalf und der Gemeinschaft in Richtung der Nebelberge aufbrechen würden.
Emilia konnte es noch immer nicht ganz glauben, dass Thorin tatsächlich eingewilligt hatte, sie weiterhin mitzunehmen. Mit großer Wahrscheinlichkeit waren die anderen Zwerge nicht gerade unbeteiligt daran gewesen, seit Gandalf einigen von ihnen sein Vorhaben bezüglich Emilia und die daraus resultierenden Vorteile darlegt. – Die Tatsache, dass er plante, die Gemeinschaft für eine ungewisse Zeit zu verlassen und er die junge Hexe nur deshalb in dieser Unternehmung dabei haben wollte, schien er für sich behalten zu haben. Umso überraschter war sie, als der Zwergenprinz seine Unterhaltung mit Balin für einen kurzen Augenblick unterbrach und sie mit einem knappen Nicken begrüßte, während sein Gegenüber ihr ein freundliches Lächeln schenkte. Und auch die anderen Zwerge nickten, lächelten und riefen ihr Begrüßungen zu. Höflich erwiderte sie die Gesten und trat mit ziemlich erleichtertem Herzen über den steinernen Platz zu Gandalf, der einige Worte mit Herrn Elrond zu wechseln schien. Neben dem Fürsten von Bruchtal konnte Emilia noch einige andere Elben wie Lindir und Erestor ausmachen, aber auch Elladan und Elrohir hatten sich zu ihrem Vater gesellt und neigten beide erfreut den Kopf, als sie die junge Hexe erblickten. Zu aller Überraschung befand sich auch Estel unter den Elben, der zu dieser frühen Stunde zwar etwas verschlafen aussah, jedoch strahlend auf sie zu lief, als er Emilia erblickte. Sie zog den Jungen sogleich in eine Umarmung und war sehr froh darüber, ihn noch einmal zu sehen, bevor sie aufbrechen würden. »Schau, Emilia! Ich habe ein Geschenk für dich, damit du mich nicht vergisst.« Fröhlich überreichte er ihr einen Gegenstand, eingewickelt in ein Stück Stoff und trat ungeduldig von einem Bein auf das andere, darauf wartend, dass Emilia es so schnell wie möglich auspackte.
»Aber ich werde dich doch nicht einfach vergessen, Estel!« Schmunzelnd schlug sie die Stoffecken zur Seite und nahm behutsam die kleine, daumengroße Holzfigur entgegen, die sich darin verborgen hatte und große Ähnlichkeiten zu einem Fuchs aufwies. »Sie ist wirklich wunderschön geworden, vielen lieben Dank!«
»Sie soll dir Glück bringen! Versprichst du mir, dass du wieder kommen wirst, um uns hier zu besuchen?« Emilia wollte gar nicht daran denken, dass ihr auf dieser Reise etwas Schlimmes widerfahren könnte, dass sie eventuell sogar sterben könnte. Doch konnte sie es ihm wirklich versprechen? »Mit diesem wunderbaren Glücksbringer kann mir überhaupt nichts geschehen«, meinte sie deshalb nur lächelnd und schob die düsteren Gedanken sogleich zur Seite.
»Sei vorsichtig Emilia!«
Nemiriél war an Estels Seite getreten und sogleich fand sich Emilia, völlig entgegen der Etikette der Elben, in den Armen ihrer Freundin wieder. Der angenehme Duft nach Flieder und Kräuter, der die Heilerin immerzu umspielte, war nun viel präsenter und Emilia kostete es große Kraft, nicht hier und jetzt in Tränen auszubrechen. Diejenige zurückzulassen, die ihr hier in Mittelerde zum ersten Mal das Gefühl von so etwas wie Heimat vermittelt hatte.
Vielleicht war es die Ungeduld ihrer Mutter oder der ungebrochene Tatendrang ihres Vaters, der da aus ihr sprach, doch sie wusste, sie konnte hier nicht warten und Däumchen drehen, darauf hoffend irgendwann eine Lösung für einen Weg in ihr altes Leben zurückzufinden. Das würde sie nur wahnsinnig machen.
Nemiriél löste sich aus der Umarmung, ließ ihre zierlichen Hände aber auf den Oberarmen der jungen Hexe ruhen. Auch wenn sie lächelte, spiegelte Besorgnis in den Augen der Elbin wider. »Versprich mir, dass du gut auf dich und deinen Geist acht geben wirst!«
»Versprochen«, entgegnete Emilia nickend, war dann aber bemüht, die Lautstärke ihrer Stimme um ein erhebliches zu senken, da Elben ein ausgezeichnetes Gehör besaßen. »Aber nur wenn du mir im Gegenzug versprichst, endlich einmal über deinen Schatten zu springen und mit Elladan zu sprechen« Ein verschwörerisches Lächeln umspielte nun Emilias Lippen und sie glaubte zu sehen, wie Nemiriéls Wangen leicht erröteten.
Nachdem ihr die Elbin noch ein Säckchen mit den Kräutern für den Beruhigungstee in die Hand gedrückt hatte und die Zwillinge sich ebenfalls noch einmal persönlich, ganz nach elbischer Manier, verabschiedet hatten, fand auch Nori als letzter Zwerg seinen Weg zum Vorplatz und die Gruppe brach bald darauf unter den vielen guten Wünschen der Elben auf.
Das "Berio le i Melain", was so viel wie 'Mögen die Valar Euch beschützen' bedeutete und von Herrn Elrond selbst an die Gemeinschaft gerichtet war, hallte noch lange, nachdem sie den bewohnten Teil des Tals hinter sich gelassen hatten, in Emilias Kopf nach. Sie war nicht sonderlich gläubig, aber sie hoffte inständig, dass diese Götter von Mittelerde es gut mit Thorin und den anderen meinten, wenn die junge Frau daran dachte, wie lange sie laut Gandalf unterwegs sein würden und auf welche Gefahren sie dabei stoßen könnten, bevor sie dann diesem Drachen begegneten.
Sie kamen gut voran, was vor allem daran lag, dass Emilia die Taschen der Reisegruppe am Tag vor dem Aufbruch durch einen Zauber leichter werden ließ, und erreichten ohne Zwischenfälle die Ebene, in deren Osten sich das Nebelgebirge erstreckte. Der Ausblick von dort auf die von Schnee bedeckte Bergkette war atemberaubend und ließ nicht nur Emilia für einen Moment innehalten. Dennoch entschied sich Thorin am Mittag gegen eine kleine Pause, da er eine möglichst große Entfernung zwischen ihnen und Bruchtal bringen wollte. So majestätisch das Nebelgebirge von weitem auch aussah, es wimmelte von Gefahren und dessen Überquerung hatte schon so manchen Reisenden das Leben gekostet. Von den Elben als Cirith Forn en Andrath bezeichnet, galt der lange Weg durch den Hochpass östlich von Bruchtal zwar als sicher vor Orks, doch Thorin wollte keine unnötige Zeit dort verschwenden. Erst am frühen Abend gab er den erschöpften Gesichtern der weniger ausdauernden Mitgliedern der Gruppe nach und erwählte eine größere Steinformation zu ihrem Lager für die Nacht. Emilia, die durch ihr besseres Schuhwerk zwar nun von Blasen verschont blieb, aber durch die vielen und langen Ritte keine Ahnung hatte, wie anstrengend lange Fußmärsche waren, ließ sich müde auf einen Stein fallen. Doch kaum als die Zwerge ein Feuer entzündeten, nachdem sie die Gegend ein wenig in Augenschein genommen hatten, traten Fíli und Kíli vor die junge Frau und forderten sie auf, zusammen mit ihnen und Bilbo bis zum Abendessen zu trainieren. Ihre Begeisterung dafür hielt sich sehr in Grenzen und Emilia wollte bereits ablehnen, doch als sie die neugierigen und belustigten Blicke der anderen Zwerge auf sich spürte, blieb ihr nichts anderes übrig als zuzustimmen. Sie wollte nicht als Feige gelten und irgendwie hatte sie das Bedürfnis den Zwergen zu beweisen, dass sie bei den Elben durchaus etwas gelernt hatte.
Doch wie zu erwarten, lief das Training nicht sonderlich gut und Bilbo und Emilia quälten sich von der Etappe erschöpft mehr durch die Übungen der beiden Jungzwerge, um den anderen keine Zielscheibe für Spott zu bieten. Der kleine Kampf zwischen den vier kam zu einem schnellen Ende, als Bilbo stolperte und seinen Dolch verlor, woraufhin Kíli im Begriff war, sich mit seinem Dolch auf den Hobbit zu stürzen. Emilia, die Fíli mit einem gezielten Tritt gegen das Knie zurückdrängen konnte, zog in Windeseile ihren Zauberstab und donnerte Kíli ein Expelliarmus entgegen, wodurch ihm seine Waffe aus der Hand gefegt wurde. Triumphierend blickte sie zu dem verdutzten Zwerg, der damit absolut nicht gerechnet hatte, wurde aber im nächsten Moment selbst schmerzhaft von den Füßen gerissen und spürte einen Augenblick später kalten Stahl an ihrer Kehle. »Tot!«, kam es grinsend von Fíli, der halb auf ihr saß. »Es ehrt dich, dass du Bilbo zur Hilfe gekommen bist, aber verliere wirklich niemals deine eigenen Gegner aus den Augen!«
Grummelnd und unter dem Gelächter der Zwerge ließ sich Emilia von Fíli aufhelfen, nur um ihren Dolch zurück in die lederne Scheide und den Zauberstab in die Armstulpe zu stecken und sich neben Bilbo fallen zu lassen, der sich einen Platz etwas abseits des Lagers gesucht hatte. Der Halbling fühlte sich schlecht, weil seine Unachtsamkeit in einem echten Kampf, seiner Freundin das Leben gekostet hätte. Es belastete ihn, dass er der Gruppe so ein Klotz am Bein war und die Zwerge ihn so nie akzeptieren würden. Die junge Hexe wollte ihn aufmuntern, doch er schüttelte nur den Kopf und meinte, er würde gerne für eine Weile allein sein wollen. Nur widerwillig ging sie der Bitte des Hobbits nach und setzte sich zu den anderen, wo auch Gandalf saß und gemütlich seine Pfeife rauchte.
Die Tage vergingen und Emilia war sich bald nicht mehr sicher, wie lange sie nun schon dem beständig aufwärts führenden Pfad folgten, der immer beschwerlicher und gefährlicher wurde, jedoch kein Ende zu nehmen schien. Die Stimmung war gedrückt, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und nur selten hörte man ein Lachen zwischen den leisen Gesprächen. Je höher sie kamen, umso kälter wurde es, was auch den Zwergen zu schaffen machte. Sie würden es zwar niemals zugeben, dass sie die Kälte genauso wenig vertrugen wie andere Völker Mittelerdes, doch da sie die Hitze von Schmiedeöfen und schweißtreibender Arbeit gewohnt waren, war dies eigentlich kaum verwunderlich. Zu der Kälte gesellte sich auch irgendwann Regen und Emilia war froh über die wärmere Tunika, die sie in ihrem Gepäck mitführte. Sie konnte gar nicht mehr mitzählen, wie oft sie bereits den Trockenhaltzauber über jedes einzelne Mitglied der Gemeinschaft gesprochen hatte, weil mit jeder weiteren Stunde Regen, der Zauber schwächer wurde und deshalb öfters erneuert werden musste. Das ganze ging einige Tage gut, zwischenzeitlich ließ sich auch mal die Sonne blicken und erlaubte Emilia eine Verschnaufpause. Doch eines Abends geriet die Gruppe in ein furchtbares Gewitter. Blitze zersplitterten auf den Gipfeln und Felsen erzitterten. Lautes Getöse zerriss die Luft und drang grollend und stöhnend in jedes Loch und jede Spalte. Die Dunkelheit war erfüllt von überwältigenden und plötzlichen Lichtflammen. Der Regen prasselte erbarmungslos auf die Gemeinschaft nieder, alle waren bis auf die Knochen durchnässt. Balin hatte Emilia dazu angehalten, es aufzugeben, es würde sie nur unnötige Kraft kosten, den Zauber aufrechtzuerhalten. Mittlerweile waren sie so hoch oben in den Bergen, dass die Wege nur noch schmalen Pfaden glichen, mit einem schrecklichen Steilabfall zu ihrer Linken, tief hinab in ein finsteres Tal. Hätte Emilia Höhenangst, sie wäre kein Schritt mehr weitergegangen. Zumindest wusste sie so, wie sich Bilbo gerade zu fühlen schien, der von Dori und von Bifur ermutigt werden musste, weiterzugehen. Irgendwann merkte auch Thorin, dass dieses Unwetter einfach zu gefährlich war, weshalb sie für die Nacht Schutz unter einem überhängenden Felsen suchten. Dennoch dachte keiner an Schlaf und während Thorin, Balin und Gandalf über den Lärm hinweg miteinander diskutierten, saßen der Rest der Zwerge sowie Bilbo und Emilia zitternd an die Felswand gelehnt und starrten ungläubig zu den, während den Blitzen erleuchteten Steinriesen jenseits des Tales, die sich einfach aus dem Berg zu lösen schienen, so als wären sie ein Teil davon, und sich gegenseitig Felsbrocken zu schleuderten. Neben diesen Wesen waren die Riesen in Emilias Heimat klein und Hagrid, als Halbriese war winzig im Vergleich zu ihnen. Die Felsen, die keinen der Steinriesen trafen, zerschmetterten Bäume oder zersprangen an den Bergen in tausende Stücke. »Wir sind hier nicht sicher!«, rief Nori über den rauschenden Wind hinweg, der den peitschenden Regen und Hagel in jede Richtung wehte, wodurch auch der Felsüberhang bald kein Schutz mehr versprach. »Wenn wir nicht vom Blitz erschlagen, vom Wind weg geweht oder in diesem Sturzbach ersaufen, dann finden uns diese Steinriesen und werfen uns wie Bälle in den Himmel, sollten uns davor nicht schon die Felsbrocken zermatscht haben!«
Auch wenn Emilia aus unerklärlichen Gründen eine Antipathie gegen den zwielichtigen Zwerg hegte, gab sie ihm recht. Wie lange würde das hier noch gut gehen?
»Wir haben eine trockene Höhle gefunden!« Der Kopf der jungen Frau schnellte zu Bofur und Glóin, die sich vor dem Sturm am Felsen festklammerten. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass die beiden sich von der Gruppe getrennt hatten. »Direkt hinter der nächsten Felsnase. Und sie ist groß genug, um für alle darin Platz zu finden!«
Sogleich kam Bewegung in die Gemeinschaft, denn der Gedanke diesem Unwetter zu entfliehen, erweckte in allen neue Kraft und so kämpften sie sich noch einmal dem Wind entgegen, dicht an die Bergwand gedrückt, um nicht den Halt zu verlieren, bis vor an den herausragenden Felsen, hinter dem die rettende Zuflucht sein sollte. Und tatsächlich befand sich hinter dem großen Gestein, der in den Pfad hineinragte, ein niedriger Eingang in die Bergwand. Er war gerade breit genug, dass Bombur, der von allen Zwergen am beleibtesten war, sich ohne sein Gepäck hindurchquetschen konnte.
Im Inneren der Höhle war es angenehm und es fühlte sich gut an, dem kalten Regen entkommen zu sein. Zudem würde der schmale Höhleneingang ein guter Schutz gegen die umherfliegenden Gesteinsbrocken abgeben, dachte sich Emilia und beobachtete Gandalf, der die Spitze seines langen Stabes aufleuchten ließ, um damit die Höhle von einem Ende zum anderen abzugehen. Sie war nicht zu groß, besaß einen trockenen Boden und bot gemütlich aussehende kleine Nischen.
»Emilia, könntet Ihr eines Eurer magischen Feuer entzünden?«, hackte Óin nach, der die Vorteile ihrer Magie und die Tatsache, dass sie Feuer in einem geschlossenen Raum heraufbeschwören konnte, ohne dass dieses die Gemeinschaft am lebendigen Leib ausräucherte, mittlerweile zu schätzen wusste. »Nein, kein Feuer! Nicht heute. Versucht zu schlafen, bei Tagesanbruch werden wir unseren Weg fortsetzen«, griff Thorin ein und hielt die Hexe davon ab, Óins Bitte nachzugehen. So mussten die Mitglieder der Gemeinschaft mit einem einfachen Trockenzauber vorliebnehmen, wozu aber selbst diejenigen, die nicht allzu viel von Emilias Fähigkeiten hielten, nicht Nein sagten. Erschöpft, aber trocken, ließ sich Emilia auf ihr eigenes Lager fallen, welches Bilbo freundlicherweise für sie mit ausgerollt hatte. Mit einem leisen »Danke« kroch sie unter ihre Decke und beobachtete die Zwerge, wie sie vereinzelt ihre Pfeifen hervorholten und Rauchringe in die Luft bliesen, während sie sich darüber unterhielten, was jeder mit seinem Anteil des Schatzes, der ihnen am Ende ihres Abenteuers versprochen wurde, tun würde. Doch die letzten Tage waren so kräftezehrend für Emilia gewesen, dass sie bald daraufhin einschlief.
Keuchend schoss die junge Frau in die Höhe. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie zitterte am ganzen Körper. Seit sie von Bruchtal aufgebrochen waren, hatten die Albträume sie verschont. Jetzt jedoch waren sie wieder so präsent wie eh und je. Aber auch nach diesem Traum verschwammen die Bilder vor ihrem inneren Auge und zurück blieb ein leichtes Ziehen an der Stelle unter ihrer Armstulpe und der Tunika, wo sie das ominöse Mal vermutete. Leise schlug sie die Decke beiseite, bedacht keinen der schlafenden Zwerge aufzuwecken und schlich in Richtung Höhleneingang, durch welchen sanftes Mondlicht schien. Dabei wäre sie fast über den schnarchenden Dwalin gestolpert, der sitzend an die Höhlenwand in sich zusammen gesunken war. Thorin würde wütend werden, wenn er mitbekam, dass die eingeteilte Wache für die Nacht eingeschlafen war. Doch Emilia konnte es Dwalin nicht verübeln, da der Sturm für ihn genauso kräftezehrend gewesen sein musste, wie für sie alle auch. Also entschied sie sich dagegen, den stämmigen Zwerg aus seinem Schlaf zu reißen, schließlich war sie nun hellwach und würde die Nachtwache genauso gut übernehmen können.
Da sie von draußen nur noch das leise Tröpfeln von leichtem Regen vernahm, musste sich das Unwetter wohl verzogen haben und so beschloss Emilia, sich in den Eingang der Höhle zu setzen, von wo aus sie in die nächtliche Berglandschaft blicken konnte, die sich, in Mondlicht getaucht, geradezu friedlich vor ihr erstreckte.
Auch wenn der Schein, wie sie jetzt am eigenen Leib erfahren hatte, trügte, so spürte sie, wie sie innerlich zur Ruhe kam. Die Tatsache, dass sie sich den Elben Zwillingen und Bilbo anvertraut hatte, entlastete ihr Herz. Sie musste die belastenden, bilderlosen Albträume nicht mehr für sich behalten.
Plötzlich riss ein erstickter Ruf Emilia aus den Gedanken und ihr stockte der Atem, als sie erschrocken in das Innere der Höhle blickte ...
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